Sind wir heute Zeugen des Abwrackens abendländischer Aufklärung und der machtvollen Wiederkehr der Religion? Oder haben wir uns endgültig im Technikpark des Konsums eingerichtet, in dem Transzendenz nur noch in Slogans von Esoterikanbietern auftaucht? Wenn es nach Peter Sloterdijk geht, lautet...
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Sind wir heute Zeugen des Abwrackens abendländischer Aufklärung und der machtvollen Wiederkehr der Religion? Oder haben wir uns endgültig im Technikpark des Konsums eingerichtet, in dem Transzendenz nur noch in Slogans von Esoterikanbietern auftaucht? Wenn es nach Peter Sloterdijk geht, lautet die Antwort zwei Mal eindeutig: Nein! In Du musst dein Leben ändern begründet er eindrucksvoll, warum der Gegensatz zwischen Glauben und Unglauben eine Unterscheidung aus der Vergangenheit ist und es heute nur noch eine „einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung“ gibt: die „allgegenwärtig wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann.“ Dies ist die Kurzformel für den „absoluten Imperativ“, der an Anfang und Ende dieses ehrgeizigen philosophischen Projekts steht und ihm zugleich seinen Titel gibt: Du musst dein Leben ändern. Der Befehl, der im Idealfall zugleich Erkenntnis ist, lautet, im eigenen Leben ernst zu machen mit dem Konzept „Menschheit“, ein „Fakir der Koexistenz“ zu werden und so mitzuarbeiten am „Projekt eines globalen Immundesigns“, dessen Ziel nicht mehr und nicht weniger ist als: Leben. Wie alle Propheten weiß auch Sloterdijk, dass die Zeit drängt. Bei der unausweichlichen, weil für jede Erkenntnis notwendigen Begegnung mit der Fratze der Apokalypse sind wir auf „Anthropotechniken“ angewiesen, auf die „mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.“ Und so bekennt sich Sloterdijk nicht nur „zu dem Kontinuum kumulativen Lernens, das wir Aufklärung nennen“, sondern nimmt auch „die zum Teil jahrtausendealten Fäden auf, die uns an frühe Manifestationen menschlichen Übungs- und Beseelungswissens binden“. Sloterdijk ordnet und sichtet das Arsenal der Anthropotechnik: von der indischen Teleologie bis zu Kafka, von den Aposteln bis zu Nietzsche. Das Ideal für die Gegenwart, das sich aus diesem zum Teil atemberaubendem Gang durch Kultur- und Menschheitsgeschichte ergibt, ist „ein Leben in Übungen“, das sich der unausweichlichen Überforderung des Menschen durch Tod und Schicksal erkennend und handelnd stellt. Diese Haltung ist für Sloterdijk die einzige Alternative zur „lähmenden Harmlosigkeit sämtlicher gängigen Diskurse“, die sich zu fragen scheinen, wie man Arbeitsplätze auf der Titanic sichert, anstatt ihrem Untergang entgegenzuwirken. Der Philosoph Sloterdijk geht also zum pragmatisch-prophetischen Angriff über. Auch wenn er sich sprachlich und insbesondere metaphorisch („Schlaflos in Ephesos“) manchmal irgendwo zwischen Nietzsche und Luhmann verirrt, ist ihm unbedingt zu wünschen, dass sein Exerzitium lebensbejahenden Stänkerns erstens Gehör findet und er es zweitens noch weiter verfeinert, um noch dunkler und eindringlicher formulieren zu können, was einzugestehen jeden Tag leichter werden dürfte: die Katastrophe hat bereits begonnen. -- Roland Große Holtforth, Literaturtest
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