Eigentlich ist Karsten Matta, vierzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern, die Ruhe selbst. Ruhig, nicht abgebrüht, obwohl doch die Elendsbilder dieser Welt, die wir nur aus der Tagesschau kennen -- blutige Bürgerkriege, Flüchtlingscamps, Kindersoldaten, brutale Warlords -- auf seiner Netzhaut...
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Eigentlich ist Karsten Matta, vierzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern, die Ruhe selbst. Ruhig, nicht abgebrüht, obwohl doch die Elendsbilder dieser Welt, die wir nur aus der Tagesschau kennen -- blutige Bürgerkriege, Flüchtlingscamps, Kindersoldaten, brutale Warlords -- auf seiner Netzhaut eingebrannt sind: Seit 15 Jahren reist er für eine Consulting-Firma in Krisengebiete und fertigt Dossiers für Anlagefonds, Ölmultis, Regierungen und deren Geheimdienste. Eines Tages aber, im stickigen Warteraum eines Konsulats, kippt etwas in Mattas Kopf und ein mentaler Amoklauf beginnt: Der Versuch, ein Leben zu verlassen, das sich auf allen Ebenen festgefahren hat. Da sind die frustrierenden Erfahrungen als Buchhalter des Elends in der dritten Welt, vor allem aber ist da -- zu Hause in Berlin, Deutschland -- eine dieser von Respekt und Abgeklärtheit gekennzeichneten, ökonomisch bestens abgefederten offenen Beziehungen, die an einen Endpunkt gelangt ist: Das sorgsam ausbalancierte Dreieck zwischen Matta, seiner Geliebten Malin und seiner Ehefrau Rebecca, die sich in der Rolle der "Witwe auf Zeit" gefällt, stürzt in sich zusammen. "Ich komme nicht in dieses Leben zurück", ist Matta entschlossen, doch die Konsequenz, mit der er aus seinem So-Gewordensein flieht, führt in die Katastrophe. Am Ende wütet Matta nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen alle, die ihn lieben. Gregor Hens, für seinen Erstlingsroman Himmelssturz von der Kritik begeistert gefeiert, beweist nach seinem Erzählband Transfer Lounge erneut, dass er zu den besten jüngeren Autoren deutscher Sprache gehört. Auf nur 140 Seiten drängt Hens die letzten 48 Stunden im Leben seines Helden, wobei die Chronologie des laufenden Geschehens immer wieder durchkreuzt, mit Erinnerungsbruchstücken und Traumsequenzen verbunden wird. In einer dichten, heruntergekühlten, doch hoch poetischen Sprache erzählt Hens vom vergeblichen Versuch, Leben neu zu erfinden. Die verstümmelten Leichen der Hutus und Tutsis sind weit, doch Hens' Protagonisten, auf der Suche nach Freiheit und Glück, gebrauchen Worte wie Buschmesser. "Du siehst aus wie ein Lagerkommandant, der gerade eine Vierzehnjährige vergewaltigt hat", sagt Malin nach dem Liebesakt zu Matta. Ein Riss tut sich auf, in dem die friedliche Welt der Reihenhäuser, Zweitwagen und Lebensabschnittspartnerschaften verschwindet. --Niklas Feldtkamp
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