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review 2019-06-11 08:09
Niemand wird böse geboren
Fairest - Marissa Meyer

Als Marissa Meyer begann, die „Lunar Chronicles“ zu schreiben, wusste sie, dass die zentrale Antagonistin ihrer Geschichte auf der bösen Königin aus „Schneewittchen“ basieren würde. Ihre Figur faszinierte sie. Welche Frau würde so großen Wert auf Schönheit legen, dass sie bereit wäre, all diese furchtbaren Dinge zu tun? Was müsste dieser Frau zugestoßen sein, um diese Skrupellosigkeit zu entwickeln? Meyer gab ihrer bösen Königin den Namen Levana. Sie konzipierte ihre Biografie mental parallel zu den Heldinnen ihrer Reihe, stieß mit dieser Taktik jedoch an eine Grenze, als sie den letzten Band „Winter“ schrieb. Einige Szenen bereiteten ihr Schwierigkeiten. All diese Szenen hatten eines gemeinsam: sie drehten sich um Levana. Um ihre Blockade aufzulösen, entschied die Autorin, Levanas Hintergrundgeschichte auszuformulieren. Das Ergebnis ist der Zwischenband „Fairest“, den man laut Meyer nicht zwangsläufig zwischen „Cress“ und „Winter“ lesen muss, der allerdings gewisse Entwicklungen in „Winter“ verständlicher gestaltet. Ich hielt mich an Meyers Empfehlung und las „Fairest“ nach „Cress“.

 

Cinder und ihre Verbündeten kennen Königin Levana als skrupellose, kaltherzige Herrscherin des Reiches Luna. Doch einst war sie ein junges Mädchen voller Hoffnungen und Träume. Am Hofe Lunas war sie unsichtbar. Sie wollte geliebt werden, sehnte sich nach Aufmerksamkeit und Respekt. Sie wurden ihr verwehrt. Ihre Einsamkeit vergiftete ihre Seele, bis sie vor nichts mehr zurückschreckte, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Dies ist ihre Geschichte, eine Geschichte voller Tragik und Leid. Denn niemand wird als böse Königin geboren.

 

Ich bin sehr froh, dass Marissa Meyer „Fairest“ schrieb und veröffentlichte. Meiner Meinung nach ist es der bisher beste Band der „Lunar Chronicles“ und eine wertvolle Ergänzung der Reihe, die mein Verständnis der Ereignisse vertiefte und Königin Levana in ein anderes Licht rückte, weg von der einseitigen Darstellung als ultrafiese Antagonistin. Levanas Biografie ist eine Tragödie voll enttäuschter Liebe und traumatischer Erfahrungen, die mein Mitgefühl weckte und ihre Motivationen nachvollziehbar und einfühlsam enthüllte. Sie ist garantiert kein Unschuldslamm und trifft egoistische und oft schlicht grausame Entscheidungen, aber nicht, weil sie von Geburt an eine schlechte Person wäre, sondern weil sie einsam, zornig und bedauernswert unglücklich ist. Sie wurde emotional verkrüppelt und rutschte langsam in ihren ganz persönlichen Wahnsinn hinab, der sie jede abscheuliche Tat vor sich selbst rechtfertigen lässt. Ich fand es erstaunlich, dass sie angesichts der Schwere der psychischen Verletzungen, die ihr seit frühester Kindheit zugefügt wurden, überhaupt zu einer einigermaßen verträglichen Persönlichkeit heranwuchs. Es hätte noch viel schlimmer kommen können, denn Levana hatte niemals ein positives Vorbild, keinerlei Orientierung, die sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch lehrte. Das ist einerseits ein Versäumnis ihrer dysfunktionalen Familie, andererseits eine Folge der gesellschaftlichen Umstände auf Luna. Meyer bietet mit „Fairest“ nicht nur ein überzeugendes Porträt von Levana, sie gewährt ihren Leser_innen darüber hinaus intime Einblicke in Lunas soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen. Das Königreich des Mondes ist eine klassische, totalitäre Monarchie, die sich klar in eine Elite und das gemeine Volk teilt. Lunas Hof vermittelt eine entschieden barocke Atmosphäre; Protz und Prunk beherrschen das Bild und der Adel vertreibt sich die Zeit mit komplizierten Intrigen. Echtes politisches Interesse ist rar gesät, weshalb ich geschockt war, dass sich Levana tatsächlich als gute Königin entpuppt, die sich aufrichtig um das Wohl Lunas sorgt. Es wäre allerdings ein Fehler, anzunehmen, dass ihre Bemühungen die Nöte ihrer Untergebenen berücksichtigen würden. Levana begreift ihr Reich nicht als Gesamtheit ihres Volkes, sondern als abstrakte Idee und Verlängerung ihres Ichs. Deshalb ist es für sie keineswegs problematisch, Erlasse zu realisieren, die herzlos wirken. Ihre oberste Priorität besteht darin, Luna als Nation voranzubringen und aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Erde zu führen. Aus dieser Perspektive betrachtet und unter Einbeziehung ihrer kulturellen Prägung sind die meisten ihrer politischen Entscheidungen vollkommen logisch und naheliegend. Dennoch hat ihr Plan, die Erde zu kontrollieren, überraschend wenig mit politischem Kalkül zu tun. Nein, darin zeigt sich das verzweifelte kleine Mädchen, das Levana in ihrem Inneren noch immer ist und ihre zunehmende Distanz zur Realität. Ach, was hätte aus ihr werden können, wäre all ihr Potential nicht in Negativität gelenkt worden?

 

Ich glaube, Marissa Meyer und ich haben etwas gemeinsam: wir haben ein Herz für böse Königinnen. Meiner Ansicht nach muss sie Levana trotz ihrer Fehler wahrhaft lieben, sonst hätte sie „Fairest“ nicht schreiben können. In diesem Zwischenband erstellt sie ein glaubhaftes, fundiertes psychologisches Profil, das nachdrücklich Empathie für eine Figur einfordert, die bisher sicherlich keine Sympathieträgerin war. Sie diktiert ihren Leser_innen nicht, wie sie für Levana zu empfinden haben, sie ruft uns lediglich ins Gedächtnis, dass niemand böse geboren wird. Levana ist das Produkt einer Vielzahl verstörender Erlebnisse, die nicht spurlos an ihr vorbeigingen. Ich habe sehr viel über sie gelernt und war fasziniert davon, wie sie sich selbst sieht. Obwohl „Fairest“ streng genommen nicht zur Geschichte der „Lunar Chronicles“ zählt, kann ich euch nur empfehlen, nicht auf die Lektüre zu verzichten. Es ist ein leuchtendes Stück Young Adult – Literatur, ein Buch, das sich nicht nur im Rahmen der Reihe lohnt, sondern auch für sich selbst. Viele Autor_innen können liebenswerte Figuren konzipieren – nur wenige können Figuren erschaffen, die man nicht mögen muss, um sie zu verstehen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/06/11/marissa-meyer-fairest
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review 2019-05-07 15:12
Besser als Slasher
Final Girls - Riley Sager

Bevor ich mit der Rezension des Thrillers „Final Girls“ von Riley Sager beginne, möchte ich euch theoretischen Kontext zum Titel bereitstellen. Das Final Girl ist die einzige Überlebende eines Slasher-Horrorfilms. Normalerweise entspricht sie einem bestimmten Typ: sie ist brünett, klug und introvertiert. Während ihre jugendlichen Freunde über die Stränge schlagen, bleibt sie verantwortungsbewusst und anständig. Ihre moralische Überlegenheit befähigt sie, sich erfolgreich gegen den Killer zu wehren; ihre Freunde hingegen werden für ihre Zügellosigkeit brutal mit dem Tod bestraft. Die Verteilung von Genderrollen spielt in diesem Analyseansatz eine maßgebliche Rolle, ich möchte hier allerdings nicht zu sehr ins Detail gehen. Für diese Rezension müsst ihr lediglich wissen, dass Riley Sager diese Theorie aufgriff und das Final Girl in den Mittelpunkt seines Thrillers stellte.

 

Drei Massaker. Drei Tragödien. Drei Überlebende: Lisa, Samantha und Quincy. Die Presse nennt sie Final Girls. Quincy hasst diesen makabren Spitznamen. Sie hasst die Aufmerksamkeit, die damit verbunden ist. Sie erinnert sich nicht an die schreckliche Nacht in Pine Cottage, die sie beinahe das Leben kostete. Sie möchte sich auch nicht erinnern. Doch als Lisa tot aufgefunden wird und Sam plötzlich vor ihrer Tür steht, muss sich Quincy ihrer traumatischen Vergangenheit stellen. Sie befürchtet, dass irgendjemand beenden will, was vor vielen Jahren für sie alle begann. Antworten wird sie nur in den verschollenen Tiefen ihres Gedächtnisses finden – aber kann sie sich selbst überhaupt trauen? Oder vergaß sie mehr als das Blut, die Schreie und die Leichen ihrer Freunde? Vergaß sie ihre Schuld?

 

Ich habe „Final Girls“ verschlungen. Ich ahnte vor der Lektüre, dass dieser Thriller genau richtig für mich sein würde und ich behielt Recht. Seit meiner Jugend liebe ich Slasher-Filme. Als ich ein Teenager war, gehörten Streifen wie „Scream“ oder „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ zu jeder Übernachtungsparty. Irgendwann stellte ich jedoch fest, dass sich all diese Filme stark ähneln. Die Handlungen sind vorhersehbar und häufig wirklich dumm, Stichphrase „Wir sollten uns aufteilen“. Meine Begeisterung verebbte und flammte erst wieder auf, als ich Jahre später über die Theorie des Final Girls stolperte. Diese Analyse fasziniert mich, weil sie die tiefgründigen Vorgänge in einem Slasher aufschlüsselt und mir eine neue Perspektive auf die Filme meiner Jugend bietet. Riley Sagers Thriller „Final Girls“ geht auf beide Aspekte ein und konnte deshalb nur die ideale Lektüre für mich sein. Im Gegensatz zu den filmischen Vorlagen ist das Buch überhaupt nicht vorhersehbar. Es ist überraschend, unerwartet und vollkommen mind-blowing. Ich fand es unfassbar spannend und habe den Großteil innerhalb einer Nacht weggesuchtet, weil ich nicht aufhören konnte, zu lesen. „Final Girls“ ist keine Adaption der populären Filme, vielmehr zeigt es, wie es den Überlebenden später ergehen könnte und illustriert sowohl die emotionalen, psychischen Traumata als auch die Bewältigungsstrategien der Betroffenen. Sager konzipierte sehr glaubwürdige, realistische Figuren, die nichts mit den stereotypen Charakteren zu tun haben, die ich mit Slasher-Horror assoziiere. Im Fokus steht Quincy, die einzige, die vor Jahren das Pine Cottage Massaker überlebte. Quincy leidet unter dissoziativer Amnesie und erinnert sich lediglich lückenhaft an die furchtbare Nacht, in der ihre engsten Freunde starben. Ihre Leidensgenossinnen sind Lisa und Samantha, die ähnliches durchmachten. Ihre Beziehung zueinander war schwierig, aber als Lisas Leiche entdeckt wird, ist Quincy verständlicherweise erschüttert – und verängstigt. Kurz darauf taucht Sam unangekündigt bei ihr auf, angeblich, um nach ihr zu sehen. Mit Sams Besuch verwandelt sich der Thriller in eine beklemmende, mitreißende Tour de Force, die mich alles in Frage stellen ließ, was ich zu wissen glaubte. Quincys Erinnerungen kommen in verwirrenden, widersprüchlichen Flashbacks zurück, die den Spannungsbogen permanent aufrechterhielten. Ich begann, alles und jede_n zu verdächtigen. Ich beschuldigte Sam, bezichtigte Quincys Lebensgefährten Jeff und bezweifelte Quincys Rolle in den Ereignissen in Pine Cottage. Die Atmosphäre der Ungewissheit beeinflusste nicht nur die Suche nach Lisas Mörder, sondern auch meine Einschätzung der Protagonistin, weil ich mich fragte, ob ihr Tatsachen des Massakers verschwiegen wurden, um sie zu schützen. Riley Sager brachte mich so weit, dass ich Quincy sogar unterstellte, etwas mit den Morden zu tun zu haben. Trotz meiner Bereitschaft, allen Figuren zu misstrauen, lag ich mit meinen Vermutungen, was wirklich geschehen sein könnte, letztendlich meilenweit daneben. Der Autor schockierte und verblüffte mich; er konstruierte ein haarsträubendes Szenario voller ungeheuerlicher Wendungen, das meine kühnsten Theorien mühelos überflügelte. „Final Girls“ ist ein Thriller allererster Güte, denn er bringt das Kopfkino auf Touren und ist dennoch absolut unberechenbar.

 

Als ich die Lektüre von „Final Girls“ beendete, hatte ich das Gefühl, aus einem wilden Rausch aufzutauchen. Ich konnte das Adrenalin in meinen Adern spüren und genoss die Belohnung eines rundum befriedigenden Abschlusses. Ich habe an Riley Sagers Thriller nicht das Geringste auszusetzen und bin begeistert, wie clever er die Final Girl – Analyse in eine aufregende, dramatische Geschichte übertrug, die mir im positiven Sinne eine schlaflose Nacht bescherte. Ich kann kaum glauben, dass es sich um ein Debüt handelt. Ich habe seinen nächsten Roman „Last Time I Lied“ bereits auf meine Wunschliste gesetzt. Einen literarischen Rockstar dieses Kalibers muss ich im Auge behalten und ich kann euch nur empfehlen, euch selbst mit „Final Girls“ von seinem Talent zu überzeugen. Ich verspreche euch, niemand hält es in diesem Buch für eine gute Idee, sich aufzuteilen. ;-)

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/05/07/riley-sager-final-girls
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review 2019-04-25 09:55
Blutiges Wunderland
Alice - Christina Henry

„Alice im Wunderland“ ist eine der Geschichten meines Lebens. Der Klassiker von Lewis Carroll begleitet mich, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich besaß sie als Hörbuch auf Schallplatte und die 1951er Disney-Verfilmung auf Videokassette. Selbstverständlich habe ich auch die modernen Filme mit Johnny Depp gesehen. Mit meinem Tätowierer arbeite ich aktuell an meinem großen Waden-Tattoo, das die Grinsekatze, Herrn Knauf und den verwirrenden Wegweiser-Baum enthält. Die Geschichte fasziniert mich wie kaum eine zweite. Als ich erfuhr, dass die Autorin Christina Henry eine Adaption namens „Alice“ geschrieben hatte, war ich sofort Feuer und Flamme, weil das Buch die berühmte Protagonistin in einer prekären Rolle zeigt: als Insassin einer Psychiatrie.

 

In einem Krankenhaus in der Altstadt, hinter dicken Backsteinmauern, vegetiert eine junge Frau in einer Zelle vor sich hin. Sie wurde eingesperrt, weil sie blutüberströmt eine verrückte Geschichte von einem Kaninchen und einer Tee-Party erzählte. Ihr Name lautet Alice. Seit 10 Jahren ist die Anstalt ihre Herberge. Ihr einziger Gefährte ist ihr Zellennachbar Hatcher. Alice weiß, dass sie niemals entlassen werden wird. Sie ist kaputt, beschädigt. Erst als in den Tiefen der Anstalt ein verheerendes Feuer ausbricht, eröffnet sich ihr und Hatcher ein Weg in die Freiheit. Aber sie sind nicht die einzigen, die den Flammen entkommen. Das Feuer befreit eine entsetzliche Kreatur, die hungrig und wahllos tötet. Alice und Hatcher müssen sie aufhalten. Sie steigen in die dunkelsten, gefährlichsten Orte der Altstadt hinab, doch je näher sie ihrem Ziel kommen, desto näher kommen sie auch der Wahrheit über Alice‘ Vergangenheit – und dem Mann, der sie noch immer als sein Eigentum betrachtet…

 

Von Christina Henry dürfen sich alle Autor_innen von Adaptionen gern eine Scheibe abschneiden. „Alice“ ist eine hervorragende, hypnotische Variante des Klassikers von Lewis Carroll. Obwohl ich ursprünglich nicht erwartet hatte, eine Handlung vorzufinden, die Alice‘ Schicksal nach ihren Abenteuern beleuchtet, sondern annahm, ich müsste herausfinden, ob sie sich das Wunderland lediglich eingebildet hatte, konnte ich mich sehr schnell darauf einlassen. Die Frage, was mit Alice nach ihrer Rückkehr geschehen wäre, beschäftigt mich, seit ich alt genug bin, darüber zu spekulieren. Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass sie in einer psychiatrischen Anstalt gelandet wäre, denn wer hätte ihr ihre verrückte Geschichte schon geglaubt? Henrys Version ist deutlich düsterer, blutiger und gewalttätiger, als ich es mir jemals ausgemalt hätte, doch denke ich an das Original zurück, muss ich zugeben, dass es sich dabei ebenfalls nicht um ein unschuldiges Kinderbuch handelt, schaut man genau hin. Auch in Carrolls Wunderland brodelte das Potential der Gewalt meinem Empfinden nach stets nur knapp unter der Oberfläche. Deshalb finde ich „Alice“ großartig: Christina Henry erfasst das Wesen der ursprünglichen Geschichte pointiert und charakterisiert die Figuren exakt so, wie ich sie immer wahrgenommen hatte. Niemand ist Alice ausschließlich wohlgesinnt; sie sind alle sehr ambivalent, hinterlistig und maximal bedingt vertrauenswürdig, nämlich so lange, wie es ihren Zielen entspricht. Henry übertrug diese zwielichtige Ausstrahlung perfekt auf ihre Adaption, sodass ihr Roman authentisch und originell gelang. Sie entwickelte ein fiktives, vage fantastisches Setting, dessen sonderbare Atmosphäre alle Elemente, die nicht rational erklärbar sind, elegant legitimiert und in dessen Rahmen ihre ältere, traumatisierte Alice grob der Reise von Carrolls Heldin folgt. Nominell besteht ihre Aufgabe darin, die Kreatur zu besiegen, die durch das Feuer in der Anstalt befreit wurde, in der sie 10 lange Jahre einsaß. Ich vergaß jedoch immer wieder, dass dies der Kern der Handlung ist, weil die Konfrontationen mit den bekannten, nun aber menschlichen Figuren des Wunderlands wesentlich drängender und präsenter waren und darüber hinaus von Alice‘ persönlicher Entwicklung überstrahlt wurde. Alice ist 26 Jahre alt und verbrachte den Großteil ihrer Jugend in der Psychiatrie. Es gefiel mir ausnehmend gut, wie psychologisch glaubwürdig Henry ihre Protagonistin beschreibt, indem sie einkalkuliert, dass sie die normalen Erfahrungen des Erwachsenwerdens verpasste. Erst im Verlauf ihres Abenteuers entfaltet sie sich und findet heraus, was in ihr steckt – Courage, Loyalität und Entschlossenheit. Ich empfinde „Alice“ daher als verspätete Coming-of-Age-Geschichte, in der der Weg das Ziel ist und es nicht überraschen sollte, dass der Kampf gegen das Monster eher hintergründig von Bedeutung ist. Resultierend daraus gestaltet sich der finale, äußerst feminine Showdown recht unspektakulär, weil dieser die logische Konsequenz von Alice‘ Metamorphose darstellt. Sie durchlebte eine klassische Heldenreise; sobald sie fähig ist, ihr Schicksal und sich selbst zu akzeptieren, werden alle Herausforderungen zum Kinderspiel.

 

„Alice“ von Christina Henry ist eine dunkle, verdrehte Variante des Kinderbuchklassikers von Lewis Carroll. Es ist eine Adaption, die meinen Geschmack voll und ganz trifft, weil sie meiner intuitiven Wahrnehmung des Originals Form verleiht und diese auf Papier bannt. Die Autorin erfasst die inhärente Natur und Bedeutung der ikonischen Geschichte zielsicher und transformiert diese in eine Erzählung, die neu und frisch wirkt und dennoch das Charisma, die unverwechselbare Aura des populären Stoffes aufgreift. Wer die eigenen Kindheitserinnerungen an „Alice im Wunderland“ unangetastet lassen möchte oder sensibel auf gewaltsame Szenen reagiert, sollte von der Lektüre eher Abstand nehmen, doch allen Leser_innen, die eine erwachsene, erwachte Alice kennenlernen möchten, kann ich das Buch wärmstens empfehlen. Ich freue mich auf die Fortsetzung „Red Queen“ und nehme Anlauf für einen weiteren Sturz durch das Kaninchenloch.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/04/25/christina-henry-alice
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review 2019-03-26 09:51
Enttäuschte Erwartungen
Die Braut: Thriller - Anita Terpstra,Simone Schroth

Laut Amnesty International wurden in den USA seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 1.465 Menschen hingerichtet. Am 01. Juli 2017 gab es 2.817 Todeszelleninsassen, darunter 53 Frauen. Die Todesstrafe in den USA ist ein Thema, das mich seit Jahren begleitet. Für mich sind staatlich sanktionierte Hinrichtungen nicht nur eine Frage von Richtig oder Falsch, obwohl ich mich als Gegnerin verstehe. Es ist ein komplexes moralisch-ethisches Dilemma, über das ich in Abständen immer wieder grübele. 2018 beschloss ich, mich der Thematik durch den Thriller „Die Braut“ von der niederländischen Autorin Anita Terpstra, den ich als Rezensionsexemplar von Random House erhielt, aus einer anderen Perspektive zu nähern. Ich wollte herausfinden, was Frauen bewegt, eine Beziehung mit einem Todeszelleninsassen einzugehen.

 

Viele junge Mädchen malen sich ihre Hochzeit aus. Für einige wird ihr Traum eines Tages wahr. Für Mackenzie Walker nicht. Sie heiratet ihren Verlobten Matt Ayers in einem winzigen schmucklosen Raum. Gäste sind nicht gestattet. Vor den Fenstern befinden sich Gitter und nach der Zeremonie wird Matt zurück in eine Zelle geführt. Matt ist ein Gefängnisinsasse im Todestrakt. Niemand begreift, warum Mackenzie einen Mann ehelicht, dem vorgeworfen wird, mehrere junge Frauen entführt, gefangen gehalten und gefoltert zu haben. Ihr schlagen Unverständnis und purer Hass entgegen, sie erhält Drohungen. Aber Mackenzie lässt sich nicht einschüchtern und versucht, die Polizei davon zu überzeugen, in eine andere Richtung zu ermitteln. Als ihre Bemühungen fehlschlagen, trifft sie einen waghalsigen Entschluss: sie wird Matt aus dem Gefängnis holen. Ein Ausbruch ist ein riskantes Unternehmen. Noch riskanter wäre es jedoch, ihn in der Todeszelle auf seine Hinrichtung warten zu lassen. Denn für Mackenzie hängt alles davon ab, dass ihr Ehemann überlebt…

 

„Die Braut“ war nicht die richtige Lektüre, um eine Antwort auf meine Frage zu finden, wieso sich einige Frauen auf Gefängnisinsassen im Allgemeinen und Todeskandidaten im Speziellen einlassen. Der offizielle Klappentext führte mich auf den Holzweg, denn dieser Thriller von Anita Terpstra handelt nicht von der psychologischen Motivation, einen Todeszelleninsassen zu heiraten. Meine Erwartungshaltung wurde fundamental enttäuscht. Der Inhalt basiert fast ausschließlich auf einer überraschenden Wendung am Ende des zweiten Drittels, die für mich viel zu spät kam, um noch irgendetwas zu retten. Terpstra bemühte sich, ihre Leser_innen an der Nase herumzuführen. Glückwunsch, es ist ihr gelungen. Leider verlor sie mich auf dem Weg dorthin. Die Protagonistin Mackenzie war nicht die Person, die ich zu treffen gehofft hatte. Vor der Wendung fand ich sie naiv und unreflektiert. Ich mochte sie nicht. Sie hinterfragt den Ursprung ihrer Entscheidung, den verurteilten Straftäter Matt Ayers zu heiraten, nicht ein einziges Mal. Ich verstand nicht, warum sie an Matts Schuld zweifelte. Weil er ihr sagte, er sei unschuldig? Bitte. In jedem Gefängnis der Welt sitzen hunderte „Unschuldige“. Auf einige trifft das sicher sogar zu, aber in Mackenzies Fall hatte ich eher das Gefühl, dass sie ihre persönlichen Unzulänglichkeiten auf Matt projiziert. Dennoch: ihr stures Festhalten an einer alternativen Theorie förderte Indizien zutage, die ich nicht ignorieren konnte. Sie überzeugte mich davon, dass einige Fakten nicht zusammenpassten. Terpstra hatte mich dazu verleitet, Mackenzie zu glauben und anzunehmen, ich wüsste, was vor sich geht. Das Problem war, dass ich diesen Handlungsabschnitt insgesamt einfach lahm fand. Die gut gemachte Wendung erwischte mich dann tatsächlich kalt und lenkte „Die Braut“ in eine deutlich interessantere Richtung. Theoretisch müsste ich mit dem Wissen, das ich nun nach der Lektüre über den inhaltlichen Verlauf besitze, die ersten beiden Drittel noch einmal lesen, um zu überprüfen, wie konsequent die Autorin vorgegangen ist. Aspekte, die mir besonders in Mackenzies Verhalten als Mängel aufgestoßen waren, wurden erklärt, relativiert und erhielten eine neue Perspektive. Doch der Schaden war bereits angerichtet. Nicht nur konnte ich mich nicht überreden, die Protagonistin doch noch in mein Herz zu schließen, der Beginn des letzten Drittels erstickte in mir auch jegliche Hoffnung auf einen substanziellen, psychologischen Thriller. Konzeptionell ist es ein pfiffiges Buch, das sich für mich flüssig las. Ich war erstaunt, wie schnell ich durch war. Der inhaltliche Themenschwerpunkt enttäuschte mich hingegen, was wohl der Grund dafür ist, dass ich die Geschichte selbst nicht sehr aufregend oder spannend fand. Ich wollte etwas lernen, ein kurioses, spezifisches Phänomen begreifen – ich habe das Buch nicht ausgesucht, weil ich mit Ermittlungsarbeit konfrontiert werden wollte, unabhängig davon, wie ungewöhnlich diese gestaltet war. „Die Braut“ konnte mich nicht mehr begeistern, weil es schlicht nicht das bot, was ich erwartet hatte.

 

Mir ist bewusst, dass meine Wahrnehmung von „Die Braut“ entscheidend von meiner eigenen Erwartungshaltung geprägt war. Deshalb habe ich entschieden, in der Bewertung nicht allzu streng vorzugehen, denn ich sehe die Schuld für diese etwas missglückte Leseerfahrung bei mir selbst und bei der Person, die den offiziellen Klappentext verfasste. Anita Terpstra kann nichts dafür, dass ihr Roman mein Interessengebiet verfehlte. Ich möchte betonen, dass ich glaube, „Die Braut“ hätte auf mich völlig anders gewirkt, hätte ich nicht bereits im Vorfeld zu wissen geglaubt, wovon dieser Thriller handelt. Statt eine Empfehlung auszusprechen oder euch davon abzuraten, das Buch zu lesen, möchte ich daher eine Warnung formulieren: „Die Braut“ ist ein ausgefallener Ermittlungsthriller. Es geht darin nicht um die psychologischen Faktoren, die Frauen motivieren, Häftlinge zu heiraten. Hoffentlich kann euch dieser Hinweis eine ähnliche Enttäuschung ersparen.

 

Vielen Dank an das Bloggerportal von Random House und den Verlag blanvalet für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/03/26/anita-terpstra-die-braut
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review 2019-03-19 09:28
Die Krux mit der Ich-Perspektive
The Sacred Lies of Minnow Bly - Stephanie Oakes

Stephanie Oakes‘ Debütroman „The Sacred Lies of Minnow Bly“ nahm einige Umwege, bis er veröffentlicht wurde. Während ihres Studiums sollte sie Gedichte zu einem Thema ihrer Wahl schreiben. Sie entschied sich für Märchen und stieß bei ihren Recherchen auf „Das Mädchen ohne Hände“. Die grausame Erzählung inspirierte sie, eine Märchenadaption zu schreiben. Zuerst konzipierte sie eine dystopische Version, die von Agent_innen und Verlagen allerdings abgelehnt wurde. Sie musste einsehen, dass ihre Geschichte nicht funktionierte. Die Rahmenbedingungen stimmten nicht: „The Sacred Lies of Minnow Bly“ verlangte nach einem realistischen Setting. Sie schrieb das gesamte Manuskript neu. Ihre Protagonistin Minnow, die Maid ohne Hände, wurde das Opfer einer Sekte im modernen Montana und das Buch endlich akzeptiert. Bei mir landete der Roman, weil mich die psychologischen Aspekte von Sekten interessieren.

 

Das Gefängnis macht der 17-jährigen Minnow Bly keine Angst. Angst machen ihr nur die dunklen Visionen ihrer Vergangenheit, besonders diejenigen dieser letzten Nacht. Der Nacht, in der ihr Heim niederbrannte.
Minnow lebte 12 Jahre in einer Sekte. Die Community war ihr Zuhause und alles, was sie kannte. Sie glaubte an die Worte des Propheten Kevin, an seine Erklärungen, an seine Weisheit und an seine strengen Regeln. Bis sie zu zweifeln begann und ihm nicht mehr glaubte. Als sie sich verliebte, erfuhr sie am eigenen Leib, wozu Kevin fähig war – und wozu sie selbst fähig ist. Minnow möchte am liebsten vergessen. Das Feuer. Die Toten. Doch sie muss sich ihren Erinnerungen stellen. Denn um eines Tages in Freiheit leben zu können, muss sie zuerst ihren Geist befreien.

 

Ich bin etwas zwiegespalten. „The Sacred Lies of Minnow Bly” ist ein spannender, eindringlicher Young Adult – Thriller, der mich fesselte und einige tiefgründige Themen anspricht, wie Identität, Glaube und freier Wille. Ich fand ihn gut. Aber ich glaube, er hätte noch besser sein können, hätte Stephanie Oakes auf Minnows Ich-Perspektive verzichtet.
Eingangs ist diese Wahl nicht hinderlich. Im Gegenteil. Durch Minnows Augen begreifen die Leser_innen schnell, dass sie sich in einer prekären Lage befindet. Sie hat etwas Schlimmes getan und ist vor etwas noch Schlimmerem davongelaufen. Außerdem offenbart sich bereits auf der ersten Seite Minnows auffälligstes äußerliches Merkmal: ihr wurden beide Hände amputiert. Sie landet in einer Vollzugsanstalt für jugendliche Straftäterinnen. Dort, im Gefängnis, beginnt ihre eigentliche Geschichte, die sie Stück für Stück in Rückblenden aufdröselt. Dadurch entsteht graduell ein bestürzendes Bild des subtilen Horrors der Community. Das Leben der Sektenmitglieder wurde allein vom selbsternannten Propheten Kevin bestimmt; sein Wort war Gesetz. Er befahl ein striktes Patriarchat, Polygamie und einschneidende Regeln, deren Übertretung heftige physische Strafen nach sich zog. Wie in Sekten üblich herrschte Kevin mit Zuckerbrot und Peitsche. Ich hätte jedoch gern erfahren, wie er seine Anhänger_innen ursprünglich von seinen Visionen überzeugen konnte und wie sich die Anfänge der Community gestalteten, denn Minnow erwähnt, dass sadistische Maßregelungen erst später Normalität wurden. Ich hatte mir eine fundierte psychologische Schilderung der komplexen emotionalen Vorgänge in einer Sekte erhofft – doch aus Minnows Ich-Perspektive war das nicht möglich, weil ihr diese nicht bewusst sind. Ich denke darüber hinaus, dass Stephanie Oakes Minnow übertrieben unabhängig charakterisierte, um ihren Leser_innen die Bindung zu erleichtern. Minnows frühe, intuitive Ablehnung der Glaubensgrundsätze der Community erschien mir unwahrscheinlich. Schwer vorstellbar, dass sie sich nach einer Indoktrinierung seit frühester Kindheit als einzige gegen Kevins Gehirnwäsche wehren konnte. Ein realistisches psychologisches Profil hätte allerdings Denk- und Verhaltensmuster involviert, die für die junge Zielgruppe des Romans kaum nachzuvollziehen gewesen wären. Deshalb entschied Oakes vermutlich auch, Minnows persönliche Entwicklung im Gefängnis im Zeitraffer zu zeigen. „The Sacred Lies of Minnow Bly“ umspannt etwa ein Jahr – ihr Aufarbeitungsprozess ist demzufolge verkürzt und klammert frustrierende Rückschläge weitgehend aus. Trotz der Vorteile des Settings, das Minnow mit begrenzten, kontrollierten Reizen konfrontiert, und kleinerer Rebellionen fügt sie sich zu nahtlos in ihr Schicksal. Meiner Meinung nach konnte Stephanie Oakes aus Minnows Innenperspektive das Potential ihrer Geschichte nicht völlig ausschöpfen, weil eine realitätsnahe Darstellung ihres emotionalen und psychologischen Zustandes das Mitgefühl ihrer Leser_innen behindert hätte. Minnow sollte eine Heldin sein, kein seelisches Wrack voller hässlicher Abgründe. Hätte Oakes hingegen eine auktoriale Erzählsituation gewählt, hätte sie Minnows Empfindungen durch äußere Faktoren relativieren können. Das hätte selbstverständlich mehr schriftstellerischen Aufwand bedeutet, doch ich bin überzeugt, dass sich dieser gelohnt hätte. Aus einem guten Buch hätte ein großartiges Buch werden können.

 

Ich kann jede Entscheidung, die Stephanie Oakes während des Schreibprozesses von „The Sacred Lies of Minnow Bly“ traf, nachvollziehen. Das Young Adult – Genre unterliegt nun einmal gewissen Beschränkungen, die die Autorin berücksichtigen musste. Sympathie für die Figuren ist obligatorisch. Ich verstehe, dass sie dieser keinesfalls im Weg stehen wollte. Ich zolle ihr Achtung dafür, dass sie das heikle Thema des Buches für ihre junge Leserschaft verdaulich gestaltete und sich an einer Märchenadaption in einem realistischen Rahmen versuchte. Daher bin ich von diesem Thriller nicht enttäuscht, obwohl meine Erwartungen nicht gänzlich erfüllt wurden. Ich hätte die Geschichte eben einfach anders aufgezogen. Aber ich bin ja auch nur die Leserin, nicht die Autorin.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/03/19/stephanie-oakes-the-sacred-lies-of-minnow-bly
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