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review 2019-10-22 09:38
Die Anmut von Anpassungsfähigkeit
The Reapers are the Angels - Alden Bell

Werden Autor_innen postapokalyptischer Literatur nach dem Reiz des Genres gefragt, geben sie oft unspezifische Antworten, die sich auf die Faszination der Angst und der Abgründe des menschlichen Wesens beziehen. Deshalb war ich positiv überrascht, als ich Alden Bells Antwort auf diese Frage in einem Interview las. Er glaubt, dass hinter der Leidenschaft für düstere Zukunftsvisionen eine konkrete Freiheitssehnsucht steckt. Seiner Meinung nach werden moderne Menschen im Alltag von so vielen Zwängen beherrscht, dass ihnen die Idee einer zerstörten Welt, in der keine Regeln mehr existieren und in der sie zu den wenigen Überlebenden zählen, die Hoffnung vermittelt, sich selbst neuerfinden zu können. Ich finde, das ist ein interessanter Ansatz, der viel Wahrheit enthält. Auch ich frage mich während der Lektüre von Postapokalypsen häufig, wie ich mich verhalten würde. Ob ich wohl ebenso mutig wäre wie Temple, die Protagonistin in Bells Roman „The Reapers are the Angels“?

 

Temple wurde in eine Welt geboren, die dem Untergang geweiht ist. Sie weiß nichts von der Zivilisation, wie sie einst war. Sie kann weder lesen noch schreiben. Aber sie versteht sich darauf, zu überleben. Allein streift sie durch das Land, ohne Herkunft und ohne Ziel. Die Untoten schrecken sie nicht. Vielmehr muss sie sich vor den Menschen in Acht nehmen. Ein Killer ist ihr auf den Fersen, weil Temple ihm etwas nahm, das ihm viel bedeutete. Sie muss fliehen, doch auf ihrer Flucht begegnet ihr der schutzlose Maury. Ihm zu helfen könnte Temples Weg zur Erlösung sein, um all das Schlechte wiedergutzumachen, das sie getan hat. Denn eines ist gewiss: in dieser neuen Welt sind nicht die Untoten die Monster.

 

„The Reapers are the Angels“ gefiel mir viel besser, als ich erwartet hatte. Ich habe das Buch 2016 gekauft, als ich Dystopien und Postapokalypsen in rauen Massen verschlang. Drei Jahre später hat sich mein Geschmack verfeinert, sodass mich längst nicht mehr jede zombiebevölkerte Zukunftsvision in Begeisterungsstürme versetzt. Ich erkannte, dass dieses Genre, wie jedes andere auch, permanent von Durchschnittlichkeit bedroht ist. „The Reapers are the Angels“ ist keinesfalls durchschnittlich und das liegt meiner Meinung nach maßgeblich an der Protagonistin Temple, deren Perspektive zu den spannendsten zählt, die ich je in der postapokalyptischen Literatur einnehmen durfte. Ich habe bisher wenige Hauptfiguren getroffen, die so sehr im Hier und Jetzt ihrer Gegenwart leben wie Temple. Anfangs erschien sie mir sehr jung, unschuldig und naiv, denn das Buch beginnt auf einer kleinen Insel, auf der Temple sich in einem alten Leuchtturm ein Heim einrichtete. Leider kann sie dort nicht bleiben. Sobald sie gezwungen ist, mit ihrer postapokalyptischen Umwelt zu interagieren, offenbarte sich ihr harter Charakter. Ich möchte betonen, dass ich „hart“ völlig wertungsfrei verwende. Temple muss hart sein. Sie ist brutal unabhängig, beinahe schmerzhaft selbstständig und das alles im zarten Alter von etwa 15 Jahren. Sie nimmt die verwüstete Welt, wie sie ist, erkennt ihre Schönheit, vermisst oder betrauert nichts und reagiert pragmatisch auf jede Herausforderung, die ihr begegnet. Schlagartig wirkte sie deutlich älter, taff und abgebrüht. Nachträglich glaube ich, dass diese Diskrepanz darauf zurückzuführen ist, dass Temple im Schutz der Isolation ihrer Insel den Luxus genoss, nicht erwachsen sein zu müssen und sich deshalb einer Kindheit annäherte, die sie eigentlich nie hatte. Zurück in den Überresten der Zivilisation verkörpert sie eine neue Generation – Menschen, geformt von der Zombie-Apokalypse, die alles tun würden, um zu überleben und sich dessen nicht schämen, weil sie nichts anderes kennen. Bell konfrontiert seine Protagonistin immer wieder mit den Grenzen des Akzeptablen und erforscht, wie weit sie zu gehen bereit ist. Folglich ist die Handlung von „The Reapers are the Angels“ zwar sehr blutig und gewaltgeprägt, vermittelt aber trotzdem eine tiefsinnige, feinfühlige und fast sanfte Ausstrahlung, fern von reißerischer Hysterie. Leise, reflektierte Momente wiegen schwerer als wilde Action und selbst die Zombies spielen nur eine untergeordnete Rolle. In Temples Wahrnehmung sind Zombies gefährliche Tiere, denen sie wann immer möglich einfach aus dem Weg geht. Sie verteidigt sich ausschließlich, wenn ihr keine andere Wahl bleibt und empfindet keine Freude daran, Zombies zu töten. Mich überraschte es dementsprechend nicht, dass Ursache und Auslöser der Zombieplage nie geklärt werden. Bell erläutert nur, was für Temple von Bedeutung ist und das ist tatsächlich nicht viel: das Verhalten der Zombies, ihre Fähigkeiten und wie die Infektion übertragen wird. Alles andere kümmert sie nicht. Braucht es auch nicht, denn schließlich sind die Zombies nicht diejenigen, die sie fürchten muss.

 

Mit „The Reapers are the Angels” verfolgte Alden Bell meiner Ansicht nach das Ziel, das Potential der Zerstörung zu untersuchen. Er konzipierte einen Neuanfang für die Welt und erkundete, welches Leben aus der Asche einer glorreichen Vergangenheit hervorgehen könnte. Dazu bediente er sich einer Protagonistin, die in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist und sich hervorragend dazu eignet, die Erwartungshaltung seiner Leser_innen durcheinanderzuwirbeln. Temple ist keine stereotype Heldin, sondern ein echtes Unikat. Ich bin ein riesiger Fan von ihr, weil sie zahlreiche paradoxe Eigenschaften vereint und dennoch glaubwürdig erscheint. Ihre Geschichte berührte und begeisterte mich, denn für mich personifiziert sie die Anmut von Anpassungsfähigkeit. Temple ist, wer sie ist – ein Kind der Postapokalypse, die Zukunft der Menschheit. Ihre bloße Existenz stellt ein literarisches Ausrufezeichen dar. Die lose Fortsetzung „Exit Kingdom“ ist meinem Empfinden nach daher überflüssig. Ich glaube nicht, dass ich sie lesen werde. Manche Geschichten sollten einfach so stehen bleiben, wie sie sind.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/10/22/alden-bell-the-reapers-are-the-angels
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review 2017-06-15 10:18
Aus dem Leben eines modernen Kriegers
No llores, mi querida - Weine nicht, mein Schatz - André Pilz

Bevor ich mit der Rezension zu „No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz“ beginne, sollte ich euch erklären, wieso ich diesen Skinhead-Roman besitze. Ich habe eine tiefe persönliche Bindung zum Thema des Buches, zu der Szene, in der und für die der Autor André Pilz es geschrieben hat. Ich war selbst jahrelang in der linken bzw. unpolitischen Skinhead-Szene aktiv. Ich war ein Renee, ein Skingirl, mit allem, was dazu gehört: Musik, Kleidung, Lebensstil. Mittlerweile habe ich die Szene verlassen, weil ich mit der Stagnation selbiger nicht zurechtkam. „No llores, mi querida“ war das letzte ungelesene literarische Überbleibsel dieser Zeit. Als ich es von meinem SuB befreite, war ich extrem gespannt, wie es auf mich wirken würde. Eine Reise in meine Vergangenheit stand bevor.

 

Skinhead, Skinhead, Oi Oi Oi! Diese Worte sind Ricos Schlachtruf. Jahrelang war Rico schwach, wurde geschubst und getreten, als er am Boden lag. Er schwor sich, niemals wieder so verletzlich zu sein. Er ist ein Skin, ein Krieger im täglichen Kampf gegen die brutalen Anforderungen einer Gesellschaft, in die er nicht passt. Gewalt und Exzess bestimmen seine Existenz. Seine Freunde sind ebenso Ausgestoßene wie er. Doch tief in seinem Herzen verzehrt sich Rico nach Hoffnung. Als er die Mexikanerin Maga kennenlernt und sich rettungslos in sie verliebt, stellt er sich zum ersten Mal die Frage, ob es nicht auch anders geht. Muss er die lähmende Verzweiflung, den Zorn, die giftige Bitterkeit ertragen? Gibt es keinen Ausweg aus der Abwärtsspirale seines Lebens? Entgegen aller Widerstände wird Maga zu Ricos Licht in der Dunkelheit und lehrt ihn, dass jeder Mensch eine Chance auf Glück verdient, sogar ein Skinhead.

 

Meine Rückkehr in den Kosmos der Skinheads war seltsam. Es war merkwürdig, mit Gedanken konfrontiert zu werden, aus denen ich lange herausgewachsen bin. Ich musste mich erst wieder an den derben Tenor der Szene und den daraus resultierenden ordinären Schreibstil in „No llores, mi querida“ gewöhnen. André Pilz schont sein Publikum nicht und ich glaube, für Leser_innen, die noch nie mit der Szene in Kontakt gekommen sind, ist das Buch vermutlich zu krass, mit all der Gewalt, literweise Alkohol und einem Leben am äußersten Rand der Gesellschaft. Ich brauchte ein wenig, um mich auf Pilz‘ Schilderungen einzulassen, kam dann aber schnell rein und konnte mich mit der extremen Härte des Romans arrangieren, obwohl ich nicht behaupten kann, dass ich mich wohlfühlte. Das ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Ricos Auffassung seiner Identität als Skinhead unterscheidet sich radikal von dem, was ich damals empfand. Ich hätte nichts mit ihm und seinen „Freunden“ zu tun haben wollen, weil ich sie als asoziale Prolls eingeschätzt hätte. Ich habe Skingirl zu sein niemals damit assoziiert, eine Kriegerin zu sein. Für mich ging es um bodenständige Werte; darum, sich innerhalb der Gesellschaft eigene Regeln und Grenzen zu schaffen. Für Rico hingegen sind die Glatze, die schweren Stiefel und sein provokatives Verhalten Ausdruck seines persönlichen Krieges gegen die Gesellschaft. Er ist ein Anarchist, benimmt sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Er empfindet Hilflosigkeit, Ohnmacht und Weltschmerz und da er nicht weiß, wie er mit seinen Gefühlen umgehen soll, schlägt er nach außen. Das stimmt mich unheimlich traurig, denn in seinem Kern ist Rico hypersensibel, eine maßlos empfindsame Seele und eigentlich viel zu zart für unsere grausame Welt. Die schützende emotionale Mauer, die Menschen normalerweise davor bewahrt, angesichts all des Leids und des Elends in der Welt verrückt zu werden, hat Rico nicht. Er tut, als würde ihn das alles überhaupt nichts angehen, dabei zerbricht er sich täglich den Kopf darüber. Ich kann nachvollziehen, dass er glaubt, ein Krieger sein zu müssen, um zu überleben. Er kennt nur Extreme, trotz seiner erstaunlich weit entwickelten Intelligenz. Man traut es Rico nicht zu, aber er ist tatsächlich ziemlich klug und ich gehe mit den meisten seiner philosophischen, gesellschaftskritischen Überlegungen konform. Lediglich die Konsequenzen schätze ich anders ein. Man kann das System nicht von außen zerstören, man kann es nur von innen heraus verändern. In diesem Punkt bin ich einer Meinung mit Maga, die für Rico einfach alles ist. Sie ist Auslöser, Motivation und Perspektive seiner Veränderung. Er wäre vermutlich auch ohne sie eines Tages darauf gekommen, dass sein Dasein deprimierend und leer ist, dass seine „Freunde“ asoziale Schläger sind, denen nichts irgendetwas bedeutet, aber dank Maga sieht er eine Alternative. Ihretwegen erkennt er, dass er die Wahl hat, ein anderes Leben zu führen.

 

Ich kann euch „No llores, mit querida – Weine nicht, mein Schatz“ ausschließlich unter ganz bestimmten Umständen empfehlen. Ich fand es zwar großartig, überraschend tiefsinnig und verblüffend berührend, aber es ist auch äußerst speziell, außergewöhnlich hart und ab und zu regelrecht abstoßend. Meiner Ansicht nach solltet ihr diesen Skinhead-Roman nur dann lesen, wenn ihr wahrhaft bereit für eine extreme, grenzwertige Variante des Konflikts zwischen Gesellschaft und Individuum seid. André Pilz treibt es auf die Spitze. Er kennt keine Tabus. Falls ihr meint, damit umgehen zu können, versucht es. Ich habe lediglich eine Bitte an euch. „No llores, mit querida“ mag autobiografische Elemente enthalten, doch bitte glaubt nicht, der Protagonist Rico und seine Truppe stünden stellvertretend für die gesamte Skinhead-Szene. Das ist nicht wahr. Ich habe in meiner Zeit in der Szene glücklicherweise nur wenige Gestalten kennengelernt, die ähnlich asozial und kaputt waren wie Rico. Die meisten Skins sind in einem gesunden Maß angepasst, wenn auch oft laut, wild und reichlich verrückt. Dieses Buch vermittelt nur einen winzigen Bruchteil der Realität. Skinhead zu sein kann vieles bedeuten. „Krieger“ ist nur eine Auslegung.

 

P.S.: Für all diejenigen unter euch, die Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von Skinheads und Nazis haben und nach dieser Rezension ein bisschen verwirrt sind, finden auf der folgenden Website eine Erklärung der Szene: Du sollst Skinheads nicht mit Nazis verwechseln

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/06/15/andre-pilz-no-llores-mi-querida-weine-nicht-mein-schatz
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