Lissabon, am 18. November 1942. Im Hafen der portugiesischen Hauptstadt stehen haufenweise unrasierte Männer und Kinder mit kahlgeschorenen Köpfen, Greise sitzen verloren auf Kisten und Taschen, Frauen errichten mitten auf der Straße Feuerstellen zum Essenmachen. In den Blicken spiegeln sich „die...
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Lissabon, am 18. November 1942. Im Hafen der portugiesischen Hauptstadt stehen haufenweise unrasierte Männer und Kinder mit kahlgeschorenen Köpfen, Greise sitzen verloren auf Kisten und Taschen, Frauen errichten mitten auf der Straße Feuerstellen zum Essenmachen. In den Blicken spiegeln sich „die Namen von Städten – Amsterdam, Brüssel, Warschau“, heißt es im über 700 Seiten starken Roman Nach über Lissabon des argentinischen Autors Leopoldo Brizuela: „und zugleich das Bild ihrer Verwüstung“. Ja, Europa liegt 1942 schon fast in Trümmern, und Lissabon ist der einzige neutrale Hafen, von dem aus Tausende von Flüchtlingen, oft ohne Koffer oder Geld, vor den Nationalsozialisten und dem 2. Weltkrieg in die freie Welt entfliehen wollen. Hier warten sie auf das rettende Schiff, die „Boa Esperança“, zu Deutsch: „gute Hoffnung“. Aber es wird auch ein Schiff mit Getreide erwartet, das zudem einen Geheimauftrag zu erfüllen hat. Als sich dann auf der „Boa Esperança“ eine Explosion ereignet, ist das Schicksal der schon halb Verlorenen am Atlantik scheinbar hoffnungslos... Es ist schon erstaunlich, welches Panorama aus Hoffnung und Verzweiflung Brizuela an nur einem Tag – beziehungsweise einer Nacht – zu entwerfen versteht. Dabei lässt er reale und fiktive Personen aufeinandertreffen, darunter einen argentinischen Konsul oder den Tangokomponisten Enrique Santos Discépolo mit seiner Gattin. Wie bei Boccaccio vertriebt man sich im geschlossenen Raum des Hafens und Schiffes die Zeit mit Geschichten – mit dramatischen Lebensgeschichten, um genau zu sein, deren Lektüre allein schon den Kauf dieses ungewöhnlichen, raffiniert komponierten und dabei noch ungemein spannenden Buches lohnt. -- Stefan Kellerer
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