Das Ganze Glück. Eine Liebesgeschichte. Mit Einem Hafis Orakel
Sie sieht ihn regelmäßig in der Cafeteria oder der Meierei -- beide sitzen an ihren Stammplätzen, sprechen nicht miteinander, und doch lernt Sanda seine Bewegungen, seine Mimik und Gestik auswendig. Auf unerklärliche Weise fühlt sie sich von ihm angezogen -- trotzdem lehnt sie seine Einladung ab,...
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Sie sieht ihn regelmäßig in der Cafeteria oder der Meierei -- beide sitzen an ihren Stammplätzen, sprechen nicht miteinander, und doch lernt Sanda seine Bewegungen, seine Mimik und Gestik auswendig. Auf unerklärliche Weise fühlt sie sich von ihm angezogen -- trotzdem lehnt sie seine Einladung ab, als er sie Monate später auf der Treppe anspricht; als ob jemand Fremdes aus ihr gesprochen hätte. Lametta wird ihr erstes Gesprächsthema; er wird in den Kreis der Studenten aufgenommen, der sich regelmäßig trifft. Hilflos und schüchtern nähern sich beide immer weiter aneinander an -- um sich im entscheidenden Moment doch immer wieder zurückzuziehen. Erst am Vorabend ihrer Abreise nach Venedig lässt sie zu, dass sie sich näher kommen. Es sind nur 500 Kilometer von Wien nach Venedig, beide legen sie die Strecke häufig zurück, um sich zu sehen, sich zu lieben, die Ekstase auszuleben, in die sie automatisch geraten, wenn sie sich sehen. Der persische Prinz, wie Sanda ihn nennt, erzählt ihr von Hafis Orakel -- 41 Buchstabentabellen, dazu ein Zahlenquadrat, mit dem man die entsprechende Tabelle auswählt; die Verse, die sich dahinter verbergen, lassen zwar häufig viele Deutungen zu, sind aber erstaunlich treffsicher. Gemeinsam übersetzen sie dieses Orakel ins Deutsche -- also eine harmonische, glückliche Beziehung? Nicht wirklich. Seine Exfreundin kommt zurück, verlangt ihr Recht, erklärt Sanda, dass sie nicht die Richtige wäre, und erklärt ihr den Krieg. Eine wunderschöne Liebesgeschichte. Auch wenn es -- trotz der raschen Entwicklung -- eine Weile gedauert hat, bis ich mich festgelesen hatte. Die Geschichte ließ mich nicht mehr los. Sibylle Mulot hat es wieder einmal geschafft, eine wunderbar leichte, schwebende Geschichte zu erzählen. Und während man liest, stößt man auf Sätze, die wie im Vorübergehen anrühren, betroffen machen, zum Nachdenken anregen. Unaufdringlich, das beschreibt sowohl die Sprache als auch den Charakter dieser kurzen Erzählung über das Glück; unaufdringlich, aber trotzdem lang anhaltend. "Nicht jede große Liebe braucht auch ein Happy End", singt Reinhard Mey in einem seiner Lieder. Das ganze Glück ist ein wunderbares Beispiel dafür. --Daniela Ecker
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