Ein Mann geht durch die Stadt. Er betrachtet eine junge Mutter, die sich die Daumenspitze feucht macht, um ihrem kleinen Kind einen braunen Fleck aus dem Gesicht zu wischen. Er beobachtet eine offenbar verwirrte Frau, die nacheinander drei halbvolle Mülltonnen umwirft, um sie anschließend wieder...
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Ein Mann geht durch die Stadt. Er betrachtet eine junge Mutter, die sich die Daumenspitze feucht macht, um ihrem kleinen Kind einen braunen Fleck aus dem Gesicht zu wischen. Er beobachtet eine offenbar verwirrte Frau, die nacheinander drei halbvolle Mülltonnen umwirft, um sie anschließend wieder aufzuheben. Er sieht zwei Halbwüchsige beim Versuch, eine Rolltreppe zum Stillstand zu bringen, kläglich scheitern. Und er liest im Schaufenster einer Pizzeria, dass es hier zwei Gerichte zum Preis von einem gäbe. Pech für den Mann, denn seine beiden Frauen kann er nicht mitnehmen ins Lokal: „Sandra mag keine Pizzen und Judith keine Stehlokale“. So ist es mit dem Leben des Ich-Erzählers in Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit, eines Erzählers, der Spezialist für Apokalyptik ist und Seminare über die Prophetie vom Weltende gibt: Eigentlich hat er alles im Überfluss. Aber irgendwie will doch nichts so richtig zusammenpassen. Nach den Romanen Ein Regenschirm für diesen Tag (2001) und Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (2003) sowie dem ausgezeichneten Essayband Der gedehnte Blick hat Wilhelm Genazino, der Georg-Büchner-Preisträger von 2004, mit Die Liebesblödigkeit wieder ein fulminantes Buch vorgelegt, dass in wundervoll ironischer Sprache vom Leben eines Mannes erzählt, der genug von der Liebe hat, weil er genug von der Liebe hat: Ein Apokalyptiker in Endzeitstimmung, der sich in genauer Detailbeobachtung seiner Umgebung ergeht und sich das Recht herausnimmt, trotz seiner Wehwehchen zwei Frauen zugleich zu lieben, die nichts voneinander wissen dürfen. Oder soll er sich doch von einer seiner Frauen trennen? Und, wenn ja, von welcher? Vor allem vom Versuch einer Entscheidung und der Schwäche des Erzählers handelt Die Liebesblödigkeit: unglaublich präzise, psychologisch ausgefeilt und: grandios geschrieben. Unbedingt lesenswert! --Stefan Kellerer
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