Dr. Sex
Nun, da Prok tot ist, wandern Milks Erinnerungen noch einmal zurück zu jenem Herbsttag 1939, an dem man im Hörsaal des Instituts für Biologie an der Universität von Indiana eine Stecknadel hätte fallen hören können. Studenten und Studentinnen bekamen heiße Ohren angesichts des Gehörten und vor...
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Nun, da Prok tot ist, wandern Milks Erinnerungen noch einmal zurück zu jenem Herbsttag 1939, an dem man im Hörsaal des Instituts für Biologie an der Universität von Indiana eine Stecknadel hätte fallen hören können. Studenten und Studentinnen bekamen heiße Ohren angesichts des Gehörten und vor allem Gezeigten. Was der Professor, von allen nur „Prok“ genannt, in drastischen Bildern an die Wand warf, waren nichts weniger als nackte Tatsachen. Erigierte Penisse, feuchte Vaginen. Fruchtfliege und Blütenstaub hatten ausgedient. Der Zoologe Alfred C. Kinsey hatte sein Lebensthema gefunden: Die Erforschung des Sexuallebens von Mann und Frau. Eine Revolution fand statt. Und einer sollte bald dem inneren Zirkel um Prok angehören: Der schüchterne Studiosus John Milk. Unter dem unglücklichen, BRAVO-haft verklemmten deutschen Titel, entwirft Boyle einen grandiosen Sittenspiegel sexueller Verklemmungen und Neurosen. Proks These, „den körperlichen Aspekt von Sex vollkommen von seinem emotionalen oder spirituellen Kontext zu trennen“, führt den Jungforscher Milk dabei zusehends ins Dilemma: Während Kommilitonin Iris erste zarte Liebesgefühle in ihm weckt, muss er im Dienste der Forschung nachts in Schränke kriechen, um den Stellungskrieg einer Prostituierten mit ihrer Kundschaft zu dokumentieren, darf beim Statistikfestival „Onanieren der Tausend“ selbst mitrubbeln, und soll am Ende sogar seine Iris zum Partnertausch aus der Hand geben. Boyle-Leser wissen, dass alles Messianische und Eifernde bei TCB besonders misstrauisch beäugt wird. Langsam entdeckt Milk, dass der Mann, der der Sexualität den Weg aus dem Unaussprechlichen verhalf, am Ende selbst als besessener und emotionsloser Messtechniker und Sextechnokrat dasteht. Allzu begierige Leser seinen gebremst! Was bei einem solchen Thema nahe läge, die exzessive Schilderung sexueller Handlungen, wird von Boyle klug und eher behutsam eingesetzt. Wichtiger ist die eigentliche Botschaft des Romans, Milks Erfahrung, dass jenseits aller Messdaten über konvulsivische Zuckungen, Erektionsdauer und Gleitsekrete, ein viel größeres Reich zu entdecken ist: Das der Emotionen, der Irrationalität und Zärtlichkeit – das der Liebe. Diese Entdeckung blieb dem harmlosen Assistenten John Milk vorbehalten. T. C. Boyle gelang ein atemberaubendes Stück Zeit- und eine noch zartere Liebesgeschichte. –Ravi Unger T. C. Boyle im Interview "Was für den einen pervers, ist die Sahne im Leben des anderen." Lesen Sie unser exklusives Interview mit T.C. Boyle über seinen Roman Dr. Sex, der auch fünfzig Jahre nach dem Kinsey-Skandal wieder für Aufruhr unter den Moralaposteln sorgte.
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