Das Aussteigen ist Herrn Jensens Problem nicht. Eher schon, dass er noch nie ins Leben eingestiegen ist: Studium abgebrochen, keine Freunde, keine Interessen, noch nie Sex mit einer Frau gehabt, Kontakt zu den Eltern aufs Minimum reduziert. Mit dieser traurigen und lebensfremden Gestalt möchte...
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Das Aussteigen ist Herrn Jensens Problem nicht. Eher schon, dass er noch nie ins Leben eingestiegen ist: Studium abgebrochen, keine Freunde, keine Interessen, noch nie Sex mit einer Frau gehabt, Kontakt zu den Eltern aufs Minimum reduziert. Mit dieser traurigen und lebensfremden Gestalt möchte Jakob Hein seinen ersten fiktiven Roman bestreiten, nachdem seine bisherigen drei Bücher stark autobiographisch geprägt waren. Selbst eine gewisse Arbeitsfreude, als Postbote, kommt Herrn Jensen, der schon als Kind keinen Vornamen gehabt zu haben scheint, schließlich auch noch abhanden, weil ihm gekündigt wird. Nett wäre die Lektüre zu nennen, kurzweilig auch. Und kurz sowieso -- bei einem anderen Druckbild hätte das Buch nicht einmal 80 Seiten. Aber furchtbar originell oder literarisch wertvoll ist das nicht, was uns aus dem Leben dieses Eigenbrötlers geschildert wird. Wenig schmeichelhaft fällt der Vergleich mit den vielen anderen literarischen Sonderlingen aus. Um nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: Sibylle Lewitscharoffs Pong etwa ist wenigstens wirklich durchgeknallt und auch die Sprache des Romans bezaubernd anders. Oder wie vergleichsweise charmant und vielschichtig flanieren Wilhelm Genazinos sonderbare Helden durch die "Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens", etwa im großartigen Ein Regenschirm für diesen Tag? Aber Herr Jensen steigt aus ist wohl eher als Text über unsere absurde Hartz-IV-Welt zu verstehen. Denn nach einer kurzen und anstrengenden Phase, in der Herr Jensen mit Hilfe von vier Videorekordern die Abgründe des Talk-Show-Wahnsinns in den TV-Kanälen zu analysieren versucht, kommt eine Phase des Protests. Den Fernseher wirft er aus dem Fenster und ignoriert die mediale "Scheinwelt" und auch die Anfechtungen durch das Arbeitsamt. Er verteidigt trotzig sein Nichtstun, das ihm zur ernsten Leidenschaft wird. Am bitteren Ende verschanzt er sich in seiner Wohnung: "Die meiste Zeit saß er in seinem Sessel und starrte dorthin, wo seit langem nichts mehr war. Es war sein stiller, letzter Triumph..." –- und die Welt scheint den blassen, seltsamen Menschen zu vergessen, und auch die Leser werden es bald tun. --Christian Stahl
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