Historische Romane sind ein einträgliches Geschäft und überfluten den Buchmarkt in großer Vielfalt. Da wird es natürlich immer schwerer, ein originelles Thema zu finden, einen geschichtlichen Rahmen, der noch nicht bereits mehrfach abgegrast wurde. Tracy Chevalier scheint dieses Problem nicht zu...
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Historische Romane sind ein einträgliches Geschäft und überfluten den Buchmarkt in großer Vielfalt. Da wird es natürlich immer schwerer, ein originelles Thema zu finden, einen geschichtlichen Rahmen, der noch nicht bereits mehrfach abgegrast wurde. Tracy Chevalier scheint dieses Problem nicht zu kennen: Nach ihrem mit großer Eleganz erzählten Überraschungserfolg Das Mädchen mit dem Perlenohrring legt sie nun einen weiteren Roman vor, der gleichermaßen eigenwillig, eigenständig und ein großer Lesegenuss ist. Im Mussée National du Moyen Âge in Paris hängen sechs Bildteppiche, auf denen eine Dame mit einem Einhorn dargestellt ist. Über diese Teppiche ist nur bekannt, dass sie aus dem späten 15. Jahrhundert stammen und mit großer Wahrscheinlichkeit von dem Hofbeamten Jean Le Viste in Auftrag gegeben wurden. In Tracy Chevaliers fiktiver Rekonstruktion der Vergangenheit forderte Le Viste ursprünglich Schlachtenszenen, auf denen sein Banner im Vordergrund stehen sollte. Seine Gattin und der Künstler Nicolas des Innocents konnten ihn jedoch überzeugen, dass er bei Hofe für weit größeres Aufsehen sorgen würde, wenn er ein Minnethema gestalten ließe. Das Werben der Dame um das Einhorn entspricht der Leidenschaft, die Jean Le Viste für schöne Frauen empfindet. Er ist ein Meister darin, den Anschein der Ehrbarkeit zu wahren und dabei auf seine Kosten zu kommen. Und er ist nicht der einzige erfolgreiche Schürzenjäger in dieser Geschichte: Auch Nicolas weiß das Herz eines Mädchens zu gefährden, so dass die Flucht ins Kloster als letzter Ausweg erscheint, ihre Jungfräulichkeit zu retten. Mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen und spürbarer Begeisterung für die gewählte Epoche gelingt es Tracy Chevalier, eine uns ferne Zeit heraufzubeschwören. In passenden Momenten spart sie nicht mit Detailwissen, doch in erster Linie sind es die liebenden und leidenden Figuren, die auf jeder Seite zum Lachen und Weinen anregen und die man am Schluss der Buches nur ungern zurücklässt. -- Ein großes Lob auch an den Verlag, der die Bildteppiche auf ausklappbaren Vorsatzblättern mit großem Aufwand reproduziert hat: ein tolles Buch in angemessenem Gewand. --Hannes Riffel
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