Nachdem ich strickenderweise meiner Netflix Sucht verfallen bin und Alias Grace inhaliert habe, hatte ich nicht übel Lust das Buch noch einmal zu lesen. Ich konnte mich zwar an manche Dinge erinnern, aber da mein Gedächtnis die Beschaffenheit eines Siebes hat, gab es viel "neu" zu entdecken. Außerdem habe ich das Buch als Kind aus dem Bücherregal meiner Eltern gemopst und schau einer guck, es macht tatsächlich einen Unterschied wie alt man bei der Lektüre ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir Passagen dieser Art vollkommen entgangen sind:
He was very annoyed, and said I must stop at once, or he would slap my face for me; but he did not. What I had said had cooled his ardour, as they say in the books; or as Mary Whitney would say, he'd mislaid his poker. For at that moment Mr. Kinnear, dead as he was, was the stiffer man of the two of them. p.331
Abgesehen von wenigen, etwas langatmigeren Stellen, mochte ich das Buch gerne. Es gefällt mir, dass wir die Geschichte hauptsächlich aus Grace Perspektive hören, die definitiv nicht auf den Kopf gefallen ist. Allerdings lässt sich Atwood am Anfang sehr viel Zeit die Geschehnisse darzustellen, was das Ende des Buches sehr abrupt kommen lässt. Jeremiah the Peddler ist einer meiner liebsten Charakter, da bodenständig und mit seinen Ansichten sehr ehrlich bzw. klar obwohl er genau das Gegenteil zu seinem Beruf macht. Aber leider erfahren wir am Ende nicht mehr sehr viel über seine Beweggründe. Vom eigentlichen Geschehen unabhängig auch schön einen Blick hinter die Kulissen des Lebens zu erhalten - nebst Haushalttipps von Grace...
Die Moral die Grace aus der Geschichte zieht, finde ich sehr aktuell.
It is not the culprits who need to be forgiven; rather the victims, because they are the ones who cause all the trouble. If they were only less weak and careless, and more foresightful, and if they would keep from blundering into difficulties, thinks of all the sorrow in the world that would be spared. p.457
Das hört man ja leider immer noch zu oft, dass nicht der Täter, sondern das Opfer Schuld ist an seinen Missständen. Frei nach dem Motto: "Hättest du mal aufgepasst, dann wäre dir das auch nicht passiert.". Wie furchtbar, das ist doch keine Rechtfertigung!