Ich liebe Geschichten, in denen eine Figur durch Rufmord zum Außenseiter oder zur Außenseiterin wird. Vorzugsweise Geschichten, in denen alle Charaktere Jugendliche sind. Ich weiß nicht, warum das so ist; vielleicht wirkt meine eigene Teenie-Zeit noch nach, in der ich eine deutliche Schwäche für High-School-Romantik-Filme hatte. Es kommt mir überhaupt nicht auf ein Happy End an, es fasziniert mich einfach, die Reaktionen der ProtagonistInnen zu beobachten. Der Nerd, der zum Amokläufer wird; die Schulschönheit, die ihren Status verliert; die Einzelgängerin, die erkennt, dass Beliebtheit nicht bedeutet, echte Freunde zu haben. Im Grunde bauen diese Geschichten alle auf dem gleichen Gerüst auf, aber ich kann nicht genug davon bekommen. Nicht alle Vertreter der Initiationsliteratur sind gut, doch bei „The Truth About Alice“ von Jennifer Mathieu hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl.
Alice Franklin ist ein Flittchen, das weiß jeder. Schließlich hatte sie auf einer Party mit gleich zwei Jungs Sex. Außerdem ist sie eine Mörderin. Sie ist schuld daran, dass Brandon Fitzsimmons durch einen Autounfall ums Leben kam. Auch das weiß jeder. Und alle reden darüber.
Vier Jugendliche erzählen alles, was sie über Alice wissen. Die Party, der Unfall – ein Mädchen, das in einer Abwärtsspirale aus Lügen, Verleumdungen und Halbwahrheiten gefangen ist, die völlig außer Kontrolle geraten. Was mit einem Gerücht begann, wird zur felsenfesten Überzeugung einer ganzen Stadt. Doch letztendlich kennt nur eine Person die Wahrheit: Alice selbst.
Der Aufbau von „The Truth About Alice“ ist einfach genial. Die Protagonistin des Buches ist Alice Franklin, doch sie kommt bis zum Schluss nicht zu Wort. Stattdessen erklären vier ihrer MitschülerInnen die Ereignisse, die zu Alice‘ verhängnisvollem Absturz führten: Elaine, das beliebteste Mädchen der Schule; Josh, der den Unfall mit Brandon überlebte und dessen bester Freund; Kelsie, Alice‘ ehemals beste Freundin und Kurt, das stille Genie, der Alice seit Jahren aus der Ferne bewunderte. Für mich ging genau davon der Reiz dieses Buches aus, denn letztendlich geht es nicht um die Wahrheit, obwohl der Titel etwas anderes andeutet. Es geht einzig und allein um Projektionen. Alle Akteure haben unterschiedliche Gründe, ihre eigenen Unsicherheiten auf Alice zu übertragen. Daraus entwickelt sich eine Situation, die nichts mehr mit Alice als Persönlichkeit zu tun hat, sondern nur noch mit dem Konstrukt ihrer Person, das durch ein verselbstständigtes Geflecht aus Gerüchten entstand.
Selbst Kurt, dem ich mich am verbundensten fühlte und der innerhalb der Geschichte eine gewisse Sonderrolle einnimmt, lässt sich von seinen Interpretationen täuschen und muss erst lernen, die tatsächliche Alice wahrzunehmen.
Jennifer Mathieu ist Lehrerin und unterrichtet SchülerInnen, die sich genau in der Altersspanne ihrer Figuren bewegen. In „The Truth About Alice“ vermittelt sie, dass der äußere Schein selten den Tatsachen entspricht. Anfangs zeichnet sie ihre Charaktere als personifizierte Klischees, doch im Laufe des Buches schenkt sie ihnen echte Tiefe. Sie macht aus Stereotypen lebendige, glaubhafte Menschen. Ich kann mir vorstellen, dass Mathieu in ihrer beruflichen Laufbahn schon sehr oft miterleben musste, wie facettenreiche Jugendliche auf eine bestimmte Rolle reduziert wurden. Diese Verhaltensweise ist so traurig, ignorant und gefährlich, dass ich ihren Roman als Appell empfinde. Und tatsächlich überzeugte mich ihre Botschaft ebenso wie die Figuren als ihre Träger voll und ganz.
Manchmal muss man im Leben erst alles verlieren, um das zu finden, was man wirklich braucht. Durch all das, was Alice angetan wurde, konnte sie das wahrhafte Wesen der Menschen in ihrem Umfeld erkennen. Diese Lehre ist unbezahlbar und ohne zu viel verraten zu wollen, denke ich, dass auch Alice das schlussendlich so betrachtete.
„The Truth About Alice“ hat mir als Vertreter der Initiationsliteratur ausnehmend gut gefallen. Die Idee, fast ausschließlich aus der Perspektive anderer Personen über die Protagonistin zu schreiben, ist fabelhaft und veranschaulichte die Beziehungen zwischen Jugendlichen eingängig und nachvollziehbar. Ich fand es absolut spannend, mir immer wieder vorzustellen, dass Jennifer Mathieu diese Beziehungen jahrelang beobachtete und die Essenz ihrer Beobachtungen nun niederschrieb. Dabei hat sie einen sehr angenehmen Schreibstil, der es mir ermöglichte, mich in alle Charaktere hineinzuversetzen.
Wer wie ich Freude an YA-Außenseiter-Romanen hat, liegt mit „The Truth About Alice“ goldrichtig. Es ist echt, es ist lebendig, es ist mitreißend. Taucht in die Geschichte ein und findet die Wahrheit über Alice heraus.