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review 2018-07-20 09:50
Mexikanisches Familienpuzzle
Denn sie sterben jung: Stories - Antonio Ruiz-Camacho,Johann Christoph Maass

Dieser Roman von Antonio Ruiz-Camacho besteht aus einer Reihe von Kurzgeschichten einer Familie, die am Ende zu einer großen Einheit und einem Gesamtbild – quasi einer Familienchronik – zusammengesetzt werden sollten. Normalerweise bin ich ja eine denkbar schlechte Rezensentin für Short-Stories, da ich viel zu sehr auf Figurenentwicklung und Plotgestaltung achte und für mich deshalb auf so wenigen Seiten meist einfach zu wenig Raum bleibt, um meine Anforderungen an eine gute Geschichte zu erfüllen. Dieses eher ungewöhnliche Stilmittel hat mich dann aber dennoch sehr interessiert und herausgefordert, zumal mir der ähnlich gestrickte Roman Ruhm von Daniel Kehlmann bereits vor Jahren sehr gut gefallen hat.

 

In wirklich sehr kurzen Geschichten wird ein Abriss von Figuren der Familie Artega sehr grob skizziert, die in der gesamten Welt verstreut leben. Wie bei den meisten lateinamerikanischen Familien üblich, führen Kinderreichtum, Namensgleichheiten von Vater und Sohn, uneheliche Kinder und viele Domestiken in den einzelnen Haushalten zu extrem viel Personal im Roman und ordentlicher Verwirrung. Dem sind der Autor oder der Verlag oder beide gemeinsam sehr genial mit einem übersichtlich strukturierten Familienstammbaum zu Beginn des Buches entgegengetreten, in dem nicht nur alle Verwandtschaftsverhältnisse, sondern auch das Hauspersonal namentlich angeführt sind und zudem auch die Nummer der Kurzgeschichte, in der alle Figuren auftreten.

 

Nach und nach erfährt die Leser*in, indem er/sie immer wieder das Organigramm studiert, was wirklich passiert ist: das Familienoberhaupt José Victoriano Artega wurde entführt und in kleinen Paketen in Einzelteilen der Familie per Boten zugestellt. Ob dieser Bedrohung verlassen alle Verwandten das Land und stieben gleich einem Stern von Mexiko aus in viele Richtungen und Kontinente. Die Kurzgeschichten geben Auskunft, wie die einzelnen Familienmitglieder mit der Tragödie umgehen. Dabei entstehen durchaus auch spannende kuriose Einzelschicksale und Geschichten wie die Story von einem Bären, der sich beim von der Polizei abgesperrten McDonalds an den Muffins gütlich tut, während sich die ehemaligen Hausangestellten, die nun illegal im Lande sind, vor Angst wegen der amtshandelnden Behörden fast in die Hose machen. Oder die Ehefrau Laura, die sich in der Diaspora aus Langeweile in einem Waschsalon einen jungen Mann aufreißt, mit dem sie den ultimativen sexuellen Kick durch eine Fahrt im Wäschetrockner erlebt.

 

Abseits der etwas kuriosen Einzelgeschichten erinnert die Rezeption des gesamten Plots – also die Chronik der gesamten Familie Artega seit der Entführung des Familienoberhauptes Don Victoriano – an ein kniffliges Puzzle, das auf Grund des eingangs erwähnten Organigramms doch recht leicht zusammenzusetzen ist. Mir hat es wirklich viel Spaß bereitet, dieses Bild Stück für Stück zu montieren. Aber ergibt das Puzzle ein schönes detailreiches Gesamtbild? Oder hat es zu viel unstrukturierten flachen blauen Himmel? Das ist hier die Frage, die sich jeder selbst für die eigene Rezeption des Romans beantworten muss.

 

Für mich waren die Einzelfiguren um eine Nuance zu farb- und substanzlos, vor allem auch, weil ich eigentlich viel zu wenige Geschichten über die Familienmitglieder gelesen habe, sehr viele Figuren fehlten völlig. Vielleicht hätten mehr beschriebene Protagonisten in einem längeren und dickeren Buch dieses Familiengeflecht für mich viel dichter, greifbarer und substantieller erscheinen lassen. Da war mir der Autor bei der Konzeption des großen Ganzen einfach ein bisschen zu minimalistisch beim Erzählen, zumal die Gschichtln ja auch sprachlich gut fabuliert sind, vor innovativen Ideen strotzen und wirklich viel Freude machen. In diesem Fall hätte ich einfach gerne noch mehr erfahren.

 

Fazit: Wer das Stilmittel zusammengesetzter Kurzgeschichten zu einem Roman und die Erfahrung des Navigierens durch den Familienstammbaum gleich einem Spiel schätzt, wird seine helle Freude an dem Werk haben. Wer auf tiefe Figurenentwicklung Wert legt und nicht vor dem Autor den Hut ziehen kann, dass er mit einer derart minimalistischen Konstruktion die Familie, das Geschehen und die Verlorenheit der Diaspora nach der Katastrophe ausreichend gut beschreiben konnte, wird ein Haar in der Suppe finden. Mir ging es in beiden Rezeptionsmodellen gleichermaßen so wie beschrieben. Einerseits habe ich diesen minimalistischen Aufbau und den Stilgriff des Romans sehr bewundert, andererseits bin ich traurig, da ich einfach auf sorgfältige Figurenentwicklung Wert lege. Insgesamt auf jeden Fall ein sehr gut konzipiertes, lesenswertes Buch!

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review 2017-07-22 05:45
Die Substanz der Angst
Eine allgemeine Theorie des Vergessens: Roman - José Eduardo Agualusa,Michael Kegler

Am Vorabend der angolanischen Revolution mauert sich die portugiesisch-stämmige Ludovica, nachdem sie einen Einbrecher in Notwehr erschossen und auf ihrer Dachterrasse begraben hat, aus Angst für dreißig Jahre in ihrer Wohnung ein und schottet sich somit in einem selbst gewählten Exil von den Wirren des Jahrzehnte andauernden angolanischen Bürgerkriegs ab.

 

Es klingt fast wie ein utopisches Märchen, könnte aber dennoch wahr sein. Sie braucht ihre umfangreichen Vorräte auf, sammelt Regenwasser, züchtet Hühner auf ihrer Dachterrasse im elften Stock des Hochhauses der Hauptstadt Luanda, schießt Tauben mit einer Steinschleuder und wird auch noch durch einen Feigenbaum versorgt. In wundervoller Manier und mit dem typisch episch breiten, sprachlich gewundenen und mystisch angehauchten lateinamerikanischen Schreib- und Erzählstil wird hier die Geschichte einer einsamen Frau, ihr Überleben, und das von einigen Protagonisten, die direkt und indirekt Einfluss auf das Schicksal von Ludo nehmen und genommen haben, erzählt.

 

Wer Gabriel García Márquez liebt, der wird eine helle Freude an diesem Roman haben, wobei erstens nicht Myriaden von verwirrendem Personal mit nicht mehr nachvollziehbaren Verwandtschaftsverhältnissen in der Geschichte herumwuseln und zweitens der Plot derart nachvollziehbar ist, sodass der Leser den Faden nicht verliert. Mir kommt fast vor, dem Autor Agualusa ist eine kürzere, knackigere, bessere Márquez-Geschichte im Stile des magischen Realismus gelungen als das Original Hundert Jahre Einsamkeit.

 

Am Ende in Form eines grandiosen Finales treten alle Personen, die irgendetwas mit Ludos Schicksal zu tun hatten, als die mittlerweile alte Dame sich endlich anschickt, die Wohnung zu verlassen, gleichzeitig in die Handlung ein und lösen in einem Netzwerk alle Verflechtungen aus Schuld und Sühne der Vergangenheit auf. Dies ist zwar vom Timing her sehr unwahrscheinlich - der Autor benennt sogar eine Kapitelüberschrift als „Die subtile Architektur des Zufälligen“ - aber so sind sie eben, die lateinamerikanischen Geschichten: voller Zufälle, die in ihrer gewollten fiktionalen Konstruktion einen märchenhaften tieferen Sinn ergeben.

 

Nebenbei vermittelte der Roman en passant auch noch sehr viel Wissen und strukturierte Informationen über die Hintergründe, die Beteiligten und die Politik im Bürgerkrieg in Angola. Ich kann mich noch sehr gut an meine Kindheit erinnern, als die Nachrichten voll waren, mit den Namen der ganzen Splittergruppen bzw. Kriegsbeteiligten wie SWAPO, ANC, FNLA, MLPNA, UNITA und wie sie alle hießen, als keiner in Europa mehr nachvollziehen konnte, wer, was, wie, mit wem paktierte und worum es in diesem Krieg eigentlich ging.

 

"Du und Deine Freunde, ihr nehmt immer den Mund voll mit so großen Worten: Soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Revolution, und die Leute vegetieren vor sich hin, werden krank und sterben. Große Reden machen nicht satt. Was die Leute brauchen, ist frisches Gemüse und wenigstens ein Mal in der Woche eine richtige Fischsuppe. Mich interessiert nur die Revolution, die mit einem vernünftigen Essen beginnt."

 

"Magno Moreira Monte kam durch eine Satellitenschüssel zu Tode. Er fiel vom Dach, als er versuchte, sie zu befestigen. Anschließend fiel ihm die Schüssel auf den Kopf. Manche sahen darin eine ironische Allegorie für die neuen Zeiten. Der frühe Agent der Staatssicherheit, letzter Repräsentant einer Vergangenheit, an die sich in Angola nur wenige gerne erinnern, war von der Zukunft erschlagen worden; die freie Kommunikation hatte gesiegt, über den Obskurantismus, das Schweigen und die Zensur; Weltgewandtheit hatte den Provinzialismus erschlagen."

 

Sprachlich-stilistisch bin ich zudem restlos begeistert und auch die subtile Ironie, den Wortwitz und die wundervollen Allegorien habe ich sehr genossen. Alleine wenn man sich das Inhaltsverzeichnis durchliest, sind die Kapitelüberschriften derart poetisch, dass es schon auf Seite drei, ohne jemals einen ganzen Satz des Autors gelesen zu haben, die reine Freude ist. Wenn wir jetzt nicht erst Juli hätten, sondern schon Oktober, würde ich schwören, dass dieses Buch ganz oben auf meine Bestenliste kommt. Soweit möchte ich jedoch noch nicht gehen, denn das Jahr ist noch jung und die wundervollen Bücher sind auch noch nicht alle ausgelesen.

 

Fazit: Ein bisschen lateinamerikanisches Märchen mitten in Afrika, der Überlebenskampf von Rapunzel im selbstgewählten Exil fast schon à la Marlen Haushofer in Die Wand am Dach eines Hochhauses, viel Revolution und politische Wirren, Schuld und Sühne, gute Absichten und böse Taten, viele atemberaubend kuriose Verflechtungen in den Beziehungen der Protagonisten, sehr viel kluge philosophische Bonmots mit Ironie und einer wundervollen Sprache gewürzt - fertig ist dieser köstliche lateinamerikanisch-angolanische Eintopf. Chapeau! Bisher mein Buchstoffhöhepunkt – eine absolute Leseempfehlung von mir.

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review 2015-11-12 06:13
Literarischer Irrweg durch die Strassen von Mexico City
Amuleto - Roberto Bolaño,Heinrich von Be... Amuleto - Roberto Bolaño,Heinrich von Berenberg

Wenn ich mit einem so dünnen Büchlein gar so lange brauche, dann habe ich meistens ein Problem.

Zuerst muss ich gestehen, dass ich ein Faible für lateinamerikanische Autoren habe, seitdem ich Gabriel Garcia Marquez 1982, als er Literaturnobelpreisträger wurde, entdeckt habe. Anschließend habe ich einige Autoren aus diesem Kultukreis regelrecht verschlungen und fast alle genossen. Mir kommt vor, fast alle südamerikanischen Autoren schreiben wunderschön, der Plot und die Sprache haben meist etwas mystisches, die Zeiten in der Handlung verschwimmen, die Figuren sind immer sehr politisch und revolutionär auch wenn sie nur auf die Toilette gehen.

Auch dieses Buch fing grandios gemäß meiner Erwartungen eben auf einer solchen Toilette an. Die junge Frau Auxilio Lacouture wird beim Überfall der Soldaten auf die Universität im Rahmen des Militärputsches übersehen, da sie auf dem Klosett Lyrik gelesen hat. Was für ein Einstieg! Der hat alles! Humor, Intellektualität und Relvolution. Die Künstler-Intellektuellen und Poeten Lateinamerikas sind auch ganz anders, authentischer und interessanter als diese satten Europäer, die mit ihrem Vermögen ein bisschen auf kultiviert und Künstler machen. In Mexiko wird im Namen der Kunst gehungert, ins Gefängnis gegangen, gekämpft sich gelegentlich auch prostituiert und zudem manchmal auch gestorben.

...und dann passierte gar nix mehr: weder eine nennenswerte Handlung noch ein paar revolutionär-philosophische Gedanken von Substanz, sondern nur ständig sich wiederholendes Gebrabbel, Dichteraufzählungen, im Kaffehaus sitzen, Essen, durch die Stadt irren, und die sauschlechte Nacherzählung einer griechisch mythologischen Geschichte, die jeder Belesene in- und auswendig kennt.

Nix, Verzeihung: NADA.

Dies aber in dieser wunderschönen lateinamerikanischen mystischen Sprache, die Zeiten und Orte ineinander fließen läßt. Dafür und für die Toilettenszene gibt es den 2. Stern

Fazit: Entbehrlich - ich hoffe, das epische Meisterwerk von Bolano 2666 hat mehr Substanz :-)

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