Vor meiner Autorinnenchallenge, die ich 2017 startete, hatte ich zeitgenössische französischsprachige Schriftstellerinnen gar nicht auf dem Schirm, was sich für mich persönlich als kapitaler Fehler herausstellte. Mittlerweile habe ich diese eklatante Bildungslücke ein bisschen mit Nothomb und Despentes repariert und wollte mich ob meiner bisherigen begeisterten Eindrücke in nächster Zeit Delphine de Vigan zuwenden. War ich also bisher schon höchst angetan, bin ich nun von diesem Werk total hingerissen, völlig von den Socken. Bei all dem Hervorragenden, was ich bisher in dieser Literaturabteilung erlebt habe, sticht dieser Roman nochmals aus den ganzen Juwelen heraus – für mich fast schon der Kohinoor der 1A-Diamanten. Wer meine bisherigen Rezensionen kennt, weiß, dass ich mich selten vor Begeisterung überschlage, weil ich in ausgezeichneten Romanen immer noch ein kleines Haar in der Suppe finde, insofern zählt nun diese Einschätzung doppelt.
Also was bietet diese unmittelbar vom Standpunkt der Ich-Erzählerin geschilderte Geschichte eigentlich? Sprachlich wundervoll konzipiert ist sie vordergründig ein Psychogramm, das die Beziehung einer Schriftstellerin zu ihrem weiblichen Psychopathen-Stalker-Fan beleuchtet, jedoch steckt noch so viel mehr hinter dieser Story, das ich mir nie hätte träumen lassen. Sorry, dass ich diesmal inhaltlich auch etwas spoilern muss, aber anders kann ich meine Begeisterung einfach nicht begründen, also wer jetzt schon restlos überzeugt ist und sich die Überraschung nicht verderben möchte, sollte ungefähr nach dem nächsten Absatz zu lesen aufhören.
Der ganze Plot hat ursprünglich was von Stephen Kings Misery (She), wurde aber viel subtiler und weniger gewalttätig konzipiert. Die Figur der Autorin Delphine de Vigan versucht nach ihrem letzten, sehr erfolgreichen Roman wieder die Kraft aufzubringen, sich einem neuen Thema und Projekt zuzuwenden. In diesem geplanten Intermezzo zwischen zwei arbeitsintensiven Phasen lernt sie ihren weiblichen Fan L. kennen, der sich Schritt für Schritt ganz gemächlich in ihr Leben schleicht und im Prinzip alles übernimmt. Ganz leise und unterschwellig bedient die kluge, wunderschöne, sehr selbstbewusste L. die Ängste und Unsicherheiten der Schriftstellerin Delphine und fördert sie zutage, ohne in der ersten Phase übergriffig zu agieren. Durch den hintergründig aufgebauten Druck verursacht L. bei der Protagonistin eine veritable Schreibblockade. So ganz nebenbei wird hier erstmals dem Leser auch ein ganz tiefer, großartiger Einblick in den Schreibprozess und in die kreativen Kalamitäten gegeben, in die eine Schriftstellerin geraten kann, nachdem sie einen Bestseller gelandet hat und eigentlich gezwungen ist, auch das nächste Mal annähernd dieselbe Qualität wie beim letzten Meisterwerk abzuliefern. Das hat mich frappant an den Sänger Falco erinnert, der unmittelbar an dem Tag, als er als erster deutschsprachiger Sänger die Nummer 1 in den amerikanischen Billboard Charts erreichte, anstatt zu feiern todunglücklich reagiert hat und mit dem Ausspruch „Ab jetzt kann es nur mehr bergab gehen“ in die Musikgeschichte einging.
Das Schreiben muss eine Suche nach der Wahrheit sein, sonst ist es nichts. Wenn du dich durch das Schreiben nicht kennenzulernen versuchst, wenn du in dir nicht nach dem gräbst, was in dir wohnt, was dich ausmacht, wenn du nicht die Wunden wieder aufreißt, wenn du nicht mit den Händen wühlst und kratzt, wenn du deine Person, deine Herkunft, dein Milieu nicht in Frage stellst, hat es keinen Sinn. Schreiben gibt es nur als Schreiben über sich. Das Übrige zählt nicht.
Nach und nach steigert die Psychopathin L. die Intensität der Interventionen. Sie trennt schrittweise die Figur Delphine von ihrer Umwelt und den Freunden (der Herde), um sie ganz vereinnahmen und besitzen zu können. Dabei vermeidet es L. aber geschickt, einen direkten Kontakt zu Delphines Umfeld aufzubauen, sie agiert immer im Hintergrund. L. bedient in diesem grandiosen Psychogramm vor allem die Ängste der Autorin bezüglich der Schreibblockade, um dann als Retterin aufzuschlagen, indem sie sogar beruflich für die Schriftstellerin einspringt, ihre Korrespondenz erledigt, Absagen erteilt, Vorworte und kleine Texte für andere Autoren verfasst, um Abgabeterminverschiebungen ersucht und Lesungen absolviert. Mittlerweile hat sich L. auch optisch enorm der Protagonistin angenähert und ist sogar bei ihr eingezogen – selbstverständlich nicht unter Zwang, aber Delphine sah sich im Rahmen der Freundschaft moralisch genötigt, L. in einer Notlage zu unterstützen. Alle Autonomiebestrebungen und Versuche, den neuen Roman zu beginnen, zertrümmert L. mit ganz hinterlistigen, viel zu hoch geschraubten Qualitätsansprüchen, die der selbstkritischen Delphine das Gefühl der Unfähigkeit geben. Nach einer Weile ist Delphine so verunsichert, dass sie nicht mal mehr einen Einkaufszettel schreiben kann. Sie spricht auch aus Scham nicht mit ihrem Umfeld über ihre Probleme, einzig L. ist ihre Komplizin in ihrem massiven persönlichen Versagen, dieser Schreibblockade.
Manchmal kommt mir das etwas abgenutzte Bild einer Spinne in den Sinn, die geduldig ihr Netz webt, oder eines Kraken, der mich mit seinen vielen Fangarmen unschlossen hätte. Aber es war etwas anderes. L. war eher eine leichte, durchscheinende Qualle, die sich auf einen Teil meiner Seele gesetzt hat. Die Berührung hat eine Verbrennung hinterlassen, die aber mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Diese Spur ließ mir scheinbar volle Bewegungsfreiheit. Doch mich band viel mehr an sie, als ich mir hätte vorstellen können.
Mehrmals versucht die Protagonistin, die selbstreflektiert natürlich diese ganze ungesunde Umklammerung ihrer Persönlichkeit ziemlich punktgenau analysiert, sich aus dieser Situation zu befreien. Sie probiert, sich zuerst emotional abzugrenzen und trennt sich schließlich von L., indem sie sie aus der Wohnung und aus ihrem Leben weist. Das ganze Szenario eskaliert dann aber trotzdem nach einem Beinbruch, als die Autorin erneut die Hilfe von L. annimmt und im abgeschiedenen Wochenendhäuschen von Delphines Freund Francois – aufgrund des Trümmerbruchs nun auch noch körperlich sehr immobil – dieser Psychopathin vollends ausgeliefert ist. Nun zeigt sich L.s wahres Gesicht. Sie sperrt Delphine ein und vergiftet sie wochenlang schleichend, um sie total unter Kontrolle zu bringen.
Nach einer sehr spektakulären Flucht glaubt man als Leser*in im Finale der Geschichte angekommen zu sein. Aber weit gefehlt! Nun spielt nicht die Figur, sondern die Autorin De Vigan mit der Realität und der Wahrnehmung. Könnte es sein, dass L. gar nicht existiert hat? Dass die Figur nur eine fiktive Manifestation der psychischen Probleme und der Schreibblockade der Protagonistin ist? Viele, zuvor als unwiderrufliche Fakten präsentierte Episoden könnten auch anders interpretiert werden, denn L. ist Delphines Freunden nie begegnet und ihre Spuren hat sie offensichtlich auch noch restlos beseitigt. Abschließend wird noch etwas Grandioses thematisiert. Wie viel der Protagonistin Delphine ist der Autorin de Vigan tatsächlich passiert? Gekonnt wird mit den Gegensätzen von Wahrheit (Biografie) und reiner Fiktion in der Literatur jongliert und beides ineinander aufgelöst. Wieviel Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Lebens von Autor*innen ist in reiner fiktionaler Literatur vorhanden und wie wahr beziehungsweise geschönt ist Biografisches – oder ist es fast gleich? Das ganze Buch kokettiert ja zwangsläufig mit dieser Frage, selbst mein Mann dachte beim ersten Blick auf den Roman, es sei eine Biografie, dabei ist Nach einer wahren Geschichte nur der Titel und nicht die Beschreibung des Werks.
Fazit: Absoluter Buchstoffhöhepunkt 2020! Einzigartig! Ein Teil Thriller, viel Psychologisches und Philosophisches in einer sprachlich grandiosen fiktionalen Geschichte (oder auch nicht?) verpackt. Dieses Werk ist so wundervoll vielschichtig und nicht nur vordergründig, sondern auch auf einer Metaebene so spannend, dass ich eben nur noch hingerissen war.