Die Geschichte ist wie folgt: Eleazard erhält ein altes Buch mit der Bitte, es zu übersetzen und zu kommentieren, damit es in Druck gehen kann. Das Buch ist eine Biographie über Anathasius Kircher, eines Gelehrten aus dem 17. Jahrhundert, geschrieben von seinem Schüler und Begleiter Caspar Schott. Kircher war der letzte große Universalgelehrte unserer Welt, nach ihm kam die Wissenschaft, wie wir sie heute kennen. Aus dem Buch: "Es führt zu rein gar nichts, ihn im Namen der modernen Wissenschaft zu kritisieren. Seine Feldzüge gegen den Krieg, gegen die Zerstreuung, gegen das Vergessen sind wichtiger als die Lösungen, die er anbietet." Ich empfand Kircher erst als Witzfigur, um jetzt, am Ende des Buches, doch riesigen Respekt vor ihm, seiner Arbeit und seiner Weltansicht zu haben.
Der Anfang jeden Kapitels und somit auch ungefähr die Hälfte des Buchs sind diese Tagebuchabschnitte aus und über Kirchers Leben. Der Rest des Buches sind verschiedene Erzählstränge, die in Brasilien spielen und erst nach geraumer Zeit in den 80er Jahren eingeordnet werden können. Diese Erzählstränge laufen wild durcheinander und handeln von:
- Eleazards Arbeit an dem Buch, wobei er eine interessante Italienerin mit einem intelligenten Hintern kennenlernt
- einer paläontologischen Expedition von Eleazards Ex-Frau in den brasilianischen Dschungel, inklusive einer Schießerei mit Drogenbaronen, verfaulenden Beinen und einem Indianerstamm, der seit 300 Jahren keine weißen Menschen mehr sah
- den verstörenden Erlebnissen von Eleazards wunderschöner Tochter, die kokainabhängig ist und sich zu Indios hingezogen fühlt
- einem Gouvernor, der seiner Sekretärin gerne zwischen die Beine greift, während er am Telefon Ränke schmiedet
- einem verkrüppelten Bettler, der in den Favelas lebt und dem Gouvernor des Bundesstaates Rache geschworen hat, weil er ihn dafür verantwortlich macht, dass sein Vater in eine Eisenbahnschiene eingeschmolzen wurde
Alle Erzählstränge finden am Ende zusammen. Jeder einzelne ist überraschend kurzweilig und hätte ein eigenes Buch füllen können. Immer am Ende eines Erzählstrangs bleibst Du voller Spannung sitzen, ärgest Dich, dass nun wieder was anderes anfängt und bist nach einer halben Seite wieder voll im neuen Strang angekommen.
Man sagt über TC Boyle, er sei, was seine Protagonisten beispielsweise in Wassermusik angeht, ein ebenso humorvoller wie gnadenloser Scharfrichter. De Robles ist am Ende von "Wo Tiger zu Hause sind" nur noch gnadenlos: denn eigentlich wird alles ausgemerzt, was in dem Buch vorkommt. Da auch während der Geschichte immer das Böse durchblitzt, würde ich fast sagen, "Wo Tiger zu Hause sind" ist ein Prequel für "2666" von Roberto Bolano. Beide spielen in Südamerika, 2666 in Nordmexiko und ca. 15 Jahre später. Wo Tiger zu Hause sind, in Brasilien in den 80ern. Bei beiden geht es um das Böse in der Welt, und ein bisschen auch darum, wie wir alle dafür verantwortlich sind, das Böse einfach zu ignorieren.
Ich will nicht behaupten, dass Wo Tiger zu Hause sind an 2666 rankommt (welches Buch macht das schon), aber ich nenne TC Boyle mit Wassermusik und Roberto Bolano mit 2666 nicht umsonst in diesem Zusammenhang - das ist in etwa die Kategorie, wo ich De Robles Buch einordnen würde: ganz, ganz oben. Unterhaltsam, literarisch, viel Referenzen auf Geschichte, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Spannend, verstörend und ... auf jeden Fall auch ... lesenswert: man will wissen, wie es weitergeht.
Jetzt kommt der richtige Spoiler-Alarm:
Auf Amazon hat sich ein Kommentar beschwert, dass die Wissenschaftler der Expedition echte Menschen seien. Das heisst, Wissenschaftler dieses Namens gibt es wirklich, allerdings leben die noch alle. Was soll das, fragte der Kommentator.
Am Ende des Tagebuchs beschreibt Caspar Schott den Tod Athanasius Kirchers. Eleazard findet heraus, dass Schott aber bereits 14 Jahre vor Kircher verstarb, das Buch also eine Fälschung sein muss. Eleazard überlegt nun, was das für seine Übersetzung bedeutet - und für das, was er über Kircher gelernt zu haben glaubt. Aus dem Buch:
"Ist die Wahrheit nicht letzten Endes immer dasjenige, was uns hinreichend wahrscheinlich erscheint, um es als solche zu akzeptieren? Der Grenzfall der Zufriedenheit, sagte W.V. Quine. Derjenige [..] der diese Attrape verbrochen hat, kommt der Wahrheit sehr viel näher, als ich es jemals geschafft hätte..." mit seiner kritischen Übersetzung.
Jemand schreibt also ein Tagebuch über Kircher, gibt sich als dessen Schüler aus, ist es aber nicht. Trotzdem entsteht vor uns Kircher so real, dass wir als Leser glauben dürfen, ihn zu kennen. Nun verknüpft De Robles das mit Erzählungen über Brasilien, in denen Wissenschaftler rumlaufen, die es in Wirklichkeit gibt, die hier aber nur fiktive Charakter sind, weil ihr Leben im Buch von ihrem Leben in der Wirklichkeit stark abweicht. Das ist doch dann eine doppelt gespiegelte Analogie, warum das, was der Erzähler uns über Brasilien erzählt, trotzdem relevant ist - ebenso wie das, was Caspar Schott über Anathasius Kircher schreibt. Oder?