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review 2020-01-17 17:37
Es war einmal...!!!
Es war einmal. Neue und klassische Märchen - Jacob Grimm;Wilhelm Grimm;Grimm (Brüder);Grimm (Gebrüder);Heinz Rölleke

german review
audible audiobook

 

Inhalt: Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm: die beliebtesten Klassiker und fünf neu interpretierte Märchen mit Einleitungen bekannter Lesebotschafter.

Lesen ist ein Geschenk: Seit Jahrhunderten bezaubern die Märchen der Gebrüder Grimm Kinder und Erwachsene gleichermaßen. In diesem liebevollen Hörbuch sind die bekanntesten Klassiker versammelt, von Aschenputtel, über Schneewittchen bis zu Rapunzel. Auch fünf neue Märchen voller Zeitgeist, geschrieben von Bestsellerautoren wie Iny Lorenz und Poppy J. Anderson, folgen den Spuren der Gebrüder Grimm. Das Besondere an diesem (Vor)Leseschatz: Prominente Lesebotschafter, u.a. Joey Kelly, Olivia Jones und Jens Lehmann, erzählen einleitend, was das jeweilige Märchen für sie bedeutet und warum es sie bis heute durchs Leben begleitet hat.

 

Meine Bewertung: Fasst nicht die alten Märchen an und modernisiert sie!!!

 

Das war wirklich ein gut gemachtes Buch. Ich mochte es wieder mal die alten Märchen in ihrer Originalfassung zu hören. Allerdings waren die zwei Märchen, Die Bremer Stadtmusikanten und König Drosselbart, schrecklich in ihrer Modernisierung. Sowas braucht man nicht. Da waren mir die neuen Märchen, die neu erfunden waren wirklich um einiges lieber. Auch haben mich die vorworte nicht sonderlich interessiert. Ooops!!!

 
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review 2017-10-28 13:54
Eine bewegende Geschichte über Musik und Bruderliebe
Drei Worte auf einmal - Maria Knissel

Chris ist ein normaler Junge. Er mag Fußball, seine Noten sind ok und endlich darf er wie sein Vater das Saxophon spielen. Immer schaut er zum großen Bruder Klaus auf, der lässig in seinem verrauchten Zimmer sitzt und die Beatles liebt. Doch dann klopft es eines Nachts an der Tür und damit ändert sich das ganze Leben. Klaus hatte einen Motorradunfall und wird nie mehr derselbe sein.

Maria Knissel hat einen ergreifenden Roman geschrieben. Es geht um Behinderung, um Perspektiven und um die menschliche Würde. Gleichzeitig spielt Musik eine wichtige Rolle, die dem tristen Alltag eine schöne Note gibt.

Chris ist ein kleiner Junge als der ältere Bruder Klaus mit dem Motorrad verunglückt. Er weiß noch wie Klaus ganz leger in seinem Zimmer saß, eine Zigarette im Mundwinkel und voller Optimismus in die Zukunft sah. An mehr erinnert er sich von damals nicht. Klaus hat es schlimm erwischt und er hat es grad noch so geschafft. Geistig und körperlich behindert, wird nun das familiäre Leben von seinen Bedürfnissen bestimmt und die Familie ergibt sich der Hilflosigkeit.

Die Geschichte von Chris und Klaus spielt in den 70er-Jahren und beruht auf einer wahren Begebenheit. Zwar sind etliche Elemente erfunden, dennoch gab es Klaus wirklich, der hier stellvertretend für verunfallte Koma-Patienten steht. Dabei erstreckt sich die Erzählung über mehrere Jahrzehnte und man sieht, dass sich bei der Behandlung und Therapie solcher Patienten etliches getan hat.

Zuerst erlebt man die erschreckende Situation, wie aus dem vitalen, großen Bruder mit den langen Haaren ein hilfloses, kahlrasiertes Bündel geworden ist. Der Mund steht offen, Sabber rinnt ihm aus dem Mundwinkel und Chris kann nicht begreifen, was da geschehen ist. 

Mich hat gewundert, dass die Eltern nicht mit ihm über Klaus gesprochen haben. Niemand hat ihm erklärt, was ihm zugestoßen und wie nun mit dem großen Bruder umzugehen ist. Sie haben Chris einfach ausgeklammert und sich nur mehr auf Klaus konzentriert. Chris ist keinesfalls böse auf Klaus, sondern ich hatte das Gefühl, dass er der Einzige ist, der ihn genauso liebt wie er ist. Als Musiker weiß er wie wichtig es ist, zuzuhören und dringt dadurch zu seinem großen Bruder vor.

So spielt die Musik durchgehend eine große Rolle. Chris ist begeisterter Saxofonist und gibt sich im späteren Berufsleben der Musik hin. Dabei ist es immer Klaus, an den er denkt, weil ihm der große Bruder sehr wichtig ist.

Die Musik an sich sind die wenigen fröhlichen Momente, denn der gesamte Roman ist von einer schwermütigen Atmosphäre durchtränkt: die Mühe der Eltern, das harte Leben, das dadurch entsteht, und die Hilflosigkeit gegenüber der Behinderung, mit der sie umgehen müssen. 

Maria Knissel geht vor allem auf den Umgang mit behinderten Menschen ein. Sie zeigt, dass sie für die Gesellschaft häufig gar nicht mehr ‚menschlich‘ sind. Sie werden selten persönlich angesprochen oder ihnen wird kaum echte Hilfestellung gewährt. Es gilt, das ‚Problem‘ so rasch wie möglich aus den Augen zu schaffen, weil sich niemand damit auseinandersetzen will.

Chris begehrt sein Leben lang gegen diese Einstellung auf und schafft es, dass sich Klaus zumindest in seiner Gegenwart als Mensch fühlen kann.

„Drei Worte auf einmal“ ist daher eine bewegende Geschichte über Musik, Behinderung und Bruderliebe, die ich interessierten Lesern ans Herz legen kann.

Source: zeit-fuer-neue-genres.blogspot.co.at
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review 2017-10-05 19:22
Das Morden muss aufhören
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch: Essays - Cem Özdemir,Aslı Erdoğan

Wie gut kennt ihr euch mit der aktuellen politischen Situation in der Türkei aus? Versteht ihr, was dort zurzeit passiert? Begreift ihr, warum der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf hervorragende Zustimmungswerte in der Bevölkerung blickt, obwohl ihm von westlichen Ländern der Status eines Diktators und menschenrechtsverletzende Politik vorgeworfen wird?
Ich habe die Nachrichten aus der Türkei stets aufmerksam verfolgt, habe versucht, zu erfassen, was in diesem Land am Bosporus geschieht. Ich habe die Bilder der Putschnacht vom 15. zum 16. Juli 2016 gesehen und den Prozess gegen Jan Böhmermann beobachtet. Ich erlebte, wie die Meinungsfreiheit mehr und mehr eingeschränkt wurde. Immer öfter trudeln Meldungen von verhafteten Deutschen ein, denen vorgeworfen wird, eine terroristische Vereinigung zu unterstützen. Sie sitzen heute in den gleichen Gefängnissen ein, in denen türkische Akademiker_innen, Journalist_innen und unbequeme Staatsangestellte inhaftiert sind. Ich setzte mich mit diesen Nachrichten auseinander – doch völlig verstanden habe ich sie nicht. Keine der Mitteilungen vermochte es, mir zu erklären, wieso sich die Türkei plötzlich in einen rückständigen Staat verwandelt und Niemand. Etwas. Dagegen. Unternimmt.

 

Dieser Eindruck täuscht. Es gibt sehr wohl zahllose Menschen, die sich gegen die Regierung Erdoğans auflehnen – wir kriegen das hier in Deutschland nur nicht ausreichend mit. Die Verhaftungen erscheinen uns willkürlich, dabei sind sie für den türkischen Präsidenten ein praktikables Mittel, seine politischen Kritiker_innen mundtot zu machen. Eine von ihnen ist die Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die bis August 2016 für die kurdisch-türkische Zeitung Özgür Gündem arbeitete. Sie wurde verhaftet, weil ihr „Propaganda für eine illegale Organisation“, „Mitgliedschaft bei einer illegalen Organisation“ und „Volksverhetzung“ vorgeworfen wurde. Ihre Kolumnen und Essays sind hochpolitisch; sie spricht sich seit Jahren aktiv für die kurdische Minderheit in der Türkei aus und verarbeitet ihre Empfindungen literarisch. Ihr Schaffen ist preisgekrönt, doch da sie regierungskritisch ist, kann sie ihre Texte seit ihrer Verhaftung nicht mehr in der Türkei veröffentlichen. Stattdessen nahm sich der deutsche Verlag Knaus ihren Werken an. Im März 2017 erschien dort eine Sammlung ihrer Essays unter dem Titel „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, angedickt mit einem Vorwort des türkischstämmigen Bundesvorsitzenden der Partei Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir.

 

Ich stolperte auf der Arbeit über dieses Buch. Einige von euch wissen mittlerweile, dass ich bei der größten deutschen überregionalen Tageszeitung mit den vier Buchstaben angestellt bin. Ja, genau die. In den Tiefen unseres Systems entdeckte ich einen Artikel, der die bald anstehende Veröffentlichung der Essay-Sammlung thematisierte und das Vorwort von Cem Özdemir abbildete. Ich las es und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass mir dort jemand wirklich begreiflich machen konnte, warum sich die politische Situation in der Türkei in einer schwer aufzuhaltenden Abwärtsspirale befindet und wieso Präsident Erdoğan von der Mehrheit seines Volkes glühend verehrt wird, obwohl er aus deutscher Sicht ein Despot ist. Ich sah eine Möglichkeit, endlich Antworten auf all meine Fragen zu erhalten, den historischen Zusammenhang zu verstehen und darüber hinaus der Stimme einer Systemgegnerin zu lauschen. Der Knaus Verlag gehört zur Random House Gruppe, also bat ich um ein Rezensionsexemplar von „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ beim Bloggerportal von Random House. Meine Anfrage wurde angenommen.

 

Ihr könnt euch sicher denken, dass diese Rezension angesichts des Buches, das sie bespricht, meinen gewöhnlichen Richtlinien nicht folgen kann. Dieser Text wird keine Charakteranalysen enthalten, ich werde kein Wort über Worldbuilding oder Spannungsbögen verlieren. Tatsächlich weigere ich mich sogar, für diese Essay-Sammlung Sterne zu vergeben, weil das meiner Meinung nach nicht angemessen wäre. In dieser Rezension geht es um Politik und vermutlich wird es die schwierigste Besprechung, die ich jemals geschrieben habe. Ich werde nicht vollkommen objektiv bleiben können. Ich muss Stellung beziehen. Das hier wird unangenehm, schmerzhaft und bedrückend realitätsnah. Wer darauf keine Lust hat, sollte genau jetzt aufhören zu lesen. Wer hingegen einen ersten Schritt hin zu einem umfassenderen Verständnis der politischen Situation in der Türkei wagen möchte, sollte meinen Worten über Aslı Erdoğans Essays Aufmerksamkeit schenken.

 

Wie bereits erwähnt, beginnt „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ mit einem Vorwort von Cem Özdemir. Für mich war dieses Vorwort die Voraussetzung, das Buch überhaupt lesen und begreifen zu können. Özdemir rollt darin die politische Geschichte der Türkei auf und erklärt, in welchem Klima Aslı Erdoğan schreibt. Er beschreibt, wie Recep Tayyip Erdoğan 2003 erst Ministerpräsident und 2014 Präsident wurde, wie sich seine Politik über die Jahre veränderte, welche Rolle die Kurdenfrage für die Türkei spielt und wann sich der endgültige gesellschaftliche Bruch vollzog, dessen Folgen wir bis heute in den Nachrichten verfolgen können. Özdemir fasst sich kurz, er beschränkt sich auf Fakten und vermeidet Spekulationen, was ihn in meiner Achtung deutlich steigen ließ. Niemals verliert er Aslı Erdoğans Position innerhalb der türkischen Konflikte aus den Augen und stellt stets den Bezug zu ihren Texten her. Sein Vorwort ist eine perfekte Vorbereitung auf die Lektüre ihrer Essays.

 

Nichtsdestotrotz sollten sich Einsteiger_innen in die Thematik – so wie ich es war – darauf einstellen, dass zusätzlicher Rechercheaufwand notwendig ist. Cem Özdemir bezieht sich auf Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die mehr oder weniger an mir vorbeigegangen sind. Seine Erläuterungen zu den Protesten im Gezi-Park 2013 waren mir beispielsweise zu knapp, sodass ich Google und Wikipedia zu Rate zog. Dadurch erkannte ich schnell, dass die Geschichte der Türkei seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches kompliziert und komplex ist. Ich war verblüfft, wie viele Querverweise so ein unschuldig daherkommender Wikipedia-Artikel enthalten kann. Ich begann zu ahnen, dass ich im Verlauf der Lektüre einiges würde nachschlagen müssen. Ich entschied, trotzdem mit den Essays von Aslı Erdoğan anzufangen, weil ich nicht auf blauen Dunst hin, sondern gezielt recherchieren wollte.

 

„Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ enthält 29 Texte der verfolgten Autorin, die sich in Länge, Intensität und Metaphorik stark unterscheiden, thematisch jedoch stets um die reale Ungerechtigkeit der türkischen Politik kreisen. Einige Essays umfassen über 10 Seiten, andere wiederum nur zwei bis drei Seiten. Einige sind leicht zu deuten, andere bieten gewaltigen Interpretationsspielraum. Sie alle vermitteln brutal ehrliche Emotionen, die von Wut, Trauer, Schmerz, Zynismus und Resignation bis hin zu Hoffnung und eisernem Kampfeswillen rangieren. Ich bilde mir nicht ein, jeden Text gänzlich verstanden zu haben, doch Erdoğans unnachahmliche Fähigkeit, ihre Gefühle kristallklar, nachvollziehbar und eindringlich in Worte zu fassen, berührte mich zutiefst. Dieses Buch hat die Grundfesten meiner Seele erschüttert. Es beschäftigte mich bis in meine Träume. Es fällt mir schwer, zu beschreiben, was während der Lektüre mit mir geschehen ist, weil Aslı Erdoğan jegliche natürliche Distanz zwischen Schriftsteller_in und Leser_in niederreißt und mich uneingeschränkt empfinden ließ, was sie selbst empfindet. Poetische Metaphern und schonungslose Direktheit zeichnen gemeinsam das Bild einer Frau, die um ihr geliebtes Land trauert, die sich mutig Leid und Unrecht entgegenstellt und sich weigert, zu schweigen, obwohl ihre selbstverständliche Verpflichtung zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zum Frieden ihr Leben bedroht. Aslı Erdoğan ist ein Vorbild, weil sie mit Leib und Seele für ihre Überzeugungen kämpft. Sie ist eine Inspiration, da sie aufsteht, sich Gehör verschafft und die Konfrontation sucht, obwohl auch sie strauchelt und den Glauben an die Hoffnung zu verlieren droht. Angesichts der schier übermächtigen Ungerechtigkeit in der Türkei ist das kein Wunder und nur allzu menschlich.

 

Ich hatte keine Ahnung, wie prekär die Lage in der Türkei seit Jahrzehnten ist und wie sehr Teile der Bevölkerung unter der repressiven Politik leiden. Das Land ist tief gespalten, es herrscht Chaos auf jeder Ebene und das Volk kommt einfach nicht zur Ruhe. Ich kann mir nicht vorstellen, in dieser permanenten Atmosphäre von Gewalt, Willkür und Unterdrückung zu leben. Rassismus, Nationalismus und Ignoranz prägen den Alltag. Erdoğan bemüht häufig den Vergleich zu Nazi-Deutschland, um die Situation zu beschreiben und erreichte mich somit auf einer Basis, die ich problemlos verstehen konnte. Die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Die systematische Drangsalierung der Kurden, das Leugnen des Völkermords an den Armeniern, all der Hass und die „Für uns oder gegen uns“ – Philosophie der Regierung wecken durchaus düstere Erinnerungen. Ich frage mich, ob Präsident Erdoğan deshalb immer wieder Nazi-Vergleiche im Zusammenhang mit seinen (deutschen) Kritikern nutzt. Handelt es sich um eine Überkompensation? Ist ihm auf irgendeiner Ebene bewusst, dass die Methoden seiner Regierung Hitlers Methoden gar nicht so unähnlich sind?

 

Warum die Kurden in der Türkei mit aller Gewalt unterdrückt werden, musste ich nachschlagen. Ich möchte nicht behaupten, dass ich die Gesamtheit des Konflikts nun überblicken kann, doch zumindest habe ich begriffen, dass dieser historisch im Wunsch der Kurden nach Autonomie bedingt ist. Die Angst vor einer Abspaltung des kurdischen Volkes führte zu grausamen, blutigen Auseinandersetzungen, für die es nur ein einziges passendes Wort gibt: Krieg. Die Gräuel, die ihnen angetan wurden, sind unbeschreiblich. Ich kann nachvollziehen, dass lebendig verbrannte Kinder, Massenmorde und skrupellose Überfalle auf wehrlose Siedlungen einige Kurden dazu motivierten, die PKK zu gründen, die selbst hier in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuft wird. Ich verurteile ihren gewalttätigen Widerstand zutiefst, das möchte ich ganz klar betonen, doch ich verstehe, warum ihr Zorn alle Mittel zu rechtfertigen scheint.
Ich bin nicht sicher, inwieweit Aslı Erdoğan mit der PKK sympathisiert. Als Fürsprecherin der Kurden stimmt sie mit einem Teil ihrer Ziele vermutlich überein, aber ob sie auch ihre Methoden unterstützt, konnte ich aus ihren Essays nicht herauslesen. Meist wirkte es, als sei sie grundsätzlich pazifistisch eingestellt, als lehne sie den Teufelskreis der Gewalt ab und bevorzuge den unblutigen, friedlichen Widerstand, wie er beispielsweise von den Samstagsmüttern verkörpert wird, denen Erdoğan einen gesamten Text widmet. Nichtsdestotrotz hatte ich das Gefühl, dass sie, von Wut und Trauer überwältigt, hin und wieder mit dem Terrorismus der PKK kokettiert. Ich kann diesen Eindruck nicht konkret belegen, er ist eine rein intuitive Vermutung. Ich kann mir vorstellen, dass sie in der Tiefe der Nacht und ihrer Verzweiflung manchmal glaubt, dass Gewalt die einzige Sprache ist, die die türkische Regierung versteht. Doch graut der Morgen, wird sie erneut von Rationalität und Pazifismus gelenkt. Ich kann ihr diese seltenen Momente der zornigen Schwäche nicht übelnehmen, denn ich glaube nicht, dass sie sich jemals der PKK anschließen würde.

 

Der osmanische Genozid an den Armeniern ist ein weiteres Thema in Aslı Erdoğans Essays, das ich recherchieren musste. Vielleicht erinnert ihr euch, dass im Juni 2016 im Deutschen Bundestag die Armenien-Resolution verabschiedet wurde, woraufhin sich die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei drastisch verschlechterte. Das liegt daran, dass Deutschland mit dieser Resolution das Leid, das dem armenischen Volk im Ersten Weltkrieg angetan wurde, erstmals als Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 anerkannte, während die Türkei ihre Schuld bis heute leugnet. Als ich den Wikipedia-Artikel zu dem Genozid las, war ich entsetzt, dass offenbar alle Länder darüber diskutieren müssen/mussten, ob es sich um einen Völkermord handelte oder nicht, obwohl dieser hervorragend dokumentiert ist. Ich weiß nicht, was es da zu diskutieren gibt. Für Aslı Erdoğan ist die Weigerung ihres Landes, die Verantwortlichkeit für das hunderttausendfache, wenn nicht gar millionenfache (die Zahlen variieren) Morden zu akzeptieren, eine Beleidigung der Opfer, eine Herabsetzung ihres Leids und ihrer Verluste. Sie ruft unmissverständlich dazu auf, das Leugnen zu beenden, sich der Vergangenheit zu stellen und die Wahrheit zu verbreiten. Sie erfasst die Emotionen der Opfer sensibel und beschreibt eingängig, wie schwierig und vielschichtig das aktuelle Verhältnis zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk ist.

 

Wenig überraschend behandelt Aslı Erdoğan darüber hinaus eine Thematik, die sie ganz persönlich betrifft: die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft. Es ist kein Geheimnis, dass Frauen in der türkischen Politik katastrophal unterrepräsentiert sind und Gewalt gegen Frauen durch zunehmend konservative Strömungen eine traurige Renaissance erlebt. Erdoğan reflektiert die lächerlich paradoxe Einstellung, die die Frau einerseits als „heiliges Gefäß des Lebens“ betrachtet und andererseits ihren Wert als Mensch, als Persönlichkeit aberkennt. Sie prangert die vollkommende Reduktion auf die „biologische Funktion“ an und kritisiert die pure Heuchelei von Solidaritätsbekundungen am internationalen Frauenkampftag. In ihren Metaphern spielen Frauen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Sie wird nicht müde, das Leid zahlloser Mütter zu betonen, die ihre Kinder in sinnlosen Akten der Gewalt verloren und oft nicht einmal wissen, was mit ihnen geschehen ist. Sie sieht Frauen schweigend protestieren, sieht Frauen, die sich mutig die Hände reichen und vereint gegen Grausamkeit und Unrecht kämpfen, Frauen wie die 28-jährige Studentin Kader Ortakaya, die 2014 für ihren Versuch, sich dem kurdischen Widerstand gegen den IS in Syrien anzuschließen, erschossen wurde. Sie schaut den Menschen – nicht nur Frauen – offenen Herzens ins Gesicht und sieht, wie wenig nötig ist, um sie zu verbinden. Ein Blick, ein Wort, eine Hand, die eine Brücke bildet – Frieden ist eine menschliche Fantasie und solange sie in unseren Köpfen existiert, kann sie Realität werden. Es liegt in unserer Macht. Es gibt Hoffnung. Ich könnte in Tränen ausbrechen, während ich diese Worte tippe.

 

Aslı Erdoğan ist eine herausragende Autorin. Sie ist eine Autorin ohne Furcht vor Emotionen, ohne Angst vor dem weißen, leeren Blatt und ohne Skrupel, genau das niederzuschreiben, was sie in ihrem Inneren bewegt. Ich bin ihr zutiefst dankbar, dass sie mich auf eine Reise in das Herz einer türkischen Seele einlud und in mir Verständnis und Erkenntnis erblühen ließ. Die Lektüre von „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ war sowohl intellektuell als auch emotional extrem anstrengend. Ich denke, ich habe das Buch eigentlich nicht gelesen, ich habe es durchgearbeitet. Ich habe mich bemüht, jedes Essay separat und im Kontext der Sammlung zu betrachten und so viel wie möglich aus ihnen mitzunehmen. Das Ergebnis war den Aufwand wert. Wer wirklich etwas über die türkische Realpolitik der Moderne lernen möchte, kann sich Aslı Erdoğan zweifellos anvertrauen, trotz des erheblichen Rechercheumfangs, den dieses Vorhaben bedeutet. Ich habe während der Lektüre ständig Fakten nachschlagen müssen, deren Kenntnis Erdoğan voraussetzt. Es hat mir nicht das Geringste ausgemacht. Politik besteht aus mehr als Zahlen und Daten. Politik hat, so schwer es zu glauben sein mag, immer eine menschliche Ebene, die wir normalerweise ausblenden, wegschieben und nicht an uns heranlassen (zumindest, wenn es um die Politik anderer Länder geht). Aslı Erdoğan zerrt diese menschliche, greifbare Ebene ins grelle Licht, weshalb ihre Essay-Sammlung äußerst schmerzhaft, unangenehm und aufwühlend ist. Ihren Worten kann sich meiner Meinung nach niemand verschließen. Niemand kann die Schultern zucken, wenn sie von Folter, Mord, Unrecht und Krieg schreibt und behaupten, das ginge ihn/sie nichts an.

 

Müsste ich ein Fazit zu „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ formulieren, so wäre es dieses: so geht es nicht weiter. Wir dürfen Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht gewähren lassen. Wir dürfen nicht stillschweigend hinnehmen, wie viel Elend seine Regierung anrichtet. Ich weiß, dass das türkische Volk stolz ist und ich vermute, dass sie ihren politischen Führer für das Gefühl der Stärke, welches er ihnen vermittelt, verehren. Aber nicht auf dem Rücken von tausenden Toten. Der Preis ist zu hoch. Das gilt selbstverständlich auch für die PKK und alle anderen Vereinigungen, die Gewalt als adäquates Mittel betrachten, um ihre Ziele durchzusetzen. Das Morden muss aufhören. Der Teufelskreis muss durchbrochen werden. Frieden kann nicht auf einem blutgetränkten Boden errichtet werden. Ich wünschte, die deutsche Regierung würde aufhören, die Lage zu beschönigen und zu verschleiern. Ich wünschte, wir würden uns nicht von Präsident Erdoğan mit der Androhung einer weiteren unkontrollierten Flüchtlingswelle erpressen lassen. Menschenrechtsverletzungen müssen publik gemacht und scharf verurteilt werden, vollkommen egal, wo auf der Welt sie stattfinden und wer dafür verantwortlich ist. Wir dürfen nicht schweigen, nur weil es uns politisch in den Kram passt. Aslı Erdoğan schweigt schließlich auch nicht. Sie sollte uns allen ein Vorbild sein.

 

Diese Rezension war harte Arbeit. Ich hoffe, ihr versteht, warum ich gern auf eine Sternevergabe verzichtet hätte. Falls euch meine Worte roh und ungeschliffen erscheinen, so ist das Absicht. Ich habe davon abgesehen, meinen Text Korrektur zu lesen. Es war mir wichtig, euch meine Emotionen ungefiltert, unpoliert zu vermitteln. Ich nehme mir ein Beispiel an Aslı Erdoğan.
Ich werde in der näheren Zukunft nicht in die Türkei reisen, obwohl ich überzeugt bin, dass es wunderschönes, faszinierendes Land ist. Nicht nur, weil ich es moralisch-politisch nicht vertreten kann, sondern auch, weil ich befürchte, damit meine Freiheit aufs Spiel zu setzen. Wer weiß schon, ob eine positive Rezension zu Aslı Erdoğans „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ heutzutage nicht bereits ausreicht, um in einem türkischen Gefängnis zu landen.

 

Vielen Dank an den Knaus Verlag und das Bloggerportal von Random House für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/10/04/asli-erdogan-nicht-einmal-das-schweigen-gehoert-uns-noch
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review 2017-04-17 00:00
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch: Essays
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch: Essays - Aslı Erdoğan,Cem Özdemir Ausführliche Rezension:
https://nouw.com/cwidmann/eine-stimme-aus-der-turkei-29814065
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review 2016-10-12 20:18
Einfach toll und ergreifend geschrieben!
Crenshaw - Einmal schwarzer Kater - Katherine Applegate,Brigitte Jakobeit

Inhalt:

 

Crenshaw ist alles andere als ein gewöhnlicher Stubenkater. Nicht nur sein Name ist ungewöhnlich, nein, der treue Weggefährte liebt lila Geleebohnen, kann sprechen, ist riesig und vor allem ist er für alle unsichtbar – außer für Jackson. Doch sein Erscheinen kommt Jackson gerade absolut nicht recht, denn er hat derweil ganz andere Sorgen.

Seine Eltern sind in Not und so ist das Geld knapp. Cornflakes gehören zum täglich Brot und dies obwohl seine Mutter mehrere Teilzeitarbeiten gleichzeitig am Tag zu stemmen vermag und Flohmarktverkäufe ein kleines Taschengeld in die Haushaltskasse beisteuern.

 

Doch genau in dieser schweren Zeit ist ausgerechnet Crenshaw für Jackson der einzige Lichtblick in der düsteren Zeit. Er bringt ihn zu lachen, wenn es im eigentlich zum Weinen zu Mute ist und spendet ihm Mut, die einzig richtige Entscheidung zu treffen, welche so offensichtlich und doch befremdlich auf den Schultern von Jackson lastet.

 

Meine Meinung:

 

Jeder von uns hatte bestimmt in seiner Kindheit einen imaginären Freund, der in schweren Situationen einem das Ohr zu zuhören spendet, welches man gerade braucht oder einem zum Lachen brachte, wenn man den Tränen sehr nahe ist. Vielleicht war es für uns nicht so intensiv und ausgeprägt wie bei Jackson, doch genau deshalb fühlt man sich in der Geschichte sehr wohl, weil man sich ein Stückchen aufgehoben fühlt.

 

Das Thema um den imaginären Kater und Jackson ist herzzerreißend und sehr gefühlvoll erzählt. Es zeigt dem Leser wie schwer es ist in Armut, Angst und Hoffnungslosigkeit aufzuwachsen und trotzdem das Positive im Leben zu sehen und zu schätzen.

 

Vielleicht kann man sich selbst nicht vorstellen, wie es sich anfühlt an diesem Punkt im Leben angekommen zu sein, aber Katherine Applegate hat es so deutlich spürbar, ergreifend, schmerzlich und realistisch dargestellt, dass man nicht drum herum kommt mit dem Gedanken zu spielen:“Was wäre wenn und wie würde ich damit umgehen?“

Oft kämpfte ich mit den Tränen, da mir Jackson und seine kleine Schwester sehr berührten, und im nächsten Moment musste ich schmunzeln, da Crenshaw es im Nu schaffte aus der aussichtslosten Situation, dass positive herauszufischen und es einem so nahe zu bringen, dass man daran glauben möchte. Crenshaw ist zwar aus den Gefühlen und Wünschen von Jackson entsprungen und doch wirkt er so realistisch und wundervoll, dass man sich selbst solch einen Freund an seiner Seite wünscht.

 

Das Cover spricht für sich selbst. Es ist liebevoll gestaltet und hinterlässt einen kleinen Eindruck über die beiden tollen Protagonisten an deren Seite man durch die Handlung schreitet.

 

Fazit:

 

Eine wundervolle, ehrliche und sehr traurige Geschichte, die mich auf vielerlei Ebenen berührte und zum Nachdenken anregte. 

Source: www.fischerverlage.de/buch/crenshaw-einmal_schwarzer_kater/9783737354271
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