Wolfgang Bellaire erzählt in "Um Mitternacht" eine kindgerecht spannende, gruselige Geschichte voller origineller Ideen und bunter Charaktere. Nach Angabe des Verlags ist das Buch für Kinder ab 12 Jahre geeignet, ich persönlich würde es aber auch schon für junge Leser ab 10 empfehlen. Im Zweifelsfall würde ich Eltern raten, schnell einmal ganz ans Ende zu blättern und sich anzuschauen, wie die Sache für Herrn Tschellebi ausgeht - denn das ist bestimmt die gruseligste Szene im ganzen Buch, und wer diese seinen Kindern zutraut, kann sie sicher auch den Rest bedenkenlos lesen lassen!
Meine Meinung etwas ausführlicher:
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die 12-jährige Marieke und ihre Zwillingsschwester Jorieke, sowie ihr kleiner Bruder Nils. Später kommt dann noch Lasse dazu, ein Junge in Mariekes und Joriekes Alter, der ihnen bei ihrem Abenteuer zur Seite steht. Dem Autor ist es wunderbar gelungen, jedem der Kinder eine ganz eigene Persönlichkeit zu geben, die einem aus dem Buch geradezu entgegenspringt. Marieke ist altklug und ernsthaft, aber auch mutig. Jorieke kümmert sich gerne um andere Menschen und ist etwas zurückhaltender und ängstlicher als ihre Schwester. Nils ist ein frecher kleiner Rabauke, der eine Menge Unsinn anstellt, aber auch immer wieder den Tag rettet. Lasse kann für sein Alter schon super auf sich selber aufpassen, ist hilfsbereit und entschlossen, aber auch ziemlich faul und schlampig...
Dazu kommen noch eine ganze Reihe schillernder Nebencharaktere, wie der große Bösewicht Tschellebi, der skrupellos Menschen ins Unglück reisst, und dessen schrulliger Gegenspieler Dr. Falko Falterbein, der in einer Wohnung voller unsinniger Warnschilder auch schonmal im Taucheranzug am Backofen steht.
Die Bösen in dieser Geschichte sind sehr, sehr böse und haben auch keine erkennbaren guten Eigenschaften. Das gibt dem Ganzen etwas Märchenhaftes (die böse Hexe hatte schließlich auch keine drollige Vorliebe für süße Kätzchen), und für ein Kinderbuch dieser Art finde ich das auch völlig ok, aber es macht das Buch für erwachsene Leser meiner Meinung nach etwas weniger interessant. Aber wir sind ja auch nicht die Zielgruppe!
Die Eltern kommen am Anfang nicht sonderlich gut weg: sie sind gereizt, drohen sogar mit Ohrfeigen oder rufen das Jugendamt an, um sich nach Pflegeeltern zu erkundigen... Aber das unterstreicht sehr deutlich, unter wieviel Stress diese fünfköpfige Familie steht, die von Hartz-IV leben muss, wobei das Geld hinten und vorne nicht reicht. Ich fand sehr gut, dass so etwas auch mal in einem Kinderbuch angesprochen wird, denn schließlich müssen viele, viele Kinder in genau dieser Situation leben! (Im Laufe des Buches gibt es auch noch eine andere Erklärung für das unschöne Verhalten der Eltern, aber das will ich natürlich noch nicht verraten.)
Für Humor sorgt vor allem der kleine Nils, denn der packt jede Situation beherzt und rotzfrech an und benimmt sich dabei öfter wie ein kleiner Westentaschenrambo - ich konnte ihn richtig vor mir sehen, wie er stolz und selbstbewusst durch die verschiedenen Szenen marschiert und die Erwachsenen und seine älteren Schwestern manchmal ganz schön alt aussehen lässt! Eigentlich ist er für mich der heimliche Held der Geschichte, denn ohne ihn wären die anderen mehr als einmal ganz schön aufgeschmissen gewesen.
Die Geschichte wird schnell spannend, denn schon bald finden die Kinder sich in einer Situation wieder, in der Erwachsene ihnen keine Hilfe sind und sie ganz alleine einen Weg finden müssen, ihre Eltern wiederzubekommen. Und das gehen sie mit viel Tatenkraft, Einfallsreichtum und Mut an, was sie zu kleinen Helden macht, mit denen sich junge Leser sicher identifizieren können! Bis zur großen, dramatischen Konfrontation am Schluss steigt die Spannung immer weiter an...
Nur manchmal flaute sie für mich etwas ab, denn es passieren sehr, sehr viele praktische Zufälle. Die Kinder müssen in ein Gebäude? Jemand hat vergessen, die Tür abzuschließen. Sie müssen auf der Flucht eine Unterkunft für die Nacht finden? Sie entdecken ein (ebenfalls nicht abgeschlossenes) Gartenhäuschen, in dem praktischerweise nicht nur Schlafsäcke liegen, sondern auch etwas zu Essen auf dem Tisch steht. Da wäre es für mich aufregender gewesen, wenn die Kinder so richtig ihren Grips hätten anstrengen müssen, um diese Hindernisse zu bewältigen!
Und an einer Stelle passiert ein so unglaublicher Zufall, dass es für mich einfach nicht mehr glaubhaft war. Auch das Ende hat mich nicht 100%ig überzeugen können, da hatte ich den Eindruck, jetzt muss einfach alles glatt aufgehen.
Der Schreibstil liest sich flüssig, unterhaltsam und kindgerecht, auch wenn er in meinen Augen ein paar kleine Schwächen hatte.
Ein wenig gestört hat mich z.B., dass immer wieder Floskeln verwendet werden wie "wer nicht hören will, muss fühlen" oder "dann ist Schluss mit lustig" - ja, man benutzt solche Floskeln wirklich tagtäglich in Unterhaltungen, und in Maßen sind sie daher realistisch und können einen Dialog auflockern, aber hier häufen sie sich für meinen Geschmack einfach zu sehr. Auch Sprecherverben werden sehr zahlreich eingesetzt. Gut fand ich, dass der Autor dabei auf Variation geachtet hat, aber dennoch bremste diese Anhäufung von "sagt sie", "meint er" oder "antworte ich" doch etwas den Lesefluss aus.
Die Kinder sprechen für meinen Geschmack auch gelegentlich zu erwachsen, aber im Großen und Ganzen hat der Schreibstil mir dennoch gut gefallen.
Fazit:
Ein wunderbar gruseliges Abenteuer für junge Leser, das einfallsreich und spannend die Geschichte vierer Kinder erzählt, die ihre Eltern (und andere Erwachsene) ganz alleine vor dem bösen Zauberer Tschellebi retten müssen. Das liest sich meiner Meinung nach trotz kleiner Schwächen super, und ich würde es Kindern ab 10 vorbehaltslos empfehlen, denn diese Altergruppe kann sich sicher mit den mutigen jungen Helden sehr gut identifizieren.