Nachts kommen die Barbaren. Bis dahin müssen die Tore verrammelt und die Ziegen in die Stadtmauern zurückgeholt worden sein. Denn angeblich haben die Nomaden in den Wüsten des "Reichs" nichts als Mord und Plünderung im Sinn, und kürzlich soll ein Mädchen von ihnen vergewaltigt worden sein....
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Nachts kommen die Barbaren. Bis dahin müssen die Tore verrammelt und die Ziegen in die Stadtmauern zurückgeholt worden sein. Denn angeblich haben die Nomaden in den Wüsten des "Reichs" nichts als Mord und Plünderung im Sinn, und kürzlich soll ein Mädchen von ihnen vergewaltigt worden sein. Deshalb haben die Kinder schlechte Träume, aus denen sie schweißgebadet erwachen. "'Die Barbaren sind da!', schreien die Kinder und sind nicht mehr zu beruhigen". Eigentlich sind es also nur die eigenen Ängste und Hirngespinste, die die Figuren in J. M. Coetzees Roman haben Gestalt werden lassen -- Projektion nennt das die Psychologie. Den "Barbaren" indes hilft das wenig: Wer in Gefangenschaft gerät, wird gnadenlos gefoltert. So soll seine Schuld bewiesen und in den unter Schmerzensschreien erzwungenen Geständnissen der "Ton der Wahrheit" hörbar werden. Nur im Magistrat der Stadt (dem Ich-Erzähler) finden die Verfolgten schließlich einen Fürsprecher. Als er einem misshandelten Mädchen Unterschlupf gewährt und dadurch in Verruf gerät, muss er erkennen, das es allein der Willkür des Regimes obliegt, wer zum Barbaren gestempelt wird und wer nicht. Coetzees Roman erschien erstmals 1980 im Original und wurde nach den Erfolgen des südafrikanischen Schriftstellers (etwa mit Schande) nun endlich ins Deutsche übersetzt. Zeitweise erinnert er an Dino Buzzatis grandiose Romanfantasie Die Tartarenwüste, in der ebenfalls eine Armee am Rand der Wüste auf die Ankunft der Tartaren warten muss. Ansonsten aber ist Coetzee, der zu den bedeutendsten Autoren seiner Heimat gehört, wieder einmal eine eigenständige, bedrückende und atmosphärisch dichte Parabel über Macht und Ohnmacht der Gewalt und ihrer Opfer gelungen. Wie später im Roman Leben und Zeit des Michael K. (1983), der wie Schande den renommierten Booker-Preis erhielt, klingt bereits hier jener literarische "Ton der Wahrheit" an, der nicht zuletzt immer wieder die Frage aufwirft, wer die eigentlichen Barbaren sind. --Thomas Köster
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