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review 2019-09-03 09:55
Zu echt für theatralisches Melodram
Aimee & Jaguar: Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943 - Erica Fischer

Homosexualität war im nationalsozialistischen Deutschland strafbar. Im Dritten Reich betrachtete man schwule Männer als entartet und als eine Bedrohung für den Staat, da man fürchtete, sie versuchten, interne Strukturen zu unterwandern und diese von innen heraus zu zerstören. Seit 1934 wurden Homosexuelle verstärkt verfolgt, interniert und ermordet. Laut Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuches genügten bereits „begehrliche Blicke“, um eine Verhaftung und teilweise sogar eine sofortige Deportation zu rechtfertigen.

 

Die Zahl der Verurteilungen stieg bis Kriegsbeginn 1939 stetig an. Wikipedia verzeichnet für das Jahr 1935, in dem §175 in Kraft trat, 2.363 Schuldsprüche – 1938 waren es 9.536. Männer, die auf sogenannte „Umerziehungsmaßnahmen“ nicht wie gewünscht reagierten, wurden in Konzentrationslager verschleppt und gezwungen, ein Symbol zu tragen, das ihre sexuelle Orientierung für alle sichtbar machte: den rosa Winkel. Wie viele schwule Männer in den KZs umgebracht wurden, ist rückblickend schwer zu ermitteln, weil nicht klar ist, wie viele von ihnen für ihre Zugehörigkeit zu einer anderen verfolgten Bevölkerungsgruppe interniert wurden. Schätzungen zufolge wurden etwa 10.000 Schwule in die KZs gebracht, von denen circa 53% die Qualen der Lager nicht überlebten.

 

Paradoxerweise richtete sich der Hass der Nazis primär auf schwule Männer, nicht auf Homosexuelle im Allgemeinen. Lesbische Frauen waren von Paragraf 175 nicht betroffen; es existieren allerdings Hinweise darauf, dass Lesben aus anderen Gründen inhaftiert und in den KZs für entsprechendes Verhalten bestraft wurden. Dennoch zweifelt der Historiker Alexander Zinn an, dass eine gezielte Verfolgung homosexueller Frauen stattfand. Seine These ist meiner Meinung nach nicht von der Hand zu weisen, was ich in der Position der Frau im Nationalsozialismus begründet sehe. Das Dritte Reich war strikt patriarchalisch. Frauen hatten sich um Küche, Kinder und Kirche zu kümmern und sollten sich sonst bevorzugt im Hintergrund halten. Ich glaube, dass die alten Säcke der Parteispitze um Hitler gar nicht auf die Idee kamen, Frauen könnten so etwas wie eine individuelle sexuelle Identität besitzen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr völliges Unverständnis des weiblichen Geschlechts, die vollkommene Reduzierung der Frau auf ihre Rolle als Mutter, Ehe- und Hausfrau, Lesben vor einer dem Paragrafen 175 ähnlichen Gesetzgebung schützte. Den Nazis fehlte einfach die Fantasie. Doch selbst wenn ihnen bewusst war, dass sich einige Frauen zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, sahen sie darin eventuell nicht dieselbe Bedrohung, die sie in schwulen Männern vermuteten.

 

Woran auch immer es lag, homosexuelle Frauen konnten ihre Orientierung freier ausleben als homosexuelle Männer, obwohl Denunzierungen selbstverständlich möglich waren. Wie hoch das Risiko konkret war, hing stark davon ab, wie stabil und zuverlässig das soziale Netz der Frauen war. Wer sich in einem eingeschworenen Freundeskreis bewegte und sich sonst nichts zu Schulden kommen ließ, war vor einer Entdeckung relativ sicher. Diese Faktenlage erklärt, wieso Lilly Wust und Felice Schragenheim verhältnismäßig offen in einer lesbischen Beziehung leben konnten.

 

Elisabeth Wust und Felice Rachel Schragenheim lernten einander am 27. November 1942 im Café Berlin am Bahnhof Zoo kennen. Lilly war 29 Jahre alt, Mutter von vier Söhnen und mehr oder weniger unglücklich mit Günther Wust verheiratet, der als Soldat in Bernau stationiert und im zivilen Leben Bankbeamter war. Felice war 20 Jahre alt und wollte Journalistin werden. Sie war Jüdin, was sie Lilly anfangs verschwieg. Es war für Felice längst gefährlich geworden, sich in Berlin aufzuhalten, doch ihre Ausreiseversuche waren alle fehlgeschlagen. Anfang Oktober 1942 erhielt sie einen Deportationsbescheid, fingierte ihren Selbstmord und verschwand im Untergrund. Deshalb stellte sie sich Lilly als Felice Schrader vor. Die junge Hausfrau und Mutter gefiel ihr und sie begann beinahe sofort, um Lilly zu werben. Dass diese verheiratet war, schien sie nicht zu kümmern. Lilly fühlte sich geschmeichelt und empfand wohl auch eine gewisse Neugier, wies Felices Annäherungsversuche jedoch vorerst zurück. Erst, als Lilly im März 1943 mit einer akuten Kiefernvereiterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo Felice sie regelmäßig mit einem großen Strauß roter Rosen besuchte, gab sie nach und stellte sich ihren unbekannten Gefühlen. Am 29. März, Lillys neuntem Hochzeitstag, küssten sich die beiden Frauen zum ersten Mal.

 

Ihre Liebe entbrannte heiß und leidenschaftlich. Sie schrieben einander glühende Liebesbriefe und Gedichte, in denen sie sich gegenseitig mit zärtlichen Spitznamen ansprachen. Lilly war Aimée, Felice war Jaguar. Schnell begannen sie, sich als Ehepaar zu verstehen. Sie wohnten zusammen bei Lilly, die sich am 12. Oktober 1943 scheiden ließ. Günther Wust war bereits im August nach Ungarn eingezogen worden. Obwohl sich die Situation in Berlin zuspitzte, Lebensmittel knapp wurden, der Strom immer häufiger ausfiel und sie die Nächte in Luftschutzbunkern verbringen mussten, lebten sie wie berauscht von ihren Emotionen. Kurz nach ihrem Einzug hatte Felice Lilly ihre jüdische Identität gestanden. Die Gefahr, in der Felice schwebte, war beiden wohl bewusst, aber wirklich ernst nahmen sie sie nicht. Die lebenslustige Felice weigerte sich, sich in ihrer gemeinsamen Wohnung zu verschanzen. Sie ging weiterhin aus und half dem jüdischen Widerstand, fand 1944 mit gefälschten Papieren sogar eine Anstellung als Stenotypistin bei der National-Zeitung und leitete alle Informationen, die sie dort sammeln konnte, an ihre Freunde im Untergrund weiter, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit zu nehmen.

 

Es kann lediglich gemutmaßt werden, wer Felice letzten Endes verriet. Sie wurde am 21. August 1944 von der Gestapo in Lillys Wohnung festgenommen. Die uniformierten Männer hatten ein Foto von Felice bei sich, von dem es angeblich nur drei Abzüge gab: einen besaß Felice selbst, der zweite wurde von einer ebenfalls jüdischen Freundin verwahrt und der dritte gehörte Lilly. Noch während der Befragung versuchte Felice, zu flüchten, wurde allerdings schnell wieder eingefangen und abgeführt. Sie wurde als Jüdin verhaftet, nicht als lesbische Frau.

 

Die Gestapo brachte Felice in das Judensammellager im Jüdischen Krankenhaus. Dort besuchte Lilly ihre Geliebte mehrfach, bis Felice am 08. September 1944 in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Lilly war außer sich und beschloss, selbst nach Theresienstadt zu fahren, obwohl Freunde von Felice sie beschworen, die Reise zu unterlassen. Nicht nur brachte sie sich selbst in Gefahr, es bestand auch das Risiko, dass ihr Besuch Felice zusätzlich schaden könnte. Aber Lilly wollte nicht hören und bestieg am 27. September mit einem falsch ausgestellten Grenzübergangsschein, warmer Kleidung und Lebensmitteln im Gepäck den Zug nach Tschechien. Sie drang bis zur Kommandantur der deutschen Dienststelle vor, scheiterte jedoch an SS-Oberscharführer Rudolf Heindl, der sie wutentbrannt vor die Tür setzte. Resigniert machte sie sich auf die lange Heimreise.

 

Felices weiterer Weg durch die Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches ist durch Briefe und Postkarten belegt, die sie an Lilly und Freunde schickte. Am 09. Oktober 1944 transportierte man sie von Theresienstadt nach Auschwitz. Anfang November 1944 wurde sie in ein Lager bei Breslau in Polen gebracht. Ein Brief an Lillys Eltern, der am 14. November eintraf und auf den 03. November datiert war, trug den Poststempel der kleinen Stadt Trachenberg, heute Żmigród. Darin berichtete sie, dass sie aufgrund einer leichten Scharlachinfektion im Krankenhaus läge und hoffte, bis zum 09. Dezember auf der Station verbleiben zu können. In den folgenden Tagen schrieb sie einige lange Briefe an Lilly, in denen sie Neuigkeiten von Zuhause und Lebensmittel erbat. Ihre letzte Nachricht aus dem Krankenhaus schrieb sie am 14. oder 15. November 1944. Lillys Antwortschreiben kamen nicht mehr an. Felice wurde in das KZ Groß-Rosen verschleppt.

 

In Berlin wurde Lilly zu einer Befragung durch die Gestapo am 13. Dezember 1944 vorgeladen. Stundenlang musste sie sich intime Fragen, kaum verhohlene Drohungen und Vorwürfe gefallen lassen. Doch sie hielt dicht. Sie behauptete steif und fest, nicht gewusst zu haben, dass Felice Jüdin war und leugnete ihre romantische Beziehung. Ihr missglückter Besuch in Theresienstadt wurde ebenfalls thematisiert, aber Lilly beharrte darauf, dass sie lediglich einer Freundin Kleidung und Lebensmittel bringen wollte. Letztendlich ließ man sie mit einer Verwarnung davonkommen. Sie musste unterschreiben, dass man sie als Mutter von vier kleinen Kindern verschonte, ihr „judenfreundliches Verhalten“ jedoch eigentlich eine Deportation ins KZ rechtfertigen und sie bei der geringsten Verfehlung inhaftiert würde.

Das letzte persönliche Lebenszeichen von Felice traf am 05. Januar 1945 ein. Der an Lillys Eltern adressierte Umschlag enthielt zwei Briefe, einer davon richtete sich an Lilly und war auf den 26. Dezember 1944 datiert. Felice bedankte sich für das letzte Päckchen und berichtete, wie kalt es bei ihr sei. Sie schloss mit Liebesschwüren und Küssen.

 

Die Rote Armee erreichte Berlin am 02. Mai 1945. Im Chaos der Befreiung schaffte es Lilly, für sich, ihre Kinder und drei jüdische Frauen, die sie seit Februar bei sich versteckte, eine Unterkunft zu organisieren, bis sie zurück in ihre Wohnung konnten. Sie schreckte nicht davor zurück, sich dafür Felices gelben Judenstern anzuheften.
Im Juni begann sie, Felice in den Straßen der Hauptstadt zu suchen. Sie war sicher, dass ihr Jaguar unter den KZ-Heimkehrern sein würde, die Stück für Stück eintrafen. Sie ließ Felice im Radio ausrufen, erkundigte sich bei Häftlingen, die selbst in Groß-Rosen waren, schaltete die Organisation der Vereinten Nationen für Hilfe und Wiedergutmachung ein und hängte Suchanzeigen aus. Im August erfuhr sie, dass Felice Groß-Rosen mit der Auflösung des Lagers im Januar 1945 verlassen hatte und nach Bergen-Belsen geschickt wurde. Dort verliert sich ihre Spur. Die etwa 700 Frauen, die nach Bergen-Belsen transportiert wurden, erlagen laut einem Brief, den Lilly an Felices Schwester Irene schrieb, fast alle dem Fleckfieber (damals auch Hungertyphus genannt). Aber Lilly konnte nicht aufgeben. Sie hoffte und wartete, suchte die Nähe der jüdischen Gemeinde und wäre wohl konvertiert, hätte die Synagoge diesen Schritt nicht verhindert. Sie identifizierte sich mehr und mehr mit der Religion, derentwegen ihr Felice entrissen worden war und schimpfte auf „die Deutschen“. Doch ihre Geliebte fand nicht zu ihr zurück. Felice Schragenheim wurde am 14. Februar 1948 offiziell für tot erklärt. Ihr Todestag und -ort sind bis heute unbekannt. Für die Akten wurde der Zeitpunkt ihres Todes auf den 31. Dezember 1944 festgelegt.

 

Lilly erholte sich nie von Felices Verlust. Sie verarmte und vereinsamte, versuchte mehrmals, sich das Leben zu nehmen. Ihre Erinnerungen verwahrte sie in ihrem sogenannten „Tränenbüchlein“, eine fein säuberliche Sammlung aller Briefe und Gedichte, die sie und Felice einander schrieben, sowie ihrer Tagebucheinträge. Am 21. September 1981 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande für „Unbesungene Helden“ verliehen – eine Ehrung, weil sie vier Jüdinnen versteckt hatte. Möglicherweise war es diese Auszeichnung, die das Interesse der jüdischen Autorin Erica Fischer weckte. Sie suchte Lilly Wust auf und führte ab Winter 1991 Gespräche mit ihr, um ihre tragische Liebesgeschichte zu rekonstruieren. Lillys „Tränenbüchlein“ war hierbei natürlich eine große Hilfe, aber auch das Gedächtnis der mittlerweile fast 80-Jährigen funktionierte tadellos. Das Buch, das durch die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit entstand und 1994 erstveröffentlicht wurde, trägt den Titel „Aimée & Jaguar: Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943“.

 

„Aimée & Jaguar“ ist eine Mischung aus faktischer und interpretativer Biografie, deren spezielle, brillante Struktur greifbare Historie erzeugt. Die Autorin Erica Fischer fungiert als ordnende Chronistin, die zuverlässig durch die Erinnerungen der Zeitzeug_innen führt und durch die Einarbeitung von Kommentaren, Aussagen, Briefen, Gedichten, Dokumenten und Fotos eine lebendige Schilderung der außergewöhnlichen Beziehung zwischen Lilly Wust und Felice Schragenheim entstehen lässt. Die Rekonstruktion gelang eindringlich, sensibel und gründlich, sodass ich an die Seiten gefesselt wurde und das Buch innerhalb eines Tages verschlang. Ich kann nachvollziehen, dass es innerhalb der LGBTQ-Community vermutlich als Meilenstein gilt, meiner Ansicht nach ist es jedoch wesentlich mehr als die historische Bestätigung lesbischer Liebe.

 

„Aimée & Jaguar“ illustriert nicht nur die Romanze von Lilly Wust und Felice Schragenheim, es bietet darüber hinaus einen detaillierten Einblick in die Lebensrealität der Berlinerinnen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich begann zu verstehen, dass der Alltag dieser Frauen nicht nur von Essenszuteilungen, Bombenangriffen, Stromausfällen und Bunkeraufenthalten geprägt war, sondern vor allem auch von dem überaus wahrnehmbaren Männermangel. In den letzten Kriegsjahren waren Frauen in Berlin in der Überzahl, weil die meisten Männer entweder bereits eingezogen oder deportiert worden waren. Es war deshalb nicht ungewöhnlich, dass Frauen zusammenwohnten – ob als Freundinnen, die einander bei der Kindererziehung und im Haushalt halfen oder als Paar, kümmerte niemanden wirklich. Man hatte andere Sorgen und denjenigen, die sich daran störten, dass zwei Damen Zärtlichkeiten austauschten, war es mutmaßlich viel zu unangenehm, Homosexualität offen anzusprechen. Für Lesben muss es eine seltsame Zeit zwischen Tabu und trügerischer Freiheit gewesen sein.

 

Lilly und Felice fürchteten sich kaum davor, dass ihre homosexuelle Beziehung auffliegen könnte. Vielmehr schreckte sie der Gedanke, dass Felice als Jüdin enttarnt werden könnte. Mir war nicht klar, dass sich Juden und Jüdinnen bis zum Kriegsende im Mai 1945 im Untergrund Berlins versteckt hielten. In anderen Städten, in anderen Ländern, ja natürlich, aber in der Reichshauptstadt? Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Ich kann mir die tödliche Gefahr, die allgegenwärtige Angst vor Entdeckung oder Denunzierung, nicht vorstellen. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es sich anfühlte, unter diesen Bedingungen zu leben.
Wie viele dieser sogenannten U-Boote hatte Felice jahrelang versucht, Deutschland zu verlassen und in die USA, nach Israel oder Australien auszuwandern. Ihre gescheiterte bürokratische Odyssee, die Erica Fischer in einen globalen Kontext setzt, indem sie zusätzlich beschreibt, wie andere Staaten auf Asylsuchende reagierten, stellt den Nationen dieser Welt ein Armutszeugnis aus, das unangenehm an aktuelle Entwicklungen erinnert. Es schockierte mich, wie gering die internationale Bereitschaft war, Flüchtlingshilfe zu leisten. Ich gewann den Eindruck, dass niemand die Flüchtlinge aus Deutschland mit offenen Armen empfing. Felice wurden Steine in den Weg gelegt, die letztendlich ihr Todesurteil unterschrieben. Dass sie sich überhaupt so lange der Verfolgung durch die Nazis entziehen konnte, ist ausschließlich ihrem flexiblen Einfallsreichtum und einem stabilen Netzwerk aus Freunden, Bekannten und Unterstützern zu verdanken.

 

Als Felice ihre Aimée kennenlernte, war Lilly weit entfernt davon, Teil des Widerstands zu sein. Sie war eine typische Nazi-Mitläuferin, die linientreue Ehefrau eines Soldaten. Einige Zeitzeug_innen berichten, dass an einer Wand ihrer Wohnung sogar ein Hitler-Porträt prangte. Sie selbst bestreitet das und behauptet, sie hätte Hitler nie gewählt und sich ohnehin um nichts anderes als ihre vier Kinder gekümmert. Konflikte mit ihrem Ehemann Günther traten allerdings lange vor Felice zu Tage. Lilly war unzufrieden, auf einer rein privaten Ebene, politisch war sie eher desinteressiert. Deshalb erreichte sie Felices offensives Werben: die junge, hübsche Frau stillte in Lilly eine Sehnsucht, die sie seit Jahren verzehrte: das Bedürfnis nach Liebe, Zärtlichkeit, Fürsorge, Geborgenheit, Aufmerksamkeit und Führung, das ihr Mann nicht erfüllen konnte oder wollte. Sie bekam von ihr alles, was ihr Günther verwehrte. Ich glaube daher, dass Lillys Entscheidung, sich auf eine Beziehung mit Felice einzulassen, mehr mit ihr selbst als mit Felice als Individuum zu tun hatte und sie sie nicht liebte, weil sie eine Frau war, sondern für alles, was sie zu geben bereit war.

 

Es ist sehr schwierig, sich in die Dynamik ihrer Beziehung hineinzuversetzen. Mir erschien ihr Verhältnis ungesund und völlig verdreht. Betrachten wir die Ausgangspositionen der beiden Frauen. Felice war eine flüchtige Jüdin, die ihren eigenen Selbstmord vortäuschen musste, um der Deportation zu entgehen. Lilly war eine gut situierte arische Hausfrau, die durch ihre vier Söhne großzügige Lebens- und Bedarfsmittelzuteilungen erhielt und deren Nazi-Ehemann die Familie angemessen versorgte. Sie hätten kaum gegensätzlicher sein können. Dennoch war Felice diejenige, die die Rolle der Beschützerin übernahm. Trotz ihrer prekären Lage war Felice eine starke Persönlichkeit, voller Mut, Verwegenheit, Lebenslust und Optimismus. Lilly hingegen neigte zur emotionalen Abhängigkeit, war nicht in sich gefestigt und inszenierte sich gern als verletzliches Fräulein in Nöten. Sie krallte sich an ihrer Geliebten mit an Verzweiflung grenzender Obsession fest und forderte Schutz von Felice, obwohl sie ihn realistisch gesehen nicht brauchte. Felice bedurfte Schutz. Felices Leben war bedroht, nicht Lillys. Sie hätte jemanden an ihrer Seite verdient gehabt, der bzw. die ihre Ängste und Sorgen verstand und darauf einging, nicht die emotional bedürftige Lilly, die in ihrem Egoismus wohl niemals begriff, dass Felice jeden Tag fürchten musste, von der Gestapo abgeholt und ins KZ gebracht zu werden.

 

Selbstverständlich bleibt ein Risiko in dem Ausmaß, das Felice und Lilly erlebten, immer abstrakt, bis es zu spät ist, doch Lilly hätte ihre Geliebte in ihren vielen wagemutigen Unternehmungen, wie zum Beispiel auch der Arbeit für die National-Zeitung, bremsen müssen. Sie hätte sie nicht einfach machen lassen dürfen, sondern hinterfragen müssen, dass Felice ihr Leben aufs Spiel setzte. Doch dazu war Lilly nicht fähig, weil sie sich lieber leiten ließ, statt selbst Initiative zu ergreifen. All ihre Bemühungen waren darauf ausgerichtet, eine Opferrolle einzunehmen und Felice darüber an sich zu binden, statt sich als Partnerin gleichberechtigt zu begreifen und entsprechend zu handeln. Sie genoss es, sich als schwach darzustellen. Selbst nachdem Felice inhaftiert wurde, gelang es ihr nicht, über sich hinauszuwachsen und die Farce des zerbrechlichen Frauchens fallenzulassen. In vielen ihrer Briefe und Tagebucheinträge aus dieser Zeit finden sich Formulierungen, die ihre Schwäche betonen und ihren eigenen Zustand in den Vordergrund rücken. Ich kann nachvollziehen, dass es für Lilly schwer war, Felice im KZ zu wissen, doch meiner Meinung nach hätte sie ihre Geliebte nicht mit jammervollen Beschreibungen belasten dürfen.

 

Alle Briefe von Felice in „Aimée & Jaguar“ vermitteln einen grundlegend positiven Tenor, können die Wahrheit jedoch nicht vertuschen: Felice litt. Es ging ihr nicht gut, weder in Theresienstadt noch bei Breslau oder später in Groß-Rosen. Zwischen den Zeilen steht überdeutlich, welch furchtbaren Umständen sie ausgeliefert war und allein die Tatsache, dass sie eine ernste Erkrankung wie Scharlach und den daraus resultierenden Krankenhausaufenthalt dem Alltag im Lager vorzog, spricht Bände. In ihren Antwortschreiben ging Lilly dennoch kaum auf Felices Leiden ein. Sie schrieb von sich und ihrem Schmerz, zeigte keine Empathie für die Tortur, der ihre Geliebte ausgesetzt war und drängte immer wieder darauf, Felice müsse zu ihr zurückkehren, weil sie ohne sie nicht leben könne. Ich glaube nicht, dass das hilfreich war. Wieso konnte sie Felice nicht emotional unterstützen, statt Druck aufzubauen? Wieso schrieb sie nicht „Wir kommen zurecht. Wir vermissen dich und warten auf dich“? Wieso musste sie den Qualen ihrer Partnerin weitere hinzufügen? Aus meiner Sicht gibt es nur eine Antwort auf diese Fragen: weil Lilly zu egoistisch war, um zu erkennen, was Felice brauchte und ihre Gefühle über Felices reales Elend stellte.

 

Ihr Besuch in Theresienstadt lässt ebenfalls kaum eine andere Interpretation zu. Das war kein romantisches Abenteuer. Das war Wahnsinn. Lilly glaubte, sie könne einfach in das Ghetto hineinspazieren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was ihr Auftauchen für Felice oder ihre Kinder bedeuten könnte. Sie hatte großes Glück, dass sie sie nicht gleich dabehalten haben. Niemand weiß, welche Konsequenzen Felice erleiden musste. Vielleicht wurde sie deshalb nach Auschwitz gebracht, doch Lilly schien nicht klar zu sein, dass da ein Zusammenhang bestehen könnte. Im Gegenteil, bei ihrer Heimkehr rühmte sie sich noch damit, wie standhaft sie in der Kommandantur gewesen sei.

 

Ich denke, dass Lilly Felice deshalb mit aller Macht vereinnahmte, weil sie tief in ihrem Inneren ahnte, dass sie den jungen, gebildeten, lebhaften Wirbelwind auf Dauer nicht würde halten können. Hätten sie den Krieg beide überlebt, Felice hätte Lilly irgendwann verlassen, davon bin ich genau wie die Autorin Erica Fischer fest überzeugt. Ihre Beziehung war ein Produkt extremer Umstände, die, wären diese Umstände weggefallen, vermutlich nicht überdauert hätte. Ich glaube, Lilly wusste das. Immer wieder flehte sie Felice in ihren Briefen an, bei ihr zu bleiben. Deshalb finde ich die Theorie, dass Lilly diejenige war, die Felice an die Gestapo verriet, gar nicht so abwegig. Wie bereits erwähnt gab es von dem Foto, das die Uniformierten bei sich hatten, als sie Felice am 21. August 1944 abholten, lediglich drei bekannte Abzüge. Felice hätte ihren eigenen natürlich niemals an die Gestapo weitergegeben; ebenso ist es unwahrscheinlich, dass ihre jüdische Freundin in Österreich sie den Nazis ausgeliefert hätte. Bleibt Lilly, die in einem Gedicht vom 03. August 1945 schrieb „Du wirst mich lebend nie verlassen!“. Vielleicht sah sie Felice tatsächlich lieber tot, als von ihr verlassen zu werden. Obsessive Liebe nimmt manchmal beängstigende Formen an.

 

Ein weiteres Argument, das angeführt wird, um diese Theorie zu untermauern, sind Felices Testament und die Schenkungen, die jeweils zu Lillys Gunsten ausfielen. Felice vermachte ihrer Geliebten ihren gesamten Besitz und mehrere Zeug_innen berichten in „Aimée & Jaguar“, dass Lilly beinahe wahnhaft versuchte, ihr Hab und Gut an sich zu bringen, sowohl vor als auch nach Felices Deportation. Ich kann mich der Schlussfolgerung, dass Lilly somit die unter Nazis typische Gier zeigte, jedoch nicht anschließen. Ich glaube nicht, dass sie Felices Besitztümer aus Habsucht an sich bringen wollte. Ich denke, dass sie vor Felices Inhaftierung einfach dafür sorgen wollte, dass alle Güter, die Felice bei Freunden versteckt hatte, an einem Ort waren. Nach ihrer Inhaftierung hingegen ging es ihr meiner Ansicht nach darum, Erinnerungsstücke zu haben und ihrer Hilflosigkeit etwas Aktivismus entgegenzustellen, denn trotz der fragwürdigen Natur ihrer Beziehung muss es für Lilly schrecklich gewesen sein, nichts unternehmen zu können, um Felice zu helfen oder sie ausfindig zu machen.

 

Der Charakter ihres Verhältnisses wurde ebenfalls nachträglich in Frage gestellt. Während Lilly ihre Romanze mit Felice stets als die große Liebe beschrieb, bezweifeln einige Stimmen, dass Felices Motive für ihr Anbändeln mit Lilly vollkommen unschuldig waren. Vielmehr hätte da die Pragmatikerin aus ihr gesprochen. Für Felice stellte Lilly den perfekten Unterschlupf dar: eine Nazi-Mitläuferin, die weder Razzien noch Unterstellungen zu befürchten hatte. Gefühle hin oder her, es war clever, bei einer gutdeutschen, biederen Hausfrau und Mutter unterzukommen. Wer hätte sie dort schon vermutet? Problematisch wurde die Situation laut dieser Meinungsfraktion erst, als Felice gezwungen war, Lilly ihre jüdische Identität zu beichten, weil sie sich Lilly damit auslieferte. Sie legte ihr Schicksal in Lillys Hände und war gänzlich von ihrem Wohlwollen abhängig. Sie prostituierte sich, um ihr Leben zu schützen – das einzige, was sie noch zu verlieren hatte. Diese Interpretation behauptet, dass Felice Lilly niemals geliebt habe, sondern in ihr nur das Mittel zum Zweck sah. Ich denke, dass Felices spätere Briefe, die sie schrieb, als sie bereits in die tödlichen Mühlen der Konzentrationslager geraten war, dem widersprechen. Besonders die Schriftstücke, die aus ihrer Zeit im Krankenhaus bei Breslau erhalten sind, vermitteln eine Bandbreite an Gefühlen für Lilly, die meines Erachtens nach nicht vorgetäuscht sind. Seitenweise hielt Felice ihre Gedanken und Emotionen fest, was unnötig gewesen wäre, hätte sie Lilly lediglich motivieren wollen, ihr weitere Päckchen mit Lebensmitteln und Kleidung zu schicken.

 

Ich weiß nicht, warum Felice ausgerechnet mit einer Nazi-Ehefrau eine Beziehung einging. Vermutlich gibt es darauf keine simple Antwort. Sie lockte die Sicherheit, die Lilly versprach; es reizte sie, „so eine“ zu verführen; sie fühlte sich zu ihr hingezogen – was immer sie antrieb, ob Liebe oder praktische Überlegungen, ich glaube, irgendwann verliebte sie sich wirklich in Lilly. Letztendlich muss die Frage danach, wie Felice für Lilly empfand, was sie in ihr sah, jedoch immer unbeantwortet bleiben. Das ist die wahre Tragik vom „Aimée & Jaguar“. Felice konnte sich niemals äußern. Alle Theorien müssen Mutmaßungen bleiben.

 

Für mich war „Aimée & Jaguar“ eine einzigartige, intensive Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland auf einem sehr privaten, greifbaren Level. Trotz Jahren der erzwungenen schulischen Auseinandersetzung mit diesem Thema sind es erst Bücher wie dieses, die mir helfen, die wahrhafte Lebensrealität der Menschen über die reine Faktenlage hinaus zu begreifen. Einzelschicksale sind für die Erinnerungskultur sowie für die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit unverzichtbar, weil sie der Historie Leben einhauchen und sie aus der Abstraktion herausheben. Anhand von Felices und Lillys Geschichte konnte ich mir wirklich vorstellen, was es einerseits bedeutete, in den letzten Kriegsjahren eine Frau und andererseits eine untergetauchte Jüdin in Berlin zu sein. Sie waren echte Menschen, echte Persönlichkeiten, mehr als Kapitel in einem Geschichtslehrbuch oder anonyme Zahlen auf Papier. Auch habe ich dank der gründlichen Aufbereitung der Autorin Erica Fischer einige Wissenslücken schließen können. Für mich war „Aimée & Jaguar“ eine äußerst lohnende Leseerfahrung.

 

Dennoch sehe ich mich außer Stande, die Höchstwertung von 5 Sternen zu vergeben. Ich habe ein großes Problem mit diesem Buch, das die Lektüre für mich prägte. Dieses Problem heißt Lilly. „Aimée & Jaguar“ ist aus naheliegenden Gründen stark auf Lillys Perspektive ausgerichtet. Erica Fischer bemühte sich zwar, Felices Biografie überzeugend nachzuzeichnen und ein präzises Porträt ihrer Persönlichkeit zu vermitteln, aber Gespräche führte sie mit Lilly, der Überlebenden. Obwohl sie Lillys subjektive Ansichten und Erinnerungen in einen realistischen Kontext zu setzen versuchte, konnte sie nicht verhindern, dass die alte Dame dem Buch ihren Stempel aufdrückte. Dadurch wurde ich zwangsläufig mit ihrer Wahrnehmung konfrontiert, die ich oft einfach nicht nachvollziehen konnte. Es fiel mir schwer, Lilly zu verstehen. Ihre Entscheidungen und ihr Verhalten blieben mir fremd, was die emotionale Wirkung von „Aimée & Jaguar“ schmälerte. Allen leidenschaftlichen Liebesbriefen und Gedichten zum Trotz kann ich in dieser Geschichte keine tragische Romantik erkennen, sondern nur die Chronik einer zutiefst ungesunden Beziehung, in der Lilly eine Rolle an sich riss, die den Fakten widersprach. Ich begreife nicht, wie sie von Felice verlangen konnte, sie vor meiner Ansicht nach eingebildeten, künstlich aufgeblasenen Gefahren zu beschützen, sie zu retten, während Felice selbst tatsächlich um ihr Leben fürchten musste. Lilly war blind für die Bedürfnisse ihrer angeblich ach so geliebten Partnerin. Das war keine Liebe, das war mutwillig herbeigeführte Abhängigkeit. Sie saugte Felice emotional aus und hätte sie mit ihrer Bedürftigkeit erdrückt, wäre Felice nicht ermordet worden. Meiner Meinung nach war Lilly Wust ein Gefühlsparasit. Sie brauchte stets einen Wirt, um zu überleben. Sie war allein kaum lebensfähig, was ihre spätere Unfähigkeit, für ein besseres Leben zu kämpfen, zweifellos belegt. Es wundert mich nicht, dass sie nach Felices Tod nur noch ein Schatten ihrer selbst war.

 

Außerdem fand ich es abstoßend, dass Lilly sich offenbar nie mit ihrer eigenen Schuld auseinandersetzte. Selbst wenn sie Felice nicht persönlich an die Gestapo verriet, war sie doch Teil eines Systems, das Millionen Menschen entführte, folterte und tötete. Sie ist nicht aufgestanden. Sie hat sich nicht gewehrt. Sie verbarg sich hinter ihrer Fassade einer tumben Hausfrau und Mutter, die mit Politik nichts am Hut hatte, während direkt vor ihrer Tür Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Das macht sie in meinen Augen durchaus zur stillen Mittäterin. Hitler war bereits seit 10 Jahren an der Macht, als sie zur Komplizin des jüdischen Untergrunds wurde. Was war in den Jahren zuvor? Sie sah zu. Tatenlos. Man sollte ihre Bereitschaft, Felice bei sich aufzunehmen, auch keinesfalls mit Widerstand verwechseln. Für Lilly hatte ihre Beziehung keine politische Dimension. Sie wollte mit Felice zusammen sein, das war der einzige Grund, warum sie sie bei sich einziehen ließ. Nachdem Felice deportiert worden war, versteckte sie zwar noch einmal drei Jüdinnen unter ihrem Dach, aber ich glaube nicht, dass sie das tat, weil Felice ihr Gewissen geweckt hatte. Sie tat das, weil sie sich ihrer verschleppten Geliebten dadurch näher fühlte und wusste, dass es in Felices Sinne gewesen wäre, zu helfen. Ihre Tagebucheinträge beweisen, dass diese Wohngemeinschaft auch nicht ganz so verlief, wie sie es sich vorgestellt hatte.

 

Lilly sah niemals ein, dass ihre Tatenlosigkeit die Tötungsmaschinerie der Nazis unterstützte. Stattdessen vereinnahmte sie Felices Schicksal und das ihres Volkes für sich. Lilly begann, sich als Vertraute des jüdischen Leides zu verstehen und identifizierte sich damit. Sie benahm sich, als wäre sie durch Felice selbst zur Jüdin geworden. Sie verteufelte „die Deutschen“ und meldete sogar ihre Söhne als Juden in der Schule an. Ihr wurde nie gestattet zu konvertieren, das hinderte sie jedoch nicht daran, die Synagoge zu besuchen und jüdische Feiertage zu zelebrieren. Meiner Ansicht nach schlägt das dem Fass den Boden aus. Diese Unverfrorenheit. Was bildete sie sich ein? Wie konnte sie glauben, ein Anrecht auf den Schmerz des jüdischen Volkes zu haben? Ich verstehe, welche psychologischen Prozesse und Strategien sich darin abzeichnen, aber ich kann wirklich nur entsetzt den Kopf schütteln. Erneut zeigte Lilly Wust, dass Empathie nicht zu ihren Stärken zählte. Vollkommen egal, wie oft sie es leugnete, sie war eine Deutsche. Eine arische Deutsche, die durch ihr jahrelanges Schweigen eine Mitschuld am Holocaust trug und der es in dem System, das diesen ermöglichte, gut ging. Ich denke, sie konnte froh sein, dass sie von der jüdischen Gemeinschaft nicht mit Schimpf und Schande davongejagt wurde.

 

Abschließend kann ich resümieren, dass „Aimée & Jaguar“ für mich nicht die zauberhafte Geschichte einer mutigen Liebe war, mit der ich gerechnet hatte. Vielleicht lag ich mit dieser Erwartungshaltung allerdings von Beginn an daneben. Je länger ich über das Buch nachdenke, desto mehr ziehe ich in Zweifel, dass Erica Fischer Romantik vermitteln wollte. Natürlich war Lillys und Felices Beziehung durch die historischen Umstände und ihre jeweilige Herkunft außergewöhnlich, aber ich denke nicht, dass die Autorin die Gefühlsebene ihres Verhältnisses in den Vordergrund stellen wollte. Dafür schildert sie alle Ereignisse zu nüchtern, ohne sentimentale Verklärung. Zwischen den Zeilen schwingt häufig Kritik an Lilly mit, während Fischers Sympathie für Felice unmissverständlich ist. Daher denke ich, dass sie im Verlauf der Rekonstruktion demselben Problem begegnete, das auch für mich die Lektüre prägte: sie musste einen Weg finden, mit Lilly Wust umzugehen, obwohl sich herausstellte, dass diese nicht die makellose unbesungene Heldin war, die das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt. Meiner Meinung nach gelang es ihr dennoch, ihre eigene Antipathie zu kontrollieren. Da sich Felice tragischerweise nie äußern konnte, kann „Aimée & Jaguar“ nicht die ganze Geschichte erzählen, doch ich hatte den Eindruck, dass Erica Fischer sich erfolgreich bemühte, die vielen, komplexen und teilweise widersprüchlichen Dimensionen ihrer Affäre wahrheitsgetreu abzubilden. Deshalb möchte ich betonen, dass mein Unvermögen, 5 Sterne zu vergeben, weder eine negative Beurteilung ihrer Leistung als Autorin noch der Geschichte selbst ist, sondern ausschließlich Ausdruck meiner emotionalen Distanz gegenüber Lilly.

 

Wenn ihr euch dem Nationalsozialismus aus einer ungewöhnlichen Perspektive nähern und lebendige, greifbare Historie erfahren wollt, kann ich euch „Aimée & Jaguar“ guten Gewissens empfehlen. Ich halte das Buch für eine einzigartige, zeitgeschichtliche Chronik, die die komplizierte Liebe zweier realer Frauen beschreibt, die allem widersprach, was die Nazis propagierten. Trotz dessen möchte ich noch einmal unterstreichen, dass ihr darin keine kitschige Liebesschnulze vorfinden werdet. Das Buch handelt von echten Menschen, echten Erlebnissen, echter Tragik und ist somit auch zu echt für theatralisches Melodram. In der Realität sind Tränen nass, Verzweiflung niederschmetternd und der Tod nicht immer gerecht. „Aimée & Jaguar“ ist keine Gay Romance. Es ist keine Fiktion. Es ist authentisch.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/09/03/erica-fischer-aimee-jaguar-eine-liebesgeschichte-berlin-1943
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review 2017-09-12 20:09
Mulaghesh rockt!
City of Blades - Robert Jackson Bennett

Obwohl „City of Stairs“, der Auftakt der Trilogie „The Divine Cities“, ein bemerkenswerter Erfolg für den Autor Robert Jackson Bennett war, hatte er ursprünglich nicht vor, diese grandiose Geschichte fortzuführen. Er scheute sich davor, herauszufinden, was in seinem hochkomplexen Universum als nächstes geschehen könnte. Erst die Überredungskünste seines Agenten und seines Lektors überzeugten ihn davon, sein Potential zu erforschen. Das Ergebnis ist „City of Blades“, das ich gern viel eher gelesen hätte. Leider hatte ich beschlossen, auf die Veröffentlichung des Finales „City of Miracles“ zu warten. So vergingen beinahe 2 Jahre, bis ich nach Saypur und auf den Kontinent zurückkehrte.

 

Generalin Turyin Mulaghesh will nur eines: sie will all das Blut, das an ihren Händen klebt, hinter sich lassen. Sie quittierte den Dienst beim saypurischen Militär, bereit, vergessen zu werden. Der Ruhestand ist ihr allerdings nicht vergönnt. Eines Tages klopft ein Bote der Premierministerin Shara Komayd an ihre Tür, um die Generalin zurückzuholen. Shara benötigt ihre Hilfe. Inoffiziell. Mulaghesh soll in den entlegenen, ungastlichen Norden des Kontinents reisen, nach Voortyashtan, um dort verdeckt im Fall einer vermissten Geheimdienstagentin zu ermitteln, die verschwand, während sie eine mysteriöse Substanz nach Spuren des Göttlichen untersuchte. Angeblich wurde sie verrückt. Aber ist das die ganze Wahrheit? Einst huldigte Voortyashtan der Kriegsgöttin Voortya. Ihre Krieger waren grausame, unmenschliche Bestien. Mit Voortyas Tod sollten alle Relikte ihrer Macht verschwunden sein. Doch in Voortyashtan angekommen entdeckt Mulaghesh Hinweise auf eine entsetzliche Verschwörung, die plant, ihren kriegerischen Todeskult wiederzubeleben…

 

„City of Blades“ setzt fünf Jahre nach den Ereignissen in „City of Stairs“ ein. Shara Komayd ist tatsächlich Premierministerin von Saypur und bemüht sich redlich, die Beziehung zwischen ihrem Land und dem Kontinent in neue Fahrwasser zu steuern. Voortyashtan ist hierbei ein entscheidender Faktor, weil der Bau eines gigantischen Hafens durch die Vereinigten Dreyling Staaten dem in Trümmern liegenden Kontinent zu mehr Selbstständigkeit verhelfen und den Wiederaufbau vorantreiben soll. Die Entdeckung eines rätselhaften Pulvers in den Minen Voortyashtans bedroht das ganze Projekt, da niemand in der Lage ist, zu erklären, wie diese Substanz wirkt. Sollte sich herausstellen, dass das Pulver göttlich ist, käme der Bau des Hafens zum Stillstand und der Kontinent wäre Saypur weiterhin ausgeliefert. Bin ich die einzige, die angesichts dieser unglaublich konsistenten, logischen Ausgangssituation vor Begeisterung im Kreis hüpfen könnte? Robert Jackson Bennett beweist beispielhaftes ökonomisches, politisches Bewusstsein und zeigt die wirtschaftlichen Folgen des Todes der Götter für den Kontinent eindrucksvoll und realistisch. Worldbuilding par excellence. Der Kontinent braucht einen Neubeginn – der Hafen ist ein Versprechen auf Unabhängigkeit. Generalin Turyin Mulaghesh soll dafür sorgen, dass dieses Versprechen wahr wird. Für mich war es eine positive Überraschung, Mulaghesh als Protagonistin zu erleben. Ich mag Shara sehr, aber sie ist eine Intellektuelle, deren Gedankengänge nicht immer nachvollziehbar sind. Mulaghesh ist Soldatin. Sie ist bodenständig und emotional nahbar, wodurch sich die gesamte Lektüre als zugänglicher erwies. Es war fabelhaft, sie kennenzulernen. Nicht nur ist Mulaghesh eine schockierend lebendige Figur, der man die Fiktionalität beinahe nicht abnimmt, sie ist als gestandene, erwachsene Frau von ca. 50 Jahren auch ein Ausnahmecharakter der High Fantasy. Einarmig und mit einem köstlichen Schandmaul ausgestattet, rockt sie die an einen Agentenroman erinnernde Geschichte von „City of Blades“ fast im Alleingang. Ich liebe sie. Sie ist einnehmend, integer, mutig, verantwortungsbewusst und einfach aus dem Holz geschnitzt, aus dem Held_innen sind. Die Dämonen ihrer Vergangenheit quälen sie, treiben sie allerdings auch an, ein besserer Mensch zu sein. Ihre Definition des Soldatentums als bedingungslose Dienerschaft ist inspirierend und ermöglicht eine spannende, intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept des Krieges, das in Voortyashtan kulturell tief verankert ist. Der Todes- und Kriegskult der antiken Voortyashtani ist gleichermaßen faszinierend wie unheimlich. Ihre Verehrung der Kriegsgöttin Voortya kannte keine Grenzen, da sie die erste war, die ihrer Religion eine echte Struktur durch die Erschaffung eines Jenseits verlieh und dadurch einen bindenden Vertrag mit ihren Gläubigen einging. Robert Jackson Bennett spielt ausführlich mit der abstrakten Wechselwirkung von Leben und Tod, wodurch sich „City of Blades“ durch eine beeindruckende philosophische Tiefe auszeichnet. Bereits mit „City of Stairs“ präsentierte Bennett ein Feuerwerk intelligenter, anspruchsvoller Überlegungen – mit „City of Blades“ erreicht er noch einmal ein ganz neues Niveau.

 

Nach der Lektüre von „City of Stairs“ schrieb ich, dass es ein Buch sei, das mich eher intellektuell berührte, als mein Herz zu packen. Diese Falte bügelt Robert Jackson Bennett mit „City of Blades“ zweifelsfrei aus. Der zweite Band der Trilogie „The Divine Cities“ nahm mich auf allen Ebenen meiner Persönlichkeit gefangen. Die Entscheidung, Mulaghesh als Protagonistin einzusetzen, war hervorragend, weil sie emotional greifbar ist und vehement Resonanz einfordert. Die mitreißende Mischung aus brillantem Worldbuilding, liebevoller Detailschärfe und packendem Agententhriller lässt keine Wünsche offen. „City of Blades“ hat alles, was ein außergewöhnlicher High Fantasy – Roman braucht und ist mit nichts vergleichbar. Treten Sie zurück, George R.R. Martin, Brandon Sanderson und Peter V. Brett. Ein neuer Star hat die Bühne betreten und stielt Ihnen die Show.

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review 2016-01-27 10:30
Lange nicht so gut wie der Vorgänger
Vivian Versus America - Katie Coyle

Die Rezension zu „Vivian versus America“ habe ich lange aufgeschoben. Anfangs habe ich andere Buchbesprechungen vorgezogen, weil ich gegen Ende des Jahres erst die Bücher abhaken wollte, die ich mir für Challenges anrechnen konnte. Als das erledigt war, wollte ich mich der Fortsetzung von „Vivian versus the Apocalypse“ widmen, musste jedoch feststellen, dass dieses Vorhaben schwerer war als gedacht. Ich kam nicht voran, ja, fand nicht mal einen Ansatzpunkt. Ich beschloss, es nicht zu erzwingen und rezensierte weiterhin Bücher, die ich nach „Vivian versus America“ gelesen habe. Zwischenzeitlich spielte ich sogar mit dem Gedanken, die Rezension unter den Tisch fallen zu lassen. Glücklicherweise verbietet mir das allerdings meine Blogger-Ehre, weswegen ihr nun doch noch ein paar Gedanken zu diesem widerspenstigen Buch vor Augen habt.

 

Vivian hat sich entschieden. Für ihre Freunde, gegen ihre Familie. Gestrandet in San Francisco müssen Harp und sie sich nun einen aussichtsreichen Plan einfallen lassen, um Peter zu finden. Peter, der sich opferte, damit Harp und Viv der Church of America entkommen konnten. Im Idealfall konnte er ebenfalls fliehen, im schlimmsten Fall… daran möchte Vivian nicht einmal denken. Doch noch bevor sie auch nur die Stadt verlassen können, geraten die beiden Freundinnen erneut in Gefahr. Die Church of America hat ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und fahndet nach ihnen. Zu brisant ist das, was sie herausgefunden haben. Augenblicklich macht das ganze Land Jagd auf sie. Als sich die Situation zuspitzt und Viv und Harp keinen Ausweg mehr sehen, erhalten sie jedoch aus überraschender Richtung Hilfe. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Vielleicht wird Vivian Peter retten. Und vielleicht wird sie Amerika die Augen öffnen.

 

Ich glaube, der Grund, warum ich mich mit dieser Rezension so schwergetan habe, ist der, dass mein emotionales und mein analytisches Ich wieder einmal unterschiedlicher Meinung sind. Rational betrachtet war „Vivian versus America“ im Vergleich zum Vorgänger etwas enttäuschend. Doch emotional wollte ich mich davon genauso begeistern lassen wie von „Vivian versus the Apocalypse“, weil ich die Protagonistin und Ich-Erzählerin Vivian schrecklich gernhabe. Hundertprozentig geklappt hat das allerdings nicht, denn wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, wird dieser Abschluss der Geschichte nicht völlig gerecht. „Vivian versus America“ ist lange nicht so gut wie der erste Band; es ist weniger symbolkräftig, wesentlich handlungsorientierter und fast schon zu abenteuerlich.
Katie Coyle nimmt ihre Geschichte nahtlos an der Stelle wieder auf, an der die Leser_innen Vivian im Vorgänger verlassen haben. Nachdem Vivian und Harp das ganze Land durchquerten, um Vivians Familie zu finden und aufzudecken, was wirklich hinter der Church of America steckt, musste unsere tapfere Protagonistin feststellen, dass Familie nicht zwangsläufig durch Blutsverwandtschaft definiert ist. Harp und Peter, die einzigen Menschen, die wirklich für sie da waren, als sie sie brauchte, sind ihre Familie. Die Entscheidung, zu ihnen zu stehen, ist ihr nicht leichtgefallen, aber ihre Freundschaft zu Harp hat dieser Entschluss unumstößlich gefestigt und gestärkt. Meiner Meinung nach verkraftet ihre Beziehung daher auch die Rollenverschiebung, die sich vor allem durch Vivians Weiterentwicklung ergibt. Diese Veränderung begann natürlich bereits im ersten Band, doch ich finde, erst in „Vivian versus America“ tritt sie vollständig zu Tage. Vivian ist nicht länger der passive, zurückhaltende Part der Freundschaft, sie ist aktiv und durchsetzungsstark. Harp hingegen büßt einiges an Dominanz ein, was ihr meinem Empfinden nach durchaus guttut, weil sie nun zeigen kann, dass sie auch eine weiche, unterstützende Seite hat und ihrer Freundin mit Rat und Tat zur Seite steht.
Nichtsdestotrotz fehlt der Handlung das gewisse Etwas, das mich im ersten Band vorbehaltlos überzeugte. Der Roadtrip quer durch die USA war Quelle und Auslöser einer fantastischen Metamorphose – nun, da Vivian und Harp ihr geografisches Ziel mehr oder weniger erreicht haben, entfernt sich Katie Coyle von der philosophischen Ebene des Reisethemas. Ich hatte den Eindruck, dass es nicht mehr um die großen Fragen des Lebens geht, sondern um handfeste, actionlastige Ereignisse. Offenbar war die Autorin der Meinung, dass Vivians Selbstfindungsphase bereits abgeschlossen ist und es Zeit wird, die Geschichte greifbar zu beenden. Ich fand das schade, denn dadurch erschien mir das Buch enttäuschend durchschnittlich. Es hätte auch das Finale jeder anderen beliebigen YA Dystopie sein können. Unterhaltsam, ja, aber ohne die besondere Tiefe, die „Vivian versus the Apocalypse“ auszeichnete.

 

„Vivian versus America“ ist nicht die großartige Fortsetzung, die ich mir für die Geschichte und die Protagonistin Vivian gewünscht habe. Vielleicht habe ich die Prioritäten der Autorin Katie Coyle falsch eingeschätzt, denn ich dachte, die Erkenntnisebene sei für sie wichtiger als die Handlungsebene. Der zweite Band verschiebt den Fokus unmissverständlich von dem, was zwischen den Zeilen steht hin zu den Worten, die schwarz auf weiß gedruckt sind. Ich denke, wenn ich nicht fest entschlossen gewesen wäre, das Buch zu mögen, wäre ich noch deutlich enttäuschter gewesen, obwohl es natürlich nicht schlecht ist.
Wenn ihr „Vivian versus the Apocalypse“ gelesen habt und wissen möchtet, wie die Geschichte rund um Vivian und ihre Freunde ausgeht, solltet ihr „Vivian versus America“ lesen. Ihr solltet euch allerdings darüber im Klaren sein, dass der nachdenkliche Charakter des Vorgängers überwiegend verloren gegangen ist und nun die Handlung im Mittelpunkt steht. Die Fortsetzung ist aufregend und liest sich schnell weg – nur philosophisch ist es leider nicht mehr.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/01/27/katie-coyle-vivian-versus-america
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review 2015-12-12 11:15
Mit Hoodoo und Bullshit wird's schon gehen!
Aloha from Hell - Richard Kadrey

Richard Kadrey ist mein Lieblings-Urban-Fantasy-Autor. Er ist einfach der Beste, wenn es darum geht, harte, witzige, makabre Geschichten zu schreiben, die Magie und Übernatürliches in unsere Welt katapultieren. Bei ihm gibt es keine glitzernden Vampire, keine schmusigen Werwölfe und erst recht keine jungen Frauen, die sich in all ihrem Herzschmerz mit Wonne suhlen. Seine Welt ist die Welt von James Stark aka Sandman Slim, mäßig begabter Hexer, Nephilim und Ex-Höllengladiator. Er ist nicht nett, er hat ein Alkoholproblem und sein Motto lautet „Mit Hoodoo und Bullshit wird’s schon gehen“. Kurz gesagt: ich liebe ihn! „Aloha from Hell“ ist der dritte Band der Reihe und ich freute mich riesig auf ein Wiedersehen mit Stark, seinen Gefährten und seinen Feinden!

 

Wieder einmal regiert die Langeweile in Starks Leben. Das Golden Vigil ist zerschlagen und Luzifer kehrte in den Himmel zurück. Seit er Los Angeles abermals rettete, war Stark brav und arrangierte sich mit dem Engel in seinem Kopf. Aber Stark wäre nicht Stark, hätte er nicht noch ein paar offene Rechnungen, die beglichen werden wollen. Da sich Luzifer kurzerhand aus dem Staub machte, versinkt die Hölle dank Mason im Chaos. Das könnte Stark natürlich egal sein, hätte Mason sich nicht mit Aelita verbündet, die weiterhin der fixen Idee nachjagt, Gott zu töten. Gemeinsam planen sie, Himmel und Hölle zu zerstören und dabei auch gleich noch Stark zu beseitigen. Sie spielen seine größte Schwachstelle gegen ihn aus und entführen Alice aus dem Himmel. Stark hat keine Wahl. Er muss ein weiteres Mal in die Hölle hinabsteigen. Sandman Slim kehrt heim.

 

Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr ein Buch aufschlagt, ein paar Sätze lest und es ist wie nach Hause kommen? So empfinde ich die Bände der „Sandman Slim“ – Reihe. Ich habe stets das Gefühl, Stark so gut zu kennen, als wäre er mein Freund, mit dem ich mich regelmäßig auf ein Bier treffe. Er erzählt mir von seinen Abenteuern und obwohl ich mir recht gut vorstellen kann, worauf seine Geschichten hinauslaufen, überrascht er mich doch jedes Mal mit den Details. Er ist ein Bastard, aber ein Bastard, den man einfach lieben muss. Manchmal vergesse ich, dass er nicht real ist, denn er ist so realistisch und greifbar gezeichnet, dass ich mich ihm ungeheuer nah fühle. Für mich ist es genau das, was die Reihe auszeichnet. In der Urban Fantasy bekommt man es oft mit Charakteren zu tun, deren Eindimensionalität durch eine actiongeladene Handlung vertuscht werden soll. Richard Kadrey hingegen vereint Action, fiesen Galgenhumor und einen psychologisch vielschichtigen Protagonisten zu einem stimmigen Gesamtbild. Stark ist unter seiner harten Schale noch immer verloren und ziellos. Daher habe ich mich über seine Rückkehr in die Hölle überhaupt nicht gewundert. Offiziell steigt er natürlich nur hinab, um Alice zu retten, aber inoffiziell war es lediglich eine Frage der Zeit, wann er das Leben auf der Erde nicht mehr ertragen würde. Stark findet keinen Lebenssinn. Die Arena und die Spielregeln der Hölle waren mehr als 10 Jahre seine Welt und so sehr er es auch zu leugnen versucht, diese Welt ist ihm vertrauter als unsere. Er ist noch immer nicht über Alice hinweg und kann nicht loslassen. Mir war gar nicht klar, wie unheimlich präsent sie all die Zeit über in seinen Gedanken war; das wurde mir erst bewusst, als er ihr in der Hölle begegnet. Sie hat nichts von all dem mitbekommen, was Stark jahrelang erlebt hat und erdulden musste – und doch war es für mich so, als wäre sie da gewesen, weil sie eben nie aus seinem (Unter-)Bewusstsein verschwunden ist. Dass Kadrey ihre emotionale Verbindung auf eine Weise herausarbeitete, die sogar mich vergessen ließ, dass Alice seit vielen Jahren tot ist, spricht von einem Talent, das wirklich beeindruckend ist.
Trotzdem sehe ich „Aloha from Hell“ nicht völlig unkritisch. Ich fand, dass Kadrey die Szenen in der Hölle zu schnell abhandelte. Im Vergleich zum Vorgeplänkel war mir dieser Part zu kurz und etwas zu unübersichtlich. Ich weiß zwar, dass Kadrey großen Spaß daran hat, seine Leser_innen vor vollendete Tatsachen zu stellen, sie zu schockieren und ihnen Haarsträubendes um die Ohren zu schlagen, ohne eine Erklärung abzugeben, aber da die Hölle für Stark ein Ort ist, mit dem er viele widerstreitende Gefühle verbindet, hätte ich mir mehr Tiefe in der Handlung gewünscht. Außerdem verschenkte Kadrey meiner Meinung nach einiges an Potential, indem er ein Zusammentreffen mit einer faszinierenden Persönlichkeit aus der Geschichte oberflächlich und beiläufig gestaltete.
Letztendlich hatte ich aber doch wieder eine Menge Spaß mit Stark. „Aloha from Hell“ ist vielleicht nicht perfekt, mein Lesevergnügen war jedoch enorm. Und darauf kommt es schließlich an.

 

Ich hoffe wirklich, dass Richard Kadrey nie aufhört, „Sandman Slim“ – Romane zu schreiben. In Kombination bieten Stark und seine übernatürliche Welt eine schier endlose Fläche zur Entwicklung, eine bunte Spielwiese, auf der jede noch so obszöne Idee ein Plätzchen finden kann. Ich hoffe, Kadrey schreibt sie alle auf. Ich möchte mich niemals von Stark verabschieden müssen. Irgendwann wird sich das vermutlich nicht vermeiden lassen, doch noch ist es nicht so weit.
Das Großartige an dieser Reihe ist, dass sie so unberechenbar ist, obwohl man vor dem Lesen genau weiß, worauf man sich einlässt. Stark ist ein Wirbelwind aus chaotischer Energie, der am Beginn einer Geschichte selbst nie weiß, wo er landen wird.
Kadreys Reihe ist eine Bereicherung für die Urban Fantasy – es ist eine Schande, dass sie so unbekannt ist. Darum kann ich euch nur einen Rat geben: geht los, kauft einen „Sandman Slim“ – Roman und lernt meinen Freund Stark kennen!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/12/richard-kadrey-aloha-from-hell
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review 2015-12-11 10:22
Intelligent und voller Überraschungen
Nebelmacher - Bernhard Trecksel

Bernhard Trecksel ist ein neues Gesicht in der deutschen Fantasy. Laut den Angaben von Random House entdeckte er sein Talent zum Geschichtenerzählen durch all die Zeit, die er mit Fantasy-Rollenspielen verbrachte. Schade nur, dass seine Biografie diesbezüglich nicht genauer ist, denn ich wette, es würde so einige Leser_innen interessieren, über welche Art Rollenspiel wir hier sprechen. Ich tippe auf die Spielleitung bei Pen-&-Paper-Rollenspielen, schließlich sagt Trecksel über sich selbst, er sei ein absoluter Geek.
„Nebelmacher“ ist sein erster Roman, den ich über das Bloggerportal von Random House als Rezensionsexemplar erhalten habe.

 

Als kleiner Junge stellte Clach sein Leben in den Dienst der dunklen Göttin. Heute ist er ihr ergebenster Diener und tötet, wen immer man ihm aufträgt zu töten. Er ist der Totenkaiser, der Nebelmacher, der erfolgreichste Assassine aller Zeiten, der nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen seiner Opfer auslöscht. In letzter Zeit glaubt Clach jedoch, ein Muster hinter seinen Aufträgen zu erkennen. Seine Ziele werden strategisch und systematisch ausgewählt, verbinden sich zu einem größeren Gesamtbild. Clach beginnt zu hinterfragen und stößt auf eine ungeheuerliche Verschwörung, der er unwissend in die Hände spielte. Es kümmert ihn nicht, dass er auf seiner Suche nach Antworten selbst zum Gejagten wird, verfolgt von einem alten Bekannten und einem neuen Feind.
Im Nebel läuft man leicht Gefahr, die Orientierung zu verlieren. Wird Clach einen Weg aus dem Morast voller Geheimnissen und Intrigen finden, ohne sich in ihm zu verirren?

 

„Nebelmacher“ ist definitiv der erste Band eines Mehrteilers, obwohl noch nichts über eine Fortsetzung bekannt ist. Damit habe ich vor dem Lesen nicht gerechnet, kann es aber nach der Lektüre voll und ganz nachvollziehen. Bernhard Trecksels Geschichte ist sehr fein verästelt und vereint zahlreiche Akteure und Komponenten. Es wundert mich nicht, dass er diese nicht innerhalb von 500 Seiten zu einem Abschluss bringen konnte oder wollte. Viele Fragen bleiben offen und ungeklärt, weit mehr, als ich erwartet hätte. Tatsächlich habe ich die meisten Antworten gar nicht aus der Geschichte selbst erhalten, sondern aus kurzen Abschnitten vor den Kapiteln, in die Trecksel wichtige Hintergrundinformationen verpackte und ohne die die Handlung nur sehr schwer zu verstehen ist. Selbst mit diesen Infos fand ich es kniffelig, in das Geschehen hineinzufinden. „Nebelmacher“ ist kein Buch, das sich einfach so weg liest, es ist fordernd. Auch an Trecksels Schreibstil musste ich mich erst gewöhnen, weil dieser äußerst kunstvoll ist. Die sprachlichen Blüten des Buches sind ein starker Gegensatz zu einigen sehr gewalttätigen Szenen. Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob ich diesen Kontrast mochte oder nicht. Einerseits gefiel mir die Diskrepanz zwischen Erzähltem und Erzählweise, doch andererseits irritierte mich die ungeheure Wucht dieser Szenen, weil ich nicht verstanden habe, wieso Trecksel diese exzessive Gewalt für nötig hielt. Vielleicht glaube er, seine Geschichte geriete ohne all das Blut zu trocken und verstandesbasiert – sollte das so sein, muss ich ihm vehement widersprechen. Mich beeindruckte die intelligente Konstruktion seiner Welt, vor allem das umfangreiche religiöse System, das sehr greifbar mit der Realität der Figuren verbunden ist. Allerdings ist mir noch nicht ganz klar, wie Clachs Assassinen-Orden da hineinpasst, denn anscheinend verfolgen sie mit der Verehrung der dunklen Göttin einen Glaubensweg, der abseits der Norm liegt. Insgesamt hätte ich gern mehr über die Assassinen erfahren, die Trecksel als sehr mächtig und einflussreich beschreibt. Ich bin jedoch optimistisch, dass ich in den Folgebänden weiterführende Einblicke erhalten werde.
Clach selbst ist nur einer der vier Charaktere, die in der Geschichte eine tragende Rolle spielen und deren Perspektive die Leser_innen einnehmen. Ich fand die Mischung der Figuren unheimlich interessant. Ich denke, zumindest in diesem Punkt hat sich Trecksel eindeutig von seinen Erfahrungen beim Rollenspiel inspirieren lassen, weil sie alle sehr unterschiedlich sind. Erstaunlicherweise ließ er sie jedoch nicht an einem Strang ziehen, wie es sonst in Fantasy-Romanen üblich ist. Sie bilden nicht die altbekannte Heldengruppe, die sich auf eine Quest begibt, sondern stehen einzeln für individuelle Ziele. Daher ordne ich „Nebelmacher“ eher der Low Fantasy als der High Fantasy zu.

 

Ich empfand „Nebelmacher“ als ein intelligentes Buch voller Überraschungen. Das Lesen war anders, als ich erwartet hatte, was aber auch daran lag, dass der Klappentext irreführend ist. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass Clachs Aufträge nicht von der Göttin sanktioniert gewesen wären. Dieses… nun ja, sagen wir mal Missverständnis verzeihe ich allerdings gern, denn nach dem Schreiben der Inhaltsangabe kann ich nachvollziehen, dass es nicht ganz einfach ist, die Handlung des Buches sinnvoll zusammenzufassen. Ich freue mich darauf, Bernhard Trecksels Schaffen weiterzuverfolgen. Ich wünsche ihm, dass er in Zukunft etwas Vertrauen in seine Erzählkunst entwickelt und nicht mehr auf allzu brutale Szenen zurückgreifen muss. Seine Geschichte ist auch ohne blutige Sturzbäche faszinierend.
„Nebelmacher“ ist kein Einstiegsbuch in die Fantasy. Es ist eine Lektüre für Fans des Genres, die bereits Erfahrung mit struktureller Komplexität haben, sich mutig einem komplizierten, religiösen Konflikt stellen möchten und Freude an einem kunstvollen Schreibstil haben. Trifft diese Beschreibung auf euch zu, könnt ihr euch gemeinsam mit Clach, Morven, Ormgair und Greskegard auf eine Reise durch eine Welt voller Nebel begeben – wenn ihr euch traut.

 

Vielen Dank an das Bloggerportal von Random House für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars!

 

Anmerkung: Nach dem Schreiben der Rezension habe ich herausgefunden, dass eine Fortsetzung bereits geplant ist. Diese wird voraussichtlich „Nebelgänger“ heißen und am 19. September 2016 bei blanvalet erscheinen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/11/bernhard-trecksel-nebelmacher
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