Inhalt: Sechs Lebenswege, die sich unmöglich kreuzen können: darunter ein amerikanischer Anwalt, der um 1850 Ozeanien erforscht, eim britischer Komponist, der 1931 vor seinen Gläubigern nach Belgien flieht, und ein koreanischer Klon, der in der Zukunft wegen des Verbrechens angeklagt wird, ein Mensch sein zu wollen. Und dennoch sind diese Geschichten miteinander verwoben.
(Quelle: Verlagsangaben)
Meine Meinung: Ich habe nun vier Wochen für dieses Buch gebraucht und es hat sich absolut gelohnt. Warum ich so lange gebraucht habe? Ganz einfach: "Der Wolkenatlas" ist kein Buch, das man "mal eben so zwischendurch" lesen kann. Man muss sich Zeit dafür nehmen, um sich darauf einlassen und die geniale Komplexität der Erzählung begreifen zu können.
"Zuweilen flitzt das flauschige Kaninchen Fassungslosigkeit so rasant um die Kurve, dass der Windhund Sprache perplex in der Startbox sitzen bleibt."
(S. 221)
David Mitchell hat mit diesem Buch nicht nur ein Werk geschrieben, sondern sechs geniale Einzelwerke, die auf grandiose Weise miteinander verbunden sind. Und es sind nicht nur sechs verschiedene Geschichten, sondern auch sechs vollkommen unterschiedliche Schreibstile, die sich ihre Genialität teilen, dennoch aber so verschieden sind, dass sie von unterschiedlichen Autoren stammen könnten. Jeder Handlungsstrang ist vollkommen anders als der andere. Mitchell schreibt zu gleich nachdenklich, anzüglich, aufreibend und einfach nur schön.
"Eva. Weil ihr Name ein Synonym für die Versuchung ist: Was dringt tiefer in das Innerste des Menschen vor? Weil ihre Seele in ihren Augen schwimmt. Weil ich im Traum durch samtene Vorhänge zu ihrem Zimmer schleiche. [...] Weil ihr Lachen aus einem Atemloch auf ihrem Kopf sprudelt und sich über den ganzen Morgen verprüht. Weil ein Mann wie ich kein Recht auf dieses Inbild der Schönheit hat und sie dennoch bei mir ist, in den schalldichten Kammern meines Herzens."
(S. 595f.)
Es hat mir großen Spaß gemacht, mich immer wieder in eine neue Geschichte einzulesen (auch wenn es mir das ein oder andere Mal nicht unbedingt leicht gefallen ist) und die Kleinigkeiten zu entdecken, durch die die einzelnen Handlungsstränge miteinander verbunden sind.
Im Wolkenatlas treffen die unterschiedlichsten Charaktere aufeinander, deren Handlungen und Beweggründe unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch kann man auch immer wieder gewisse Parallelen erkennen. Sie alle sind wirklich toll gezeichnet, sie wirken absolut lebendig und ich konnte ihre Taten (wenn auch nicht immer unbedingt begeistert) meist sehr gut nachvollziehen.
Besonder gefallen hat mir die Tatsache, dass Mitchell mich immer wieder überraschen konnte. Ich habe mich zu keiner Zeit gelangweilt, sondern mich im Gegenteil immer sehr unterhalten gefühlt. Darüber hinaus hat mich der Roman auch oftmals zum Nachdenken angeregt. Wenn Sonmi~451 in ihrer Oratio über den Untergang der Gesellschaft und dessen Ursachen sinniert, kommt man als Leser schon ins Grübeln, weil sich Parallelen zu unserer Gesellschaft nicht leugnen lassen.
Als einzigen kleinen Kritikpunkt möchte ich anführen, dass mir am Ende etwas gefehlt hat. In allen Handlungssträngen wird immer wieder ein Detail erwähnt, von dem ich mir gewünscht hätte, dass dessen Bedeutung am Ende noch aufgelöst würde. Vielleicht habe ich dem auch zu viel Bedeutung zugemessen oder es gab eine Auflösung, die sich mir nicht erschlossen hat ... jedenfalls fehlte mir dort am Ende einfach etwas.
Fazit: "Der Wolkenatlas" ist ein grandioser Roman, der gesellschaftskritische, humoristische und nachdenkliche Elemente in genialer, auf positive Art verwirrende Weise miteinander verbindet. Schön, wild und anders. Dafür 4,5 von 5 Sternen!
"Wirbeln die Moleküle von Châteu Zedelghem, von Robert Frobishers Hand, die vierundvierzig Jahre lang auf diesem Papier geschlummert haben, jetzt durch meine Lunge, mein Blut?
Wer vermag das zu sagen?"
(S. 574)