"Die im Rauchzimmer des Crown Hotel versammelten zwölf Männer wirkten, als hätten sie sich dort zufällig eingefunden. Aus ihrem Betragen und ihrer Kleidung zu folgern - Gehrock, Frack, Seemannsjacken mit Gürtel und Beinknöpfen, gelber Moleskin, Kammertuch und Serge -, hätten sie zwölf Fremde in einem Eisenbahnwaggon sein können, jeder von ihnen auf dem Weg zu einem anderen Viertel einer Stadt mit genug Nebel und Wasserläufen, um sie voneinander zu trennen; und wahrhaftig bewirkte die absichtsvolle Absonderung jedes Einzelnen, wie er über seiner Zeitung brütete, sich vorbeugte, um seine Tabakasche in den Kamin zu schnipsen, oder die gespreizte Hand auf den grünen Flanell legte, um den nächsten Billardstoß abzuwägen, ebenjene Art geradezu greifbarer Stille, wie sie spätabends in der Eisenbahn eintritt - doch hier nicht vom Schnaufen und Rattern der Wagen übertönt, sondern vom lauten Prasseln des Regens.
Diesen Eindruck gewann Mr Walter Moody, als er in der Tür stand, die Hand am Türrahmen." (S. 15)
Welch vielversprechender Beginn (hier gelesen von der Autorin selbst: https://www.youtube.com/watch?v=J6tm6s89qqQ)! Und welch bezeichnender. Ausführliche, lange Sätze, gelegentlich ein wenig umständlich und eine Erzählerfigur, die sich immer wieder einmischt. Denn der eigentliche Beginn ist kursiv vorangestellt und fasst die Handlung des ersten Kapitels, "Merkur im Schützen", zusammen:
"In welchem Kapitel ein Fremder nach Hokitika kommt, eine geheime Versammlung gestört wird, Walter Moody seine neuesten Erinnerungen verbirgt und Thomas Balfour eine Geschichte zu erzählen beginnt."
Diese Geschichte dauert bis Seite 441, dem nächsten "Merkur im Schützen" betitelten Kapitel, mit dem wir ins Hier und Jetzt, also der auf Seite 15 geschilderten Situation im Rauchersalon des Crown Hotels zurückkehren. In der Zwischenzeit hat jedoch nicht nur Thomas Balfour eine Geschichte erzählt, nein, fast alle der Anwesenden 12 Männer hatten ihre Blickwinkel bereits in den Fokus gerückt. Das ist nicht wirklich linear, sondern eher wie eine Serie, die zwischen verschiedenen Figuren hin- und her schneidet. (Montage im Film)
Stilistisch irritierend, da bislang (ich bin auf Seite 450) noch nicht aufgelöst, finde ich die Angewohnheit, Figuren durch den auktorialen Erzähler zu charakterisieren. Auf dieses Stilmittel - das in einigen englischsprachigen Rezensionen explizit gelobt wird - hätte ich oft verzichten können, da es meist beschrieb, statt zu zeigen. Persönliche Eigenschaften der Figuren wurden vom Erzähler behauptet, um den sich meist im Zwiegespräch Befindlichen mehr Tiefe zu geben. Das ermüdete mich doch nach einiger Zeit sehr. Die Sprache (übersetzt von Melanie Walz) ist nach dem kalten, klaren "Flammenwerfer" (Rachel Kushner, übersetzt von Barbara Abarbanell) und dem sprachlich harmlosen "Ruf des Kuckucks" (Robert Galbraith, übersetzt von Wulf Bergner) überbordend bis gelegentlich antiquiert (allein die Thomas Mann Länge der Sätze!), passt jedoch zur Zeit (27. Januar 1866) und zum Erzähler. Trotz dieser minimalen Störfaktoren hat mich das Buch schnell in seinen Bann gezogen und sehr überrascht.
Nun, da ich das Buch beendet habe, ist die Verblüffung eher noch gewachsen. Bis fast zur Hälfte des Buches blickt man auf Ereignisse zurück, die in der Vergangenheit liegen, danach wird linear nach vorne erzählt - und in einem großartigen Gerichtsverfahren durch Walter Moody für Gerechtigkeit gesorgt. Danach springt das Buch erneut zeitlich und erzählt nun die Geschichte, die den von Seite 15 bis 441 geschilderten Ereignissen zuvor liegen - zugleich eine zarte Liebesgeschichte. Wie Elizabeth Knox (ebenfalls Autorin und Ehefrau des neuseeländischen Verlegers von Eleanor Catton), die in Neuseeland die Rede zur Veröffentlichung von "The Luminaries" hielt, feststellte (Link zu ihrer Rede), kommt der Name "Die Gestirne" von der astrologischen Erzählordnung, die Catton dem Buch gibt: Das Buch besteht aus 12 Kapiteln, jedes davon ist halb so lang wie sein vorhergehendes Kapitel (das fällt vor allem im letzten Viertel des Buchs auf, wo die kursiven Einleitungen bzw. Kapitelzusammenfassungen irgendwann genau so lang wie der eigentliche Kapiteltext werden). Erzählerisch eingebunden wird diese formale Vorgabe auch - wie ich fand, fast unnötig, da nicht vollends überzeugend (für mich).
Leider bin ich in der viktorianischen Literatur nicht bewandert genug, um die Leseeindrücke der Goodreads-Rezensentin Rebecca Foster aus eigener Erfahrung zu bestätigen:
"It has all the elements of a pitch-perfect Dickensian mystery novel: long-lost siblings, forgeries, opium dens, misplaced riches, a hidden cache of letters, illegitimate offspring, assumed identities, a séance, a witty and philosophical omniscient narrator’s voice, and so on. If this was a Victorian paint-by-numbers competition, Catton would have top marks."
Danach kommt sie jedoch zum Schluss, dass dem Buch ein Herz fehle - und dem kann ich nur widersprechen. Ein faszinierendes Leseerlebnis, das mich zwar nicht komplett überzeugen konnte, das mich aber umso intensiver beschäftigt hält.
von Eleanor Catton
übersetzt von Melanie Walz
btb-Verlag, Hardcover, November 2015
(Das Buch wurde mir netterweise als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt)