- Ende -
Wehmütig blicke ich auf diese vier Buchstaben. Dieses Wort, so unscheinbar und kurz, beendet zu meinem Bedauern eine Reise durch ein wunderbares Buch, welches mich gleichermaßen faszinierte, großartig unterhielt und einen tiefen Blick in die Lebensgeschichte dreier Personen gewährte. Personen, die wirklich gelebt und erlebt haben, und deren Geschichten in ihrer Einzigartigkeit bis heute unvergesslich überlebt haben. Nun fanden sie Einzug in das neueste Werk des Schweizer Wortvirtuosen Alex Capus, welcher einem Nobelpreisträger der Physik, einer attraktiven Spionin und einem talentierten Kunstfälscher die Hauptrollen in seinem Roman »Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer« aus dem Hanser Verlag verlieh.
Drei Helden wider Willen
Ein Tanz durch die Geschichte, auf den Spuren eines jungen Mädchens, die Sängerin werden wollte und am Ende mitten in die Wirren des Krieges gezogen wurde. Ein Rebell, welcher schon früh seine blaue Jacke tragen wollte, sich nicht in eine Schublade schieben ließ und als Erbauer einer Kriegsmaschine mit seinem Gewissen zu kämpfen hat. Eine Ode an die Kunst, deren Wege manchmal auf ungewöhnliche Weise zum Erfolg führen, einen Künstler begleitend, der sein Talent nutzt, um Geschichte lebendig werden zu lassen – wenn auch recht frei interpretiert.
Ein wahrer Meister der Erzählkunst
Während ich die Zeilen dieses Buches lese, messe ich in Wahrheit eine Flut von Photonen – Schwingungen des Lichtspektrums reizen Sinneszellen in meinen Augen – und verschiedene Regionen meines Gehirns setzen Buchstabe für Buchstabe elektrisch in eine greifbare Geschichte um. Eine Geschichte, die von Möglichkeiten lebt, von Lücken im Kontinuum – ein abstraktes ´Vielleicht´ durchzieht mich ebenso wie die Charaktere in diesem Buch. Ich beginne nachzudenken – meine Phantasie formt Bilder, und ich frage mich, ob eben diese Bilder vielleicht gar nicht existieren, solange sie kein Anderer wahrnimmt? In den drei metaphorisch stark beseelten Geschichten um Felix Bloch, Emile Gilliéron und Laurea d‘Oriano ist ein Zusammentreffen dieser Drei theoretisch möglich – lediglich beweisbar durch die unmittelbare Anwesenheit eines Augenzeugen, welcher hier jedoch stumm bleibt – bleiben muss, denn so obliegt es dem Leser eben jene Lücken zu füllen, welche auch die Protagonisten auf ihrem Lebensweg zu füllen haben.
Des Menschen Wissen ist immer lückenhaft, das ist unser Schicksal. Nur deshalb tragen wir letztlich Glaube, Liebe und Hoffnung in unseren Herzen – damit wir diese Bruchstücke unseres Wissens in Beziehung zueinander bringen und daran glauben können, dass das alles hienieden einen Sinn hat. – Seite 148
So wie ich nach dem Zuklappen des Buchdeckels auf die erlebte Geschichte zurückblicke, so schwermütig schweift der Blick der auf dem Cover abgebildete junge Dame in die Ferne, während sie auf einem Geländer an einer Hafenanlage sitzt, Schiffe beobachtet und sich vielleicht wünscht, an einem ganz anderen Ort zu sein – oder es gar schon ist, und nun auf Vergangenes zurückblickt. Ich weiß es nicht, werde es nie wissen – und das ist gut so. Mein Verstand akzeptiert beide Realitätszustände, bis der unmittelbare Beweis des Gegenteils meine Ansicht – meine Realität – verändert. Es ist bereits vor dem Lesen des Buches offensichtlich, dass der Verlag die Spionin als Covermotiv auswählte, der einzigen weiblichen Figur des Buches. Warum? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur: diese Szene wirkt authentisch, verströmt eine nostalgische Atmosphäre, was durch die bläuliche Farbgebung noch unterstrichen wird. Ein Cover, das den Sinnen schmeichelt und Appetit auf den Hauptgang zwischen den Seiten macht.
Wortpoesie
Bevor ich in die Leserunde startete, informierte ich mich ein wenig über den Autor, sah mir seine Buchtrailer zum Roman an, schmunzelte über seinen Humor und empfand sogleich großes Interesse für diesen Mann und seine Ideen. Alex Capus’ Leser schwärmten von »Leon & Louise« und empfahlen mir, auch diesen Roman zu lesen und so ist dies dann auch mein erstes Buch des sympathischen Schweizers geworden und es wird sicher nicht mein letztes sein, denn dieser Mann versteht es mit einprägsamen Worten, feinen Metaphern, eleganten und eloquenten Formulierungen und bildgewaltiger Sprache zu schreiben und darüber hinaus hat er eine ausgeprägte Vorliebe für Sätze, die sich schon mal ohne Unterbrechung über eine halbe Seite ausdehnen. Na? War der letzte Satz schwierig zu lesen? Ist euer Gehirn nach dem dritten Komma ausgestiegen und hat sich auf einer Wolke des Vergessens niedergelassen? Alex Capus kann das noch länger – und viel besser, so dass es trotz allem ein Leichtes ist, dem Inhalt folgen zu können. Er fesselte mich an seine Worte, ließ mich nicht los und konnte meine volle Aufmerksamkeit in jeder Sekunde des Lesens voll für sich verbuchen. Eine sehr anheimelnde Form von Tiefgründigkeit schwimmt auf der Oberfläche seiner Sätze und sorgt für intensiven Lesegenuss, Seite um Seite. Wort für Wort. Schon lange nicht mehr sah ein Buch nach dem Beenden so wie auf diesem Foto aus, über und über vollgespickt mit meinen Buchdarts, welche interessante Textstellen markierten. Interessant, einprägsam und auf das eigene Leben anwendbar. Kostprobe gefällig?
Sie ist eine erfahrene Reisende und weiß, dass man einander normalerweise nur einmal im Leben begegnet, weil jede vernünftige Reise in möglichst gerader Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel führt und zwei Geraden sich nach den Gesetzen der Geometrie nicht zweimal kreuzen. – Laura d’Oriano, Seite 12
Die variable Konstante
Doch was macht dieses Buch – diese Erfahrung – so einzigartig? Ist es die Perspektive des Erzählers, welche so wirkt, als ob ein Urgroßvater in seinem Ohrensessel sitzt, die Enkelkinder und Urenkel vor ihm auf dem Fußboden, und der alte Mann beginnt damit, aus seinem reichen Erfahrungsschatz zu plaudern? Oder sind es die sehr lose wirkenden Handlungsfäden, welche aber durch abstrakte Ähnlichkeiten doch enger verbunden sind, als man vielleicht auf dem ersten Blick zu ergründen vermag? Das geniale Spiel mit Metaphern, welche ihre wahre Bedeutungskraft dadurch entfalten, weil sie ursprünglich in den Gedankenwelten der jeweils anderen Protagonisten wurzeln – gepaart mit dem nicht Greifbaren, den Lücken. Theoretische Physik, Wunschträumerei und das Rekonstruieren partiell zerstörter Kunstobjekte liegt eine Gemeinsamkeit zugrunde, die aus Leere besteht – der Unwissenheit darüber, was Wahrheit ist und was nicht, füllen alle drei Protagonisten auf ihre ganz eigene, aber doch so universelle Weise aus. Alles ist verbunden – selbst das, was wir nicht wissen.
Anfangs fiel mir der Sprung zwischen den drei Hauptfiguren, zumindest auf den ersten 150 Seiten, ein wenig schwer. Doch spätestens, nachdem ich alle Drei kennengelernt hatte, spürte ich förmlich den Atem der Geschichte. Ich reiste mit dem Fälscher vom kleinen Dörfchen Villeneuve in die weite Welt, atmete den Staub der aräologischen Ausgrabungsstätten Schliemanns ein und hörte eine Melodie im Kopf, wenn Laura d’Oriano des Abends in einer verrauchten Kneipe ihre Gesangskünste zum Besten gab. Ich erfreute mich gleichermaßen an der Musikalität der Familie d’Oriano wie an der sanften Brise, die am Hafen von Nizza wehte. Ich nahm mit Begeisterung Anteil an Felix Blochs Forschungen der theoretischen Physik und konnte mit gutem Gewissen sagen, dass mir die Naturwissenschaften noch nie auf so interessante Art und Weise vermittelt bekommen habe.
Dieses Gefühl nämlich, in das sie so lange ihre Zukunftshoffnungen gesetzt hatte, war nichts weiter als das Betriebsgeräusch der Seele, das jeder lebendige Mensch in sich vernimmt, wenn er im Weltengetümmel mal kurz innehält und ein bisschen auf sich achtgibt. – Laura d’Oriano, Seite 87
Von den späten Folgen des einen, und dem Aufkeimen und Ausbruch eines neuen Krieges umrahmt, werden die Schicksale der drei Hauptfiguren in Bahnen gelenkt, welche wir als Beobachter – und wenn wir uns mit den Figuren auch im richtigen Leben beschäftigt haben sogar Wissende – wahrnehmen können. Wir tauchen in ihre Gedankenwelten und werden Zeuge moralischer Abwägungen im Kontext dieser einzigartigen Zeit. Besonders die Geschichte um den jungen, intelligenten Bloch, welcher mit seinen Gedanken hadert, sie verwirft – neu überdenkt und sich dann seinem Schicksal fügt, ist sehr gelungen und fast möchte ich behaupten, dass dieser Charakter in dem Buch eine stärkere Präsenz besitzt als die anderen zwei. Aber das mag nur ein Gefühl sein, welches ich persönlich so empfunden habe. Der Physiker wirkte auf mich einfach am interessantesten, eben jenen Mann, der “im Leben unbedingt etwas Schönes, Nutzloses und ganz und gar Zweckfreies zu machen” (Seite 57) gedachte. Ich erinnere mich gut an die Stelle, als Alex Capus die entsetzlichen Verbrechen der Nazis auf seine metaphorische, und doch stellenweise sehr direkte Art zu Papier brachte und mir ein, zwei Mal bedrückende Übelkeit in den Magen steigen ließ.
Es war für den Jüngling eine Offenbarung, dass es in dieser aus den Fugen geratenen Welt etwas so Klares und Schönes wie das Verhältnis von Zahlen zueinander gab. – Felix Bloch, Seite 16
Ich könnte noch eine ganze Weile weitere Zitate aus diesem wunderbaren Buch niederschreiben, doch würde ich euch den Kern des Buches vorwegnehmen und das möchte ich natürlich nicht. Ich kann es nur sagen: Genießt diesen Roman, erlebt ihn!
Mein Fazit: Was ist der Wert der Wahrheit? Gibt es sie im Angesicht so vieler Lücken in dem was wir Wissen nennen überhaupt, oder können wir uns ihr nur annähern? Alex Capus breitet in diesem anspruchsvollen Buch sein Metapherngeflecht aus und lässt seine historischen Figuren darunter handeln, fühlen – und vor allem denken. Es ist keine leichte Zwischendurch-Lektüre, welche einfache Antworten parat hat, sondern ein stark konstruiertes Märchen, dass sich Fragen stellt wie: Was könnten sie in jenen Momenten gedacht haben? Welche Pfade könnten sie beschritten – welche ausgelassen haben? Mit überlangen Sätzen und genialen Metaphern erschafft der Autor einen spannenden Zugang in die Geschichte(n) und lässt sie durch bildgewaltige Sprache lebendig wirken. Ein Roman, wie geschaffen für Freunde des Autors, für Leser abspruchsvollerer Literatur, die gleichsam in Worten versinken und gleichzeitig intellektuell unterhalten werden wollen. Göttliche Lektüre!
Meine Wertung:
Prädiakt »Besonderes Buch« der Büchernische – Kategorie Roman