Dank Mitlesezentrale konnte ich zwei Favoriten aus jüngeren Jahren im Januar 2020 noch einmal im freundschaftlichen Umfeld lesen: Victor Hugos <i>Notre Dame de Paris</i> (1831) und Stendhals <i>Rot und Schwarz</i> (1830) beide in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstandenen Romane ächzten schon länger unter der Last von historischen fünf Sternen, denn die beiden Klassiker hatten mich 1980 (Hugo) bzw. 1985 (Stendhal) massiv beeindruckt.
Der Klassikerbonus spielte seinerzeit ebenso eine Rolle wie der Umstand, dass ich mich mit den Helden oder einigen Protagonisten identifizieren konnte. Dieser Faktor fällt mit zunehmender Lebenserfahrung weg. Ein typisches Beispiel dafür ist meine Reaktion auf Julian Sorels Eroberung von Frau von Renal. Im Frühjahr 1985 war ich stolz auf das Meisterstück den jungen Helden und seine Trophäe, im Januar 2020 lautete mein erster Gedanke: <i>Junge, was hast du dir da bloß angetan?</i>.
Es spricht für Stendhals Meisterschaft oder Menschenkenntnis, dass Juliens Verhängnis so früh und unmittelbar spürbar ist, trotzdem hat <i>Rot und Schwarz</i> bei mir zwei Sterne verloren, während Quasimodo und Co, trotz frischer Einsichten in die gelegentlich arg ächzende Dramenmechanik von Victor Hugos historischem Roman, ihre fünf Sterne behalten haben. Der Autor des Glöckners beherrscht sein Handwerk, auch wenn manche Konventionen der Entstehungszeit eine Quälerei für Leser späterer Generationen bedeuten, Stendhal dilettiert dagegen bei seinem bahnbrechenden Feldzug gegen die Heuchelei der Restaurationszeit und verliert dabei jedes Maß in der französischen Variante von Stolz und Vorurteil ohne glücklichen Ausgang. Das Generalthema seines durchaus antiklerikalen Romans ist zwar der Unterschied zwischen Haltung und Heuchelei, mit den Unterthemen Liebe und Selbstverständnis, Wahrheit des Gefühls und gesellschaftlicher Anspruch, aber die einzelnen Situationen sind zu sehr der Wahrheit des Augenblicks verpflichtet und folgen ziemlich unvermittelt aufeinander. Eine kongruente Psychologie ist nicht vorhanden, Julien, Frau von Renal und Mathilde de la Mole fallen unvermittelt von einem Zustand des Glücks in aggressive Reueorgien oder Anfälle von Adelsstolz zurück.
Eine ausgefeilte Psychologie stand damals bei den allerwenigsten Autoren auf der Agenda, meiner Ansicht nach kommt Stendhal beim Geschlechterkampf nicht viel über die Hassliebe der <i>Gefährlichen Liebschaften</i> hinaus, obwohl der Adelsstolz einer Restaurationsprinzessin und deren Bewunderung der Renaissance auf Kosten der Gegenwart das geistige Klima jener Epoche gut einfangen. Allerdings bleiben alltäglichen Details so ziemlich auf der Strecke, wenn man einen Roman von Balzac zum Vergleich nimmt. Kein Wort davon, wie die Leute auf ihre Kosten kommen, wie neue technische Verfahren alte Handwerke verändern, nun gut als gescheiterter Druckereibesitzer, Verleger und Journalist besaß Balzac Erfahrungen in diesem Gewerben aus erster Hand, um die Vergleichsgröße <i>Verlorene Illusionen</i> anzusprechen. Ohne die Vorarbeiten Stendhals in <i>Rot und Schwarz</i> hätte sich die ungleich umfassendere Begabung aber vielleicht viel länger auf den Spuren von Walter Scott abgearbeitet.
Selbstbeobachter Stendhal schöpfte dagegen sämtliche Seelenzustände und Verhaltensmuster seiner Protagonisten, sofern sie nicht an Vorbilder aus besseren Zeiten angelehnt waren, aus sich selbst. Bis hin zu den Maßnahmen mit denen Mathilde ihre Voltaire-Ausleihen aus der väterlichen Bibliothek bemäntelte, genauso ging der junge Henri Beyle mit der Voltaire-Ausgabe seines Vaters um.
Bei der bislang auf reine Mutterliebe beschränkten, sonst aber emotional unerschlossenen Frau von Renal begeht der schöne Jüngling gewissermaßen eine Todsünde aus Unerfahrenheit, die sich später rächen wird, zumal die Religion mit ihren zweifelhaften Ratgebern die einzige Zuflucht für die vollkommen aus der beschränkten Zufriedenheit früherer Jahre geworfenen Frau bleibt.
Das höhere Prickelpotenzial hätte eigentlich die Liebschaft mit Mathilde de La Mole, einer launischen Rebellin gegen die Zumutungen eines faden Zeitalters, die ihren wunderschönen Urahn vergöttert, der ein Verhältnis mit Margarethe von Navarra hatte, als ihr glückloser Ritter oder Retter enthauptet wurde. Nach der Hinrichtung holte sich die Prinzessin vom Henker die sterblichen Überreste und ließ das Haupt einbalsamieren. Den Kuss der Königin wird Mathilde am Ende mit dem Kopf ihres Favoriten wiederholen.
Haltung oder Pose als Reaktion gegen die Mittelmäßigkeit der Restaurationsära, die Tochter des Hauses liebt den schönen Sekretär als Rebellen, weniger um seiner selbst willen. Falsche Handlungsmuster führen zu Liebesentzug, zumal der hochadeligen Dame bei der Liebschaft mit dem armen Bürgerlichen auch noch ständig ihr Selbstbewusstsein in die Quere kommt.
Wenn Stendhal die Liebesgeschichte des zweiten Teils wenigstens so klar und in gebotener Kürze auf den Punkt gebracht hätte. Tatsächlich gehen die Stimmungswechsel ziemlich unvermittelt über die Bühne, Überschwang und Ungnade kommen meist sehr unvermittelt und geraten streckenweise sehr widersprüchlich. Phasenweise bewegt sich das Verhältnis Julien Mathilde zwischen Leserquälerei und Zeilenschinderei, habe mir mehr als einmal gewünscht, der Stoff wäre von einem Heinrich von Kleist im Novellenformat bearbeitet worden.
Die oben angesprochenen Inkongruenzen gehen aber auch auf die Arbeitsweise des Autors zurück, der sich bei der Verarbeitung eines bekannten Kriminalfalls keine Gedanken über das Ende machen musste, sich auf dem Weg zu den fatalen Schüssen auf die Ex-Geliebte eher durch literarisches Neuland wurschtelte und dabei keinen Blick zurück warf. Stendhal las nicht, was er am Tag zuvor geschrieben oder diktiert hatte. Am Ende ereilte ihn dann das Schicksal der meisten Vorsichhindichter: Stendahl fiel, wie auch sein Personal, in vermeintlich überholte oder eigentlich bekämpfte Routine der restaurativen Romantik zurück. Bei seiner Entscheidung gegen die weitere Existenz mit ihren Verpflichtungen zur Heuchelei und die Wahrheit einer finalen Liebe ist Julien so Erlösungsbesessen wie die Heldinnen und Helden des gerade noch so verspotteten Chateaubriand.
<b>Subjektive Einordnung in den literarischen Kontext</b>
Die stilistische Ebene des Romans ist gewissermaßen das Pendant zu den psychologischen Inkonsistenzen, obwohl man literaturhistorisch sogar so etwas wie eine Entwicklungsgeschichte des 18. Jahrhunderts als Subtext hinein interpretieren kann.
Rot und Schwarz beginnt wie ein pikaresker Roman, ein hübscher Hochstapler, der nicht nur optisch vollkommen aus der Familientradition fällt, wird Hauslehrer bei reichen Leuten und verführt die Dame des Hauses. Sprung zu Rousseaus Emfindsamkeit, dessen <i>Nouvelle Héloise</i> auch als Türöffner bei schönen, aber bislang menschlich verkannten Louise funktioniert. Nach einiger Zeit sorgt die Dienerschaft für Szenen á la Beaumarchais, die Zeit im Seminar ist das Pendant zu Diderots <i>Réligieuse/Die Nonne</i>, mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Julien nie fromm war, aber wohl auch das Kuckucksei eines Adeligen. Voltaire wird eher als Schreckgespenst zitiert, wiewohl sich Mathilde auch als <i>Prinzessin von Babylonien</i> fühlen kann. Denn der schöne Sekretär schlägt die hochadeligen Bewerber ebenso souverän aus dem Feld wie der einfache Hirte die Könige von Ägypten, Indien und Skythien in Voltaires Märchen. Nächster literarischer Bezugspunkt sind Laclos <i>Gefährliche Liebschaften</i>, denn die Liebesgeschichte ist auch ein Wettstreit der Egos. Das Vorbild für die Parallelwerbung mit den gefälschten Liebesbriefe will mir gerade nicht einfallen, für die Spionagehandlung gibt es sicherlich auch zeitgenössische Vorläufer, die Schüsse auf die frühere Geliebte, kamen gar aus der Tageszeitung. Zuletzt endet das Buch mit dem schon angesprochenen Rückfall auf die eigentlich verhasste kopfhängerische Romantik Chateaubriands, dem literarischen Hausgott der Restaurationsära.
Wirklich originell sind nur Stendhals eigene Erfahrungen, leider wurden sie viel zu zufällig in den Roman eingebracht, um einen schlüssigen Eindruck zu hinterlassen. Trotzdem wirkte Rot und Schwarz sehr anregend auf die schreibenden Zeitgenossen und die nächste Generation. Auf Balzac, der seinen Erfahrungsvorsprung in die Ausgestaltung der Motive in größerem Umfeld einbrachte, habe ich schon angespielt. Allerdings flüchten die hochadelige Provinzdame und ihr schöner Liebhaber gemeinsam nach Paris, ehe die gesellschaftlichen Realitäten zu einer Feindschaft führen, die Luciens Karriere erst mal den Todesstoß gibt.
Alexandre Dumas machte dem aktuellen Favoriten der Reine Margot zum Haupthelden seiner Bartholomäusnacht und gestaltete die historische Kuss-Szene überaus ausführlich (brillant auch die Chéreau-Verfilmung mit Isabella Adjani und Vincent Perez), schob in der Fortsetzung <i>Die Dame von Monsoreau</i>, aber einen weitaus fähigeren Fechter und Liebhaber hinterher. Flauberts <i>Education Sentimentale</i> variiert das Thema schöner und begabter Provinzler liebt eine schöne Dame und kommt zeitweilig in Paris zum Erfolg weiter, ehe Guy de Maupassants Bel ami die Verführung von einflussreichen Ehefrauen größer denn je schreibt und dabei zu den pikaresken Wurzeln zurück kehrt. Mit <i>Schlaraffenland</i> schreibt der junge Heinrich Mann eine deutsche Variante, die im Berlin auf dem Höhepunkt des Naturalismus spielt und neben allerlei Seitenhieben auf die spießigen Salons des Wilhelminismus auch eine herrliche Parodie auf Gerhart Hauptmanns Weber enthält.
Fazit: Ohne <i>Rot und Schwarz</i> und die bahnbrechende Umformulierung des Schelmenromans zur Aufsteigergeschichte eines Außenseiters wären viele wunderschöne Bücher vielleicht nie entstanden. Die Verklärung der französischen Renaissance auf Kosten der teilt Stendhal mit seinen Zeitgenossen Victor Hugo (Notre Dame das Paris) und Balzac, dessen Romane mit einer beinahe obligatorischen Schilderung von fast schon verschwunden Spuren alter Pariser Architektur beginnen. Stendals Pionierleistung beginnt mit dem Rückgriff auf zahlreiche Genres des während der Restauration verpönten kritischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Durch des Einbringen eigener Erfahrungen, vielleicht in Anknüpfung an Rousseaus <i>Selbstbetrachtungen</i>, erschließt Stendhal von der Verlogenheit der restaurativen Romantik verbaute Gefühlsregionen und schlägt damit eine Schneise für andere Autoren. Bei einer anderen Arbeitsweise wäre vielleicht mehr drin gewesen als die Rolle eines Meilensteins, ein Meisterwerk ist <i>Rot und Schwarz</i> ganz sicher nicht, etliche Zeitgenossen verstanden ihr Handwerk und auch die Ausdeutung der Welt so viel besser.