Dieser großartige Roman über die Schuhfabrikantendynastie Bat‘a bedient punktgenau eine meiner Jugenderinnerungen. Als Kind, Jugendliche und junge Frau habe ich immer die liebevoll dekorierten Schaufenster des Bat‘a Geschäfts in der Linzer Landstraße betrachtet, manchmal etwas probiert, aber nie etwas gekauft. Diese wunderschönen Designer-Schuhe waren trotz der moderaten Preise einfach zu teuer für mich. Insofern war es sehr spannend, hinter die Kulissen der Familie und des Weltkonzerns zu blicken.
Leider beschlich mich auch gleich das Gefühl, dass ich selbst schuld bin, weil ich mit diesem Buch nicht so gut zurecht gekommen bin, wie ich gehofft hatte, denn ich konnte mich einfach in letzter Zeit nicht ordentlich konzentrieren. Auf Grund eines Bandscheibenvorfalls, Schmerzmitteleinnahme, Angst vor einer Corona-Ansteckung beim Arzt durch die dringend notwendigen Mobilisierungsmaßnahmen und argen Existenzproblemen, konnte ich bei diesem Roman nicht ständig am Ball bleiben, meine Gedanken schweiften immer wieder ab, dabei ist hier doch zumindest bis weit über die Mitte der epischen Familiensaga ein gehöriges Maß an Fokussierung und Konzentration notwendig, um die gewöhnungsbedürftigen Perspektivenwechsel aus der Sicht der vielen Bekannten und Familienmitglieder zu erfassen und die Handlung auch chronologisch korrekt zusammenzusetzen. Tja, die Geschichte war für mich bis zu zwei Dritteln der Dauer doch ganz schön irritierend und gehörig dekonstruiert. Sozusagen eine zerschnipselte Biografie mit vielen Figuren, die ihre Sicht der Dinge stroboskopartig ohne durchgängigen Zeitablauf darlegten.
Wenn schlussendlich das Gebäude aufgebaut ist und die einzelnen Ziegel darin sortiert sind, gibt es aber ganz großes Kino. Die wahre Geschichte der Schuhfabrikanten Bat’a hat wirklich alles: Flucht vor den Nazis ins Ausland, ein bisschen Hundert-Jahre-Einsamkeit-Feeling durch den Neu-Aufbau einer Fabrikstadt mitten im Dschungel von Brasilien, eine wahrhaft spannende politische Komponente durch den Kampf mit den tschechischen Behörden um die Restitution des Familienvermögens nach dem zweiten Weltkrieg und nach der erneuten Enteignung durch die Kommunisten und zu guter Letzt auch noch eine fiese, finstere Intrige innerhalb der Großfamilie zusammen mit politischen Handlangern, das Familienvermögen unverdient an sich zu reißen.
Jan Antonin Bat’a, tschechischer Großunternehmer und Visionär, wurde von den Nazis als Jude verfolgt, von den Kommunisten als Nazi verleumdet und stand auch noch bei den Briten, Amerikanern und den Tschechen auf der schwarzen Liste, weil alle ganz gierig darauf waren, sich die jeweiligen weltweit verstreuten Fabrikniederlassungen des Schuhkonzerns durch Enteignung unter den Nagel zu reißen. Am Ende hat sich der Sohn seines Halbbruders, der mit den Kommunisten kollaborierte und Originaldokumente verschwinden ließ, die Fabrik geholt, obwohl er überhaupt nicht Eigentümer war. Erst nach dem Tod von Jan Antonin Bat’a – lange nach der Öffnung des Ostblocks – wurde dieser auf Betreiben seiner Töchter endlich zumindest in Bezug auf seinen Ruf rehabilitiert.
Ein Motto der gesamten Saga könnte man in einem Satz auf Seite 17 zusammenfassen, auch wenn es mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte und auf vierhundert Buchseiten ausgearbeitet wurde.
Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen wie Öl auf dem Wasser.
Der Familienpatriarch versucht unermüdlich, seinen guten Ruf wiederherzustellen und die Wahrheit, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges und des Kommunismus verlorengegangen ist, zu Tage zu fördern. Dabei verzweifelt er nicht und ergeht sich nicht in allgemeiner Misanthropie sondern baut unermüdlich und fleißig am anderen Ende der Welt ein noch größeres Imperium auf, als jenes, das er schon verloren hat.
Glaube ich immer noch und nach allem, was war, an die Menschheit und ihre Mission? An eine vernunftbestimmte, humane Zukunft? Ich würde gerne Nein sagen. Denn nur ein Verrückter könnte nach den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, noch an die Vernunft, die Gerechtigkeit und die Menschheit glauben, geschweige denn an eine vernünftige, humane Zukunft. Aber letztlich war ich immer ein Verrückter. Heute würde man sagen ein „Freak“.
Selbstverständlich gibt es auch hier wie in jedem Familienepos unzählige sehr liebevoll und tief entwickelte Figuren quer durch die Generationen, aber das ist bei mir ohnehin ein Hygienefaktor in diesem Genre. Zudem bin ich von der außerordentlichen Sprachfabulierkunst der Autorin Markéta Pilátová schon seit letztem Jahr restlos begeistert, als ich sie Euch im Rahmen der Reihe Tschechische Auslese mit dem Kurzroman „Der Held von Madrid“ bereits wärmstens auf diesem Blog ans Herz gelegt habe.
So schildert der serbische Schwiegersohn von Jan Antonin Bat’a seine Diaspora aus Europa folgendermaßen:
Ich sammelte mein Schusterwerkzeug zusammen und machte mich zu Fuß über Italien nach England auf, wo ich mich den Alliierten anschloss. In der Zelle hatte ich mir auch geschworen, dass ich in einer möglichst weiten Landschaft leben würde, dass mich niemand mehr irgendwo einsperren würde. Aber dass ich einmal achttausend Hektar brasilianischen Urwald besitzen würde, hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen. Nun hatte ich als Partisan nicht für die Kommunisten gekämpft, sondern für König Petar. Dragoslav und ich konnten uns also ausrechnen, dass wir nach dem Krieg nicht sonderlich beliebt sein würden. Man musste nur einmal tief durch die Nase einatmen, und es stank bereits nach neuen Gräueln. […]
Also ließ Dragoslav seinen Finger über der Weltkarte kreisen und Brasilien gefiel uns nicht schlecht, weil es so riesengroß aussah und weil unserer Vorstellung nach viele Menschen dort barfuß gingen, denen wir Schuhwerk anfertigen konnten, wie unser Vater es uns beigebracht hat. Nach diesem Krieg konnte uns nichts mehr schrecken. Wir fürchteten weder Teufel noch irgendwelche Krokodile, Schlangen oder Urwaldindianer.
Fazit: Absolute Leseempfehlung für diese großartige Familiensaga, die Presseagentin, die mich immer mit österreichischer Literatur von unterschiedlichen Verlagen versorgt, meinte sogar, sie hätte was von „Krieg und Frieden auf Tschechisch“ und dem kann ich auf jeden Fall zustimmen. Bitte lernt aber aus meinen Fehlern und sucht Euch ein ruhiges Platzerl und eine ruhige Zeit, um das Buch zu lesen, denn mit Hummeln im Hirn hat man einfach weniger Freude daran.