Die „Sandman Slim“-Reihe von Richard Kadrey spielt in Los Angeles. Da Kadrey die Stadt gut kennt, obwohl er selbst in San Francisco lebt, kann er der Handlung seiner Romane konkrete Landmarken zuordnen. Ich habe ein kurzes Video entdeckt, in dem Kadrey einige wichtige Orte in L.A., die im sechsten Band „The Getaway God“ eine Rolle spielen, vorstellt. Das war wirklich interessant, denn dadurch kann ich mir die Straßen, durch die sein Protagonist Stark so oft mit seiner Höllenmaschine donnert, wesentlich besser vorstellen. Das einzige Manko des Videos besteht darin, dass es nicht regnet. In „The Getaway God“ steht L.A. nämlich die Apokalypse bevor – und dem sonnenverwöhnten Kalifornien kündigt sich diese natürlich als Dauerregen an.
Manche Leute würden alles tun, um ihre eigene Haut zu retten. In Zeiten der Apokalypse kann „alles“ sogar bedeuten, sich einer Sekte anzuschließen, die jenen uralten Göttern huldigt, die die Welt zu verschlingen drohen. Die grausigen Tatorte voller Leichenteile, die Der Zorn Götter hinterlässt, um den Angra Om Ya den Weg zur Erde zu ebenen, erscheinen selbst dem ehemaligen Höllengladiator James Stark aka Sandman Slim unappetitlich. Allein das Qomrama Om Ya könnte die Invasion der Angra noch aufhalten – wenn Stark denn wüsste, wie es funktioniert. Um das herauszufinden, teilt ihm sein Boss beim Golden Vigil einen skurrilen Partner zu: die jahrhundertealte Mumie eines japanischen Mönchs. Leider ahnt nicht einmal der Shonin, dass die Angra nicht nur von irdischen Anhänger_innen hofiert werden. Die Entdeckung einer weitreichenden Verschwörung zwingt Stark, die eine Seele um Hilfe zu bitten, die er mehr als alle anderen hasst: Mason Faim. Natürlich traut er Mason nicht, aber vielleicht kann Stark von seinem Wissen profitieren, um die Apokalypse abzuwenden. Und wenn nicht, bleibt ihm zumindest die Genugtuung, seinen Erzfeind zweimal getötet zu haben.
Eines habe ich im Verlauf von „The Getaway God“ begriffen: wenn Stark nicht gerade übernatürliche Krisen abwendet, ist sein Leben ziemlich öde. Sicherlich nicht die ergiebigste Erkenntnis einer Lektüre, aber nichtsdestotrotz wahr. Sein ganz normaler Alltag besteht aus kaum mehr als unregelmäßigen Arbeitszeiten bei Max Overdrive, alarmierendem Alkoholkonsum entweder Zuhause oder in seiner Stammkneipe Bamboo House of Dolls und endlosen Filmnächten vor dem heimischen Fernseher, allein oder in Gesellschaft von Candy und/oder Kasbian. Klingt nicht gerade fesselnd? Ist es auch nicht und die Tatsache, dass mir diese unspektakulären Muster in „The Getaway God“ bewusstwurden, sagt viel darüber aus, wie aufregend dieser sechste Band ist. Obwohl L.A. die Apokalypse durch die uralten, rachsüchtigen Angra Om Ya bevorsteht, gelang es Richard Kadrey nicht, einen durchgängigen Spannungsbogen aufzubauen. Die Handlung folgt keiner erkennbaren Zielsetzung, sie wirkte wirr und improvisiert und langweilt mit häufigen Leerlaufphasen, in denen Stark Däumchen dreht und wartet. Die drohende Invasion übersteigt seine Kompetenzen vollkommen; er kann sich nicht länger mit markigen Sprüchen und Höllenhoodoo durchschummeln. Ihn so einfallslos zu erleben war für mich sehr frustrierend, denn die Rolle des hilflosen Amateurs passt überhaupt nicht zu meinem Bild von ihm als liebenswerter Chaot, der schon alles irgendwie hinkriegt. Meiner Meinung nach hätte Kadrey das Ausmaß seiner Überforderung elegant überspielen können, hätte er einigen der vielversprechenden Ansätze in „The Getaway God“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Allein Starks aufgezwungene Partnerschaft mit dem mumifizierten japanischen Mönch besitzt so viel ungenutztes Potential, dass ich mir die Haare raufen möchte. Der Autor hätte ihrer Beziehung mühelos den Anstrich einer grotesken und unterhaltsamen Cop Buddy – Romanze verpassen können, hätte er sie mehr Zeit miteinander verbringen lassen, statt Stark auf die Ersatzbank zu verbannen. Keine Ahnung, warum er es nicht getan hat, ob ihm nicht klar war, was er da in den Händen hält oder ob er glaubte, diese Nebenhandlung würde zu sehr ablenken. Ich kann nur resümieren, dass ich für jede Abwechslung dankbar gewesen wäre. Den erneuten Auftritt von Mason hingegen fand ich verwirrend und weit hergeholt. Echt, darf der Mann nicht einfach mal tot bleiben? Muss Kadrey ihn immer wieder wie einen Clown aus der Kiste hervorspringen lassen? Hat Stark es nicht verdient, dieses Kapitel endlich überwinden zu können? Mason verwickelt Stark natürlich in eines seiner Psychospielchen, das am Ende zum alles entscheidenden Showdown führt. Weder habe ich Masons Strategie verstanden noch Starks aus dem Stegreif zusammengeflickten Plan, um die Angra aufzuhalten. Was der sorgfältige Abschluss eines umfangreichen Handlungsbogens sein sollte, der die Reihe seit mehreren Bänden begleitet, erschien mir aus dem Ärmel geschüttelt und nicht überzeugend.
„The Getaway God“ schafft es nur mit Ach und Krach auf eine Bewertung mit drei Sternen. Versuchte ich, völlig objektiv zu urteilen und ließe alle Sympathiepunkte außer Acht, hätte das Buch maximal zwei Sterne erhalten dürfen. Es ist in sich unlogisch und inkongruent, ein inhaltlicher Flickenteppich, weshalb ich das Gefühl habe, die Geschichte des sechsten Bandes ist ausschließlich im größeren Kontext von Belang und dient lediglich dazu, das ganze Tohuwabohu mit den Angra abzuschließen. Ich hoffe, das ist jetzt auch endlich der Fall. Ich hoffe, Richard Kadrey macht einen Strich unter dieses Kapitel der „Sandman Slim“-Reihe und denkt sich neue Abenteuer für Stark aus, denen er tatsächlich gewachsen ist und in denen er seine Stärken ausspielen kann. Ich möchte ihn wieder Kontrolle auf die Handlung ausüben und nicht mehr von ihr getrieben sehen – auf seine eigene, chaotische Art und Weise. Er soll wieder der Stark sein, den ich in den ersten drei Bänden kennen und lieben lernte. Bitte Mr. Kadrey, geben Sie mir meinen Kumpel zurück.