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review 2020-06-24 09:24
Auf der Suche nach sechs Tagebuchseiten
Astas Tagebuch - Barbara Vine

Ich bin ja seit meiner Autorinnenchallenge ein ausgewiesener Fan von Barbara Vine, die eigentlich Ruth Rendell heißt (beziehungsweise hieß, denn sie ist 2015 verstorben) und die ihre psychologischen Thriller unter diesem Pseudonym verfasste. Die Geschichte – von Thriller war für mich diesmal keine Spur – plätscherte mir aber dann viel zu gemächlich, zu breit ausgewalzt und lang andauernd, gleichsam in Form eines englischen Weinbergschneckenrennens dahin (die gibt’s wirklich, guckt Ihr hier). Bedauerlicherweise kam dabei dann auch öfter Langeweile auf und das ist für mich die erste und zentrale literarische Todsünde.

 

Dabei ist der Roman in gewohnt sprachlicher Qualität und auch prinzipiell vom Plot her ausgezeichnet konzipiert. Ann Eastbruck erbt beim Tod ihrer Tante Swanney, die sehr erfolgreich als Herausgeberin die Tagebücher ihrer Mutter Asta verlegt hat, sowohl den Familienbesitz, als auch noch nicht veröffentlichte Werke. Von der Gegenwart aus wird in Rückblenden sowohl das Leben der Großmutter Asta, die aus Dänemark nach England emigrierte und einige Anpassungsschwierigkeiten hatte, als auch die ganze Geschichte von Swanney aufgerollt. Dabei mischen sich vor allem drei Handlungsebenen und Zeitstränge: die Originaleinträge aus Astas Tagebuch, Erzählungen über Swanneys Leben und Erinnerungen von Ann zu diesem Thema und zu guter Letzt auch noch die Recherche von Ann in der Gegenwart. Somit wird die ganze Familienbiografie von den Urgroßeltern seit dem Jahr 1905 bis in die Gegenwart episch sehr breit ausgewalzt.

 

Als zentrale Szene des Romans und eigentliches Thema gilt die Identitätssuche von Astas Lieblingstochter Swanney, die durch einen sehr beleidigenden anonymen Brief darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie möglicherweise nicht die leibliche Tochter ihrer Mutter sein könnte. Asta schweigt zu den Vorhaltungen und bohrenden Fragen ihrer Tochter und ergeht sich in nebulöser Hinhaltetaktik, Ausweichmanövern und genervten Nicht-Antworten, da sie überhaupt nicht verstehen will, warum Swanney, die sich im bereits im reifen Alter von etwa 50 Jahren befindet, unbedingt ihre Wurzeln kennenlernen will. Swanney ist verzweifelt, als ihr das Fundament ihrer Herkunft entzogen wird. Als ihre Mutter stirbt, sucht sie nach Hinweisen für ihre brennende Lebensfrage und entdeckt die Tagebücher, die sie nach dem Tod ihres Mannes und im fortgeschrittenen Alter noch zur erfolgreichen Herausgeberin machen. Leider fehlen im Tagebuch ungefähr sechs Seiten, die irgendjemand herausgerissen hat. Ann spekuliert, dass es Swanney war, die ihre wahre Herkunft nicht ertragen konnte, aber es könnte auch Asta gewesen sein.

 

Ann macht sich nach dem Tod ihrer Tante erneut auf die bereits erkaltete Spur der ungesicherten Herkunft. Dabei stellen sich viele ungelöste Fragen: Ist Swanney möglicherweise die ungefähr zum Zeitpunkt ihrer Geburt verschwundene Edith Roper und hat Alfred Roper Ediths Mutter umgebracht? Wohin ist Edith verschwunden, lebt sie, oder ist sie auch tot und die Leiche wurde gut beseitigt? Oder hatte Asta gar keine Fehlgeburt, Swanney ist tatsächlich ihre Tochter und sie hat den anonymen Brief selbst geschrieben? Wer hat den Brief überhaupt geschrieben? Diese Fragen werden in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert und leider mit viel zu viel ausladendem Familientratsch und für die Haupthandlung unnötigen biografischen Gschichtln garniert.

 

Das Ende, das bedauerlicherweise erst nach diesem elendslangen, mehr als fünfhundert Seiten dauernden Plot mit der gesamten, in fast allen Petitessen geschilderten Familienchronik in Sicht ist, überrascht auf den letzten Seiten doch sehr, denn die wahre Geschichte von Astas Tochter ist völlig anders, als die Familienmitglieder bisher geglaubt haben. Als die vermissten Seiten endlich zufällig in der Gegenwart auftauchen, dreht sich die Handlung noch einmal und im Plot kommt erstmals Spannung auf. Diese Wendung kommt aber für die Schnecke viel zu spät, sie ist schon so erschöpft und genervt, dass sie es nicht mehr genießen kann.

 

Fazit: Eine zu langatmige, zu episch breite Familiengeschichte mit zu viel unnötigem Beiwerk, der eine Kürzung von mindestens zweihundert Seiten und eine Konzentration auf die Haupthandlung, nämlich Swanneys Herkunft, gutgetan hätte. Der Roman ist zwar prinzipiell gut, aber ich hätte gerne bitte viel weniger davon.

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review 2020-06-22 11:59
Amüsante Ehetherapie in Babyschritten
Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst - Nick Hornby

Mit dieser sehr dialoglastigen Geschichte, die schon fast ein Theaterstück darstellt, habe ich zwar wieder einmal etwas völlig anderes bekommen, als ich bei der Bestellung vermutet hätte, aber diesmal hat die unerwartete alternative Ausführung sogar mehr Charme als meine ursprünglichen Vorstellungen. Das Paartherapie-Drama hat mir sehr gut gefallen, wenngleich ich, so wie immer, Probleme mit dem Ende eines jeden Buchs von Nick Hornby habe, da der Autor ein gar so schlechter Finisher ist– wenn ich ihn nicht sogar für einen der schlechtesten im Literaturbetrieb halte.

 

Tom und Louise machen also Paartherapie und das Innovative dabei ist, dass der Autor nicht in den Sitzungen Mäuschen spielt, und diese beschreibt – so wie ich erwartet hätte – sondern nur immer das thematisiert wird, was die beiden Ehepartner vor der Therapie in einer Bar gegenüber besprechen, in der sie sich immer ungefähr eine halbe Stunde – beziehungsweise eigentlich einen Drink lang – davor treffen. Das ist insofern auf mehreren Ebenen charmant, da auch schon Reaktionen auf die letzte Sitzung in die Handlung eingeflochten werden, die beiden auch vor dem Leser ein Mindestmaß an Vertraulichkeit genießen und nur das breitgewalzt wird, was sie voreinander ansprechen, beziehungsweise bearbeiten und weiterentwickeln möchten. Was in der Sitzung war, bleibt in der Sitzung, es sei denn, es wird erörtert.

 

Damit bekommt die Leserschaft nicht das direkte Drama mit – inklusive der direkten Verletzungen und der Verletzlichkeiten, sondern eine zeitversetzte Reflexion darauf: teilweise Aktionen und Reaktionen, wenn sich die Gemüter schon ein bisschen abgekühlt haben und sich sogar vielleicht beim einen oder anderen etwas selbständig weiterentwickelt hat, manchmal ein völlig belangloser Nebenkriegsschauplatz, auf den ein schwelender Konflikt ziemlich grotesk und wundervoll witzig übertragen wird, aber auch oft ein noch intensiveres Drama und ein eskalierender Streit, weil das Problem der letzten Woche nachträglich noch in der Seele gebrodelt hat und in der einsamen Betrachtung noch mehr hochgekocht ist.

 

Im Gegensatz zur mangelnden Sorgfalt beim Finish kann kaum jemand eine Geschichte so gut starten wie Hornby. Die Leserschaft wird gleich in die Szene vor der ersten Sitzung geworfen und auf sehr humorvolle Weise mit dem Vorgeplänkel, beziehungsweise mit der Ausgangsproblemstellung konfrontiert: Sie hat ihn betrogen und er will eigentlich keine Therapie machen. Die Dialoge sind trotz des traurigen Themas für einen Außenstehenden extrem witzig konzipiert. Viele, die länger verheiratet sind, kennen bei einiger Selbstreflexion manche Szenen und das Palaver aus eigener Erfahrung nur zu gut. So à la Jedermann und -frau würden es witzig finden, es sei denn, sie sind mittendrin und betroffen. Als Louise und Tom sich am Ende der ersten Szene von der Bar gegenüber dann zum Therapietermin aufmachen und sie klingelt, gibt er Fersengeld und läuft davon – was für eine Eröffnung!

 

Der männliche Protagonist Tom ist übrigens ganz tiefgründig und aus männlicher Sicht vielleicht ein bisschen respektlos als Mehlwurm konzipiert. So ein passiv-aggressiver Typ, der sich sehr gerne wimmernd und lamentierend in der Opferrolle gegenüber seiner beruflich erfolgreichen Frau eingerichtet hat, sich darin suhlt, zur Dramaqueen mutiert und aus der unterlegenen Position ganz schöne Tiefschläge verteilt. Ein bisschen erinnert er mich an Rob aus High fidelity, aber Tom ist etwas lernfähiger als Rob. Auch Louise ist gut entgegen dem typischen weiblichen Rollenklischee gezeichnet: sehr pragmatisch, so schonungslos ehrlich, dass ihr manchmal nicht auffällt, dass sie auch ganz schön respektlos und verletzend ist, eine Macherin, die Probleme erkennt und dann auf ihre Weise manchmal viel zu schnell mit schlechten Aktionen und Lösungen reagiert, anstatt darüber zu reden.

 

Bei all den witzigen Dialogen und auf Nebenschauplätze verlegten Gefechten kommt so nach und nach sehr realistisch und konsistent beschrieben etwas Schwung in die Beziehung. Das Paar analysiert den Grund des Betrugs, das Sexproblem und einige andere Baustellen ebenso.

 

Tja, das Finish ist eben schon, wie gesagt, sehr oft wie bei Hornby abrupt und nicht wirklich in irgendeine Richtung interpretierbar – er lässt quasi die Tastatur fallen. Sitzung 10 fällt aus, weil sich die beiden in der Bar besaufen, und die Therapie absagen. Dabei ist noch viel zu wenig aufgearbeitet und weiterentwickelt, als dass die Ehe meiner Meinung nach weiter funktionieren könnte. Sie kommen überein, dass sie in einer permanenten Ehekrise stecken und sich nicht jahrelang zur Therapie begeben wollen. Da hilft eine zarte Hoffnung und ein „Ich liebe Dich“ von Tom im vorletzten Satz, das Louise als nicht ernstgemeint interpretiert, auch nichts. Versteht mich nicht falsch, Eheprobleme, die sich zur Never-Ending-Story auswachsen, auf siebenhundert Seiten auszuwalzen, ist ebenso weder spannend noch zielführend, aber diese Geschichte ist zu kurz und die beiden sind so weit entfernt von austherapiert oder einem konstruktiven Lösungsansatz, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache. Das wird nix!

 

Fazit: Szenen einer Ehe pointiert und sehr amüsant präsentiert, die Figuren mit ihren Problemen sehr liebevoll und tief konzipiert, das macht Spaß und ist auch lehrreich für alle Paarbeziehungen, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben. Leider verpufft sowohl die Entwicklung der Ehe als auch das Finale ins komplette Nirvana. 20 Sitzungen wären da mindestens notwendig gewesen – sag nicht nur ich, sondern auch der Verband der Psychotherapeuten ;-)  .

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review 2020-06-14 12:48
Angst frisst Leben
Wurfschatten - Simone Lappert

Dieser Roman hat mich von der ersten Szene an sofort gepackt, nie mehr losgelassen und schwer begeistert. Ich könnte ein Liebeslied schreiben über die Verbindung zwischen mir und solchen Liebesgeschichten, wie sie auch die Autorin erzählt, die uns zwar sehr viel über Beziehungen beibringen, aber keinen Funken Romantikgefasel aufweisen, denn ich bin eine inbrünstige Romantikhasserin.

 

Die Autorin wirft die Leser*innen mitten in eine ausgewachsene, super detailliert und extrem realistisch geschilderte Panikattacke der Protagonistin Ada. Ich weiß, wie sich das anfühlt und wovon sie redet, denn ich hatte meine erste mit 22 Jahren an einem Sonntag auf der Autobahn zwischen Ausfahrt Asten und Linz von Wien kommend, fahrend mit 140km/h und Pink Floyds „Shine one you crazy diamond“ im Radiorecorder.

 

Ada ist eine begabte junge Schauspielerin, die ihr Leben aufgrund ihrer Ängste eher schlecht als recht auf die Reihe bekommt. Durch ihre Panik, die sie davon abhält, beruflich richtig durchzustarten, ihre aufwendigen Rituale, die sie gegen die aufkommende Angst durchspielt und die Vertuschung ihrer Defizite vor ihren besten Freunden, hat sie permanent Geldprobleme, weil sie einerseits zu wenig Geld verdient und sie andererseits auch zu viel Geld ausgeben muss, um irgendwie die Angst niederzukämpfen und Normalität vorzuspielen.

Ada schloss die Augen. Da war sie wieder diese Taucherglocke aus trübem Glas, die sie vom Tag trennte und das Atmen schwer machte. Dieses taumelige Gefühl, wie manche es haben, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen werden und die Bilder im Kopf noch stärker sind als das, was die müden Augen wahrnehmen. Ada hob ihre rechte Hand auf Brusthöhe, hielt sie einen Moment so und schaute sie an: Die Hand zitterte. Und wenn die Hand jetzt schon zitterte, dann würde es nicht mehr lnage dauern, bis die Taucherglocke ihr den Kopf unter Wasser drückte, tief in ihr eigenes Angstwasser hinein.

Durch diesen Teufelskreis schuldet sie ihrem Vermieter Matuschek nun mehrere Monatsmieten. Dieser Matuschek ist auch ein ganz liebevoll geschilderter Charakter, ganz gegensätzlich zu einem Miethai bringt er für die Kalamitäten der jungen Ada doch sehr viel Verständnis auf und er versichert ihr, dass er sich eine Kompromisslösung einfallen lässt, die für beide Seiten erträglich sein wird. Dann passiert etwas, das sich Ada nie hätte träumen lassen, völlig konsterniert stellt sie fest, dass Matuschek seinen Enkel Juri in ihrer Wohnung – respektive in Ihrem ritualisierten Angstzimmer – einquartiert hat.

 

Ada fühlt sich völlig überrumpelt, in ihrem Leben gestört und ihre Privatsphäre gekapert. Doch Juri stört auch intensiv ihre Angst. Welche Analogie! Er ist ja auch in ihrem Panikzimmer eingezogen, in dem sie alle ihre potenziellen Ängste aufgeklebt hat, indem er es ganz unkompliziert in Besitz nimmt, es mit seiner eigenen Persönlichkeit füllt, die Zettel einfach von der Wand nimmt und diese wegwirft. Sonst ist er ein äußerst angenehmer Wohngemeinschaftsgenosse, sensibel, freigiebig, etwas still und nicht übergriffig, einer, mit dem man leicht auskommen kann, weil er nicht stört und auch sonst eher leise ist. Nach und nach nähert sich Ada einerseits Juri an, andererseits will sie aus der Situation flüchten, indem sie sich in einer anderen Stadt, nämlich in München, für ein Engagement bewerben will. Leider schlägt die Panik wieder zu und vernichtet sowohl ihren beruflichen Aufstieg als auch ihren Umzug.

 

Nach und nach nähern die beiden sich immer weiter an, in wundervollen, total unkitschigen Szenen wird eine Freundschaft geschildert, die sich recht gemächlich in eine zart aufkeimende Liebe verwandelt: nächtelange Gespräche, Ada bringt Juri das Fahrradfahren bei und wie man Schlaflosigkeit bekämpft, Juri bringt Ada bei, wie man einen Fehlkauf rückgängig machen kann und das Geld zurückbekommt, Ada bemerkt erste Eifersuchtsgefühle, als sie eine Affäre Juris in der Wohnung kennenlernt, Juri begleitet Ada ins Krankenhaus, als sie eine Panikattacke bekommt und ahnt somit als erste Person ihres Lebens etwas von Adas enormen Problemen. Das ist dann auch der Punkt, an dem Ada Juri zurückstößt, da er ihr zu nahe gekommen ist. Nach noch ein paar Wendungen, Missverständnissen und Problemen gibt es auch noch ein ganz leises, wundervolles aber eben unromantisches Happy End – eigentlich ja nur einen kleinen Neuanfang, sonst wärs ja wieder kitschig, denn dieses „Liebe heilt alles“-Gewäsch hasse ich ja noch inbrünstiger als die romantische Gefühlsduselei. Den erwähnten Neuanfang gibt es übrigens nicht nur für Juri und Ada sondern auch für Adas Freundin Maria und dem Opa Matuschek, der in die rassige Maria schon ewig verschossen war, auch seine Angst überwunden und endlich einen Vorstoß gewagt hat, die Initiative zu ergreifen.

 

Fazit: Eine grandiose leise Geschichte über Ängste, Probleme, Nähe, Freundschaft, Liebe und den Mut, alle Hindernisse überwinden zu wollen.

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review 2020-06-05 10:15
Intrigen und Antisemitismus im Krankenhaus
Professor Bernhardi - Arthur Schnitzler

Vordergründig ist das Theaterstück von Schnitzler eine Art Grey's Anatomy um die Jahrundertwende aber ohne Sex. Viele männliche Ärzte auf unterschiedlichen Stufen (Institutsleiter der unterschiedlichen Abteilungen des Krankenhauses von Pathologie über Inneres und Gyn, Oberärzte, Fachärzte und Turnusärzte, die ihre Dissertation noch nicht fertig haben) parlieren, tratschen, schwurbeln, kriechen einander in den Arsch und intrigieren hinter dem Rücken.

Krankenhausalltag also, der durch einen spezifischen Fall zu einem politischen Drama hochstilisiert wird, als eine junge katholische Frau, die wahrscheinlich bei einer Engelmacherin war, an einer Sepsis so ernsthaft erkrankt ist, dass sie in den nächsten Stunden sterben wird. Durch das Fieber spürt sie aber den nahenden Tod nicht und glaubt zu genesen. Die nicht konfessionelle Krankenschwester holt ob der dramatischen Situation den Priester für die letzte Beichte und die letzte Ölung, der jüdische Institutsleiter Professor Bernhardi verweigert ihm aber den Zutritt, denn er will die euphorische Patientin nicht der Todesangst aussetzen, sondern als pragmatischer Arzt ist im wichtig, dass es der Patientin gut geht, bevor sie stirbt, anstatt die unsterbliche Seele der Sünderin für den lieben Gott zu retten. Da sich der Priester beschwert, wird diese Petitesse zum Politikum hochstilisiert, indem antisemitische Vorurteile auf den Professor niederprasseln, der als Jude die katholischen Notwendigkeiten verachtet und Religionsstörung betreibt.

In der vom Professor gegründeten Klinik hat er in seiner Funktion als Direktor mittlerweile die Bestellung von sehr vielen nicht-jüdische Ärzten abgenickt, die politisch das Spektrum von liberal bis deutschnational und massiv antisemitsch abdecken. Professor Bernhardi ist politisch völlig naiv und untalentiert, für ihn zählen nur die Sicht der Fachqualifikation des Arztes und ärztliche Entscheidungskriterien.

Neben mehreren Intrigen intern geht die Angelegenheit ins Gesundheitsministerium, wo Bernhardi auch auf  Beamte bzw. Politiker als Beamte trifft, die nur ihre Karriere im Fokus haben und wie Wendehälse heute ihre eigentlichen Überzeugungen vertreten, aber morgen diese auf dem Altar der politischen Anbiederung und Koalitionsbildungen opfern. Der Professor glaubt den Beteuerungen dieser Beamten und agiert als Arzt und als Mensch so, als wäre er von Antisemitismus nicht betroffen, quasi als wäre er kein Jude, oder als gäbe es keinen Antisemitismus. Er verkörpert daher genau jene Figur und den Prototyp, den alle politischen Liberalen und die bürgerlichen Parteien in der Mitte lauthals fordern, die sagen, dass die Juden einen nicht-existenten Antisemitismus aus Paranoia herbeireden und sich ständig als Opfer fühlen. (siehe Der Weg ins Freie )

Mit dieser von allen Juden verlangten Stategie scheitert Bernhardi aber episch. Die Petitesse wird vors Parlament gebracht und von einer Appellation in eine Anklage umgewandelt. Bei der Gerichtsverhandlung lügen einige der an der Szene Beiteiligten, dass sich die Balken biegen, Entlastungszeugen werden auch korrumpiert und schweigen. Mittlerweile soll der Herr Professor sogar den Priester angegriffen haben. Schließlich wird Bernhardi als Direktor seines eigenen Institus von einem Antisemiten abgelöst, seine Approbation wird im vorläufig entzogen und er muss für ein paar Monate ins Gefängnis, obwohl wirklich alle wissen, dass er unschuldig ist. Er wird auf dem politischen Parkett geopfert, gerade weil er starrsinnig auf seinem Bürgerrecht beharrt, in die staatlichen Institutionen und in die Menschen vertraut, dass sich seine Unschuld herausstellen wird.

Er ist auf dem rassistischen Auge blind und will sich nicht ducken, was natürlich küger wäre. Insofern ist er der tragische halsstarrige Held, der unbeirrt seinen Weg geht und der letztendlich dafür bestraft wird. Aber die Geschichte spielt ja im K&K Zuckerguss-Österreich und auch die Bestrafung und der Antisemitismus sind nicht so dramatisch - typisch österreichisch inkonsequent. Nach ein paar Monaten Gefängnis, der Rückgabe der Approbation und der wahrscheinlichen Wiedereinsetzung als Institutsleiter haben sich alle wieder recht lieb und parlieren amikal miteinander. Alles Gut! Es lebe der Kaiser!

Abgesehen vom nicht unspannenden Plot war dieses verbale Gebuckel, Geschmeichel und um den heißen Brei Herumgeschwurbel in den Dialogen sehr schwer zu ertragen und lähmte die ganze Geschichte ziemlich. Ich spreche hier nicht von einer alten Sprache, sondern von diesem vertraulichen,, fraternisierenden, katzbuckelnden, amikalen Spezi-Ton, den die Ärzte und die Politiker miteinander zelebrieren. Wahrscheinlich gibt es den bis heute in den Parteizentralen, aber der nervte mich ungemein und machte die Handlung zäh wie Strudelteig. Befreit man manche Dialoge aber vom inflationär eingesetzten Beiwerk der fortlaufenden Schmeichelei, dann waren einige wirklich großes Kino.

So sagt der Politiker:
"Wenn man immerfort das Richtige täte, oder vielmehr, wenn man nur einmal in der Früh, so ohne sich's weiter zu überlegen, anfing', das Richtige zu tun und so in einem for den ganzen Tag lang das Richtige, so säße man sicher noch vorm Nachtmahl im Kriminal!"

Die angeschlossenen 60 Seiten Nachwort und Erläuterungen waren fast spannender als das Theaterstück selbst und drehen für mich das Werk noch von 2,5 auf gute 3 Sterne. Sie gaben einen großartigen Blick in den Hintergrund und eine detaillierte Analsyse der Situation der Wiener Krankenhäuser und der Medizin zu dieser Zeit. Es wird thematisiert, welche Kliniken hier gemeint sein könnten (die Analyse macht eine Kombination zwischen Poliklinik und einem anderen Krankenhaus aus), aber sie gab auch sensationelle Einblicke in die ärzliche Klinikpraxis dieser Zeit. Die Wissenschaft und die Krankenhäuser fokussierten sich anstatt auf  therapeutische und hygienische Ansätze auf diagnostische Methoden, aber mangels großflächigem Einsatz von bildgebenden Verfahren war eine Diagnose ja nur ex-post also nach der Sektion möglich. Die Wahrscheinlichkeit, damals bei einer Krankheit  zu überleben, war auf einer Pflegestation wesentlich höher als in einem Krankenhaus, in dem die Herrn Professoren nur darauf warteten, dass die Patienten starben, damit sie die Ursache herausfinden konnten. Zudem hielten die damaligen Ärzte auch wenig von den damals schon bekannten Hygiene-Maßnahmen. Das machte mich auf einige Kleinigkeiten aufmerksam, die ich ansonsten überlesen hätte. Auch im Theaterstück kommen viele von den Doktoren direkt aus dem Seziersaal hoch und keiner hat sich die Hände gewaschen. Ziemlich wahrscheinlich, dass die junge Frau die Sepsis erst durch die Untersuchung von einem Arzt bekommen hat.

Zudem wird die politische  Situation der K&K Monarchie ausnehmend grandios analysiert. Antisemitismus den es qua Gesetz eigentlich gar nicht geben darf, weil ihn der Kaiser verboten hat, der sich aber strukturell durch alle Institutionen und durch das tägliche Leben zieht. Kommt uns bekannt vor oder, denn Antisemitismus ist genau dasselbe wie der heutige strukturelle Rassismus gegenüber PoCs?

Fazit: Theaterstück unterdurchschnittlich aber mit der Erläuterung kommt noch was Gutes dabei heraus, da bekommt der Stoff gleich neue spannende Aspekte. Mir hat das Nachwort wesentlich besser gefallen als das Werk selbst.

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review 2020-06-05 08:22
Zeitloser Klassiker
Fräulein Else - Arthur Schnitzler

Es ist schon eine Kunst, wenn ein Autor einer sehr verstaubten Novelle, die ja schließlich die Moralvorstellungen nicht vom letzten sondern vom vorletzten Jahrhundert vertritt, diese so zu konzipieren vermag, dass die Nöte der Protagonistin, die auf Grund dieser Moral entstehen, so konsistent und genial vermittelt werden, dass wir sie auch heute noch nachvollziehen zu vermögen.

Zudem ist Fräulein Else wie schon der Leutnant Gustl stilistisch in Form eines ziemlich genialen inneren Monologs konzipiert. Man bedenke, dass diese Erzählform von Schnitzler VOR dem meiner nach total überschätzten James Joyce weitaus brillianter eingeführt wurde, da Schnitzlers Monologe erstens angenehmst kürzer, und viel tiefgängiger als jene des Ulysses verfassst wurden, die ja im Gegensatz zu Schnitzler keine substantiellen Probleme der Protagonisten sondern nur nichtiges Geschwätz beinhalten. Die Novellen von Leutnant Gustl und Fräulein Else stellen für mich ohnehin die Highlights aus Schnitzlers Werk dar, obwohl mir ein paar Theaterstücke und die Traumnovelle auch ganz gut gefallen haben.

Aber nun zum Inhalt:
Schnitzler wirft die Leserschaft in die Welt einer glorreichen Fassade hinter der alles verrottet ist. Das junge schöne Fräulein Else ist mit der guten Gesellschaft in der Sommerfrische im Ausland und bekommt einen unangehmen Expressbrief von Mama. Der Herr Papa hat Gelder von Mündeln veruntreut und gestohlen. Wenn sie nicht bis morgen 30.000 Gulden vom unsympathischen Herrn Dorsday bekommt, muss Papa ins Gefängnis. Bald stellt sich heraus, was der schmierige Herr Dorsday von dem 19-jährigen Mädl, das außer Schwärmereien noch gar keine sexuellen Erfahrungen hatte, verlangt. Sie soll sich um Mitternacht mit ihm im Wald treffen und sich ihm splitternackt präsentieren. Zwar schwört der alte Wüstling Stein und Bein, von ihr sonst nichts weiter zu verlangen, aber so einer Situation alleine mitten in der Nacht im Wald würde ich mich nicht einmal heutzutage aussetzen, aus Sorge, vergewaltigt zu werden.

In ihrem inneren Monolog wälzt die junge unerfahrene Else ihre Probleme und denkt sogar daran, sich das Leben zu nehmen. Ist auch glaubwürdig, dass sie mit dem Tod kokettiert, wenn sie sich für die Ehre des Herrn Papa ihren Körper an den Herrn Dorsday verschachern muss und sich eben im Gegenzug zur Rettung des Vaters der lebenslangen Schande aussetzen muss und sich opfern sollte. Schlussendlich fordert der Vater in einer zweiten Depesche fast doppelt so viel Geld, also wird sie auch mehr geben müssen. Zudem ist sie ja mit 19 Jahren noch Jungfrau, da würde ich in der Situation und unter diesem enormen Druck auch mal an Schlaftabletten denken

Was für ein Arschloch von Papa, so etwas außerdem nicht einmal selbst zu erbitten, sondern dies indirekt über die sehr naive Mutter, die die Schuldkeule schwingt, zu verlangen. Anstatt dass der Vater für sein Versagen und für seine Taten geradesteht und die Schande des Diebstahls und des Gefängnisses annimmt, soll sich Else einer ganz anderen Schande opfern. So zahlen die Kinder die Schulden der Eltern. Else fragt sich zu Recht, warum eigentlich sie die Fehler des Vaters ausbaden soll und dem geilen Bock von Geldgeber zu Willen sein muss. Das Mädchen wäre lebenslang ruiniert, gesellschaftlich wie finanziell, denn Arbeit geht nicht, sie hat ja nix Gscheites gelernt und Ehe ist danach auch nicht mehr möglich, wenn sich der Dorsday im Wald am Mädl vergreift, denn er hat ja für die Nutte ordentlich bezahlt. Sie wird ohne eigentlich ursprünglich involviert zu sein, zwischen den beiden fordernden Männern und den gesellschaftlichen Konventionen zermalmt. Immer wieder konzipiert sie im Kopf Fluchtwege und Notausgänge aus dieser Situation.

Sehenden Auges wird auch eine andere Dramatik offenbar, denn der Vater ist ja nicht einzigartig und zufällig in einer derartigen Notlage, sondern die hoffnungslose Spielsucht des Papas und deren jahrelange und stetige Vertuschung mit den Auswirkungen wie Unterschlagung und Diebstahl hat auf die öffentliche Offenbarung der Schande der Familie ja nur eine kurze, aufschiebende Wirkung. Der Kater lässt trotz aller Beteuerungen das Mausen (das Spielen und das Prassen) nicht.

Letztendlich scheitert jeder Notausgang und Else opfert sich völlig unnotwendig einem verantwortungslosen Vater, einem geilen Bock und den gesellschaftlichen Konventionen, indem sie sich umbringt. Sie hat im Fieberwahn der Ausweglosigkeit das Versprechen eingelöst, sich nicht nur Herrn Dorsday, sondern der gesamten Gesellschaft nackt gezeigt und sich dann ob der Schande mit Veronal vergiftet. Na hoffentlich hat der Herr Papa wenigstens das Scheiß-Blutgeld bekommen und einen Aufschub seiner Schande erhalten, denn Else hat ihr Wort gehalten und die 50.000 Gulden redlich für die Familie verdient. Wenn sie auch diese Peinlichkeit nicht ertragen konnte und sich entleibt hat. Was für ein tragisches Opfer, das Else in den letzten Sekunden ihres Lebens auch noch bereut!

Fazit: Ein zeitloser Klassiker, der auch heute noch gut zu lesen und zu verstehen ist. Nicht deshalb, weil wir so etwas ohnehin heute auch noch verstehen können, sondern weil uns Schnitzler die Nöte und Ängste des Mädches derart nahezubringen vermag, dass das Mitfühlen und Verstehen ganz einfach gelingt.

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