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review 2020-06-24 09:24
Auf der Suche nach sechs Tagebuchseiten
Astas Tagebuch - Barbara Vine

Ich bin ja seit meiner Autorinnenchallenge ein ausgewiesener Fan von Barbara Vine, die eigentlich Ruth Rendell heißt (beziehungsweise hieß, denn sie ist 2015 verstorben) und die ihre psychologischen Thriller unter diesem Pseudonym verfasste. Die Geschichte – von Thriller war für mich diesmal keine Spur – plätscherte mir aber dann viel zu gemächlich, zu breit ausgewalzt und lang andauernd, gleichsam in Form eines englischen Weinbergschneckenrennens dahin (die gibt’s wirklich, guckt Ihr hier). Bedauerlicherweise kam dabei dann auch öfter Langeweile auf und das ist für mich die erste und zentrale literarische Todsünde.

 

Dabei ist der Roman in gewohnt sprachlicher Qualität und auch prinzipiell vom Plot her ausgezeichnet konzipiert. Ann Eastbruck erbt beim Tod ihrer Tante Swanney, die sehr erfolgreich als Herausgeberin die Tagebücher ihrer Mutter Asta verlegt hat, sowohl den Familienbesitz, als auch noch nicht veröffentlichte Werke. Von der Gegenwart aus wird in Rückblenden sowohl das Leben der Großmutter Asta, die aus Dänemark nach England emigrierte und einige Anpassungsschwierigkeiten hatte, als auch die ganze Geschichte von Swanney aufgerollt. Dabei mischen sich vor allem drei Handlungsebenen und Zeitstränge: die Originaleinträge aus Astas Tagebuch, Erzählungen über Swanneys Leben und Erinnerungen von Ann zu diesem Thema und zu guter Letzt auch noch die Recherche von Ann in der Gegenwart. Somit wird die ganze Familienbiografie von den Urgroßeltern seit dem Jahr 1905 bis in die Gegenwart episch sehr breit ausgewalzt.

 

Als zentrale Szene des Romans und eigentliches Thema gilt die Identitätssuche von Astas Lieblingstochter Swanney, die durch einen sehr beleidigenden anonymen Brief darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie möglicherweise nicht die leibliche Tochter ihrer Mutter sein könnte. Asta schweigt zu den Vorhaltungen und bohrenden Fragen ihrer Tochter und ergeht sich in nebulöser Hinhaltetaktik, Ausweichmanövern und genervten Nicht-Antworten, da sie überhaupt nicht verstehen will, warum Swanney, die sich im bereits im reifen Alter von etwa 50 Jahren befindet, unbedingt ihre Wurzeln kennenlernen will. Swanney ist verzweifelt, als ihr das Fundament ihrer Herkunft entzogen wird. Als ihre Mutter stirbt, sucht sie nach Hinweisen für ihre brennende Lebensfrage und entdeckt die Tagebücher, die sie nach dem Tod ihres Mannes und im fortgeschrittenen Alter noch zur erfolgreichen Herausgeberin machen. Leider fehlen im Tagebuch ungefähr sechs Seiten, die irgendjemand herausgerissen hat. Ann spekuliert, dass es Swanney war, die ihre wahre Herkunft nicht ertragen konnte, aber es könnte auch Asta gewesen sein.

 

Ann macht sich nach dem Tod ihrer Tante erneut auf die bereits erkaltete Spur der ungesicherten Herkunft. Dabei stellen sich viele ungelöste Fragen: Ist Swanney möglicherweise die ungefähr zum Zeitpunkt ihrer Geburt verschwundene Edith Roper und hat Alfred Roper Ediths Mutter umgebracht? Wohin ist Edith verschwunden, lebt sie, oder ist sie auch tot und die Leiche wurde gut beseitigt? Oder hatte Asta gar keine Fehlgeburt, Swanney ist tatsächlich ihre Tochter und sie hat den anonymen Brief selbst geschrieben? Wer hat den Brief überhaupt geschrieben? Diese Fragen werden in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert und leider mit viel zu viel ausladendem Familientratsch und für die Haupthandlung unnötigen biografischen Gschichtln garniert.

 

Das Ende, das bedauerlicherweise erst nach diesem elendslangen, mehr als fünfhundert Seiten dauernden Plot mit der gesamten, in fast allen Petitessen geschilderten Familienchronik in Sicht ist, überrascht auf den letzten Seiten doch sehr, denn die wahre Geschichte von Astas Tochter ist völlig anders, als die Familienmitglieder bisher geglaubt haben. Als die vermissten Seiten endlich zufällig in der Gegenwart auftauchen, dreht sich die Handlung noch einmal und im Plot kommt erstmals Spannung auf. Diese Wendung kommt aber für die Schnecke viel zu spät, sie ist schon so erschöpft und genervt, dass sie es nicht mehr genießen kann.

 

Fazit: Eine zu langatmige, zu episch breite Familiengeschichte mit zu viel unnötigem Beiwerk, der eine Kürzung von mindestens zweihundert Seiten und eine Konzentration auf die Haupthandlung, nämlich Swanneys Herkunft, gutgetan hätte. Der Roman ist zwar prinzipiell gut, aber ich hätte gerne bitte viel weniger davon.

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review 2020-06-14 12:48
Angst frisst Leben
Wurfschatten - Simone Lappert

Dieser Roman hat mich von der ersten Szene an sofort gepackt, nie mehr losgelassen und schwer begeistert. Ich könnte ein Liebeslied schreiben über die Verbindung zwischen mir und solchen Liebesgeschichten, wie sie auch die Autorin erzählt, die uns zwar sehr viel über Beziehungen beibringen, aber keinen Funken Romantikgefasel aufweisen, denn ich bin eine inbrünstige Romantikhasserin.

 

Die Autorin wirft die Leser*innen mitten in eine ausgewachsene, super detailliert und extrem realistisch geschilderte Panikattacke der Protagonistin Ada. Ich weiß, wie sich das anfühlt und wovon sie redet, denn ich hatte meine erste mit 22 Jahren an einem Sonntag auf der Autobahn zwischen Ausfahrt Asten und Linz von Wien kommend, fahrend mit 140km/h und Pink Floyds „Shine one you crazy diamond“ im Radiorecorder.

 

Ada ist eine begabte junge Schauspielerin, die ihr Leben aufgrund ihrer Ängste eher schlecht als recht auf die Reihe bekommt. Durch ihre Panik, die sie davon abhält, beruflich richtig durchzustarten, ihre aufwendigen Rituale, die sie gegen die aufkommende Angst durchspielt und die Vertuschung ihrer Defizite vor ihren besten Freunden, hat sie permanent Geldprobleme, weil sie einerseits zu wenig Geld verdient und sie andererseits auch zu viel Geld ausgeben muss, um irgendwie die Angst niederzukämpfen und Normalität vorzuspielen.

Ada schloss die Augen. Da war sie wieder diese Taucherglocke aus trübem Glas, die sie vom Tag trennte und das Atmen schwer machte. Dieses taumelige Gefühl, wie manche es haben, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen werden und die Bilder im Kopf noch stärker sind als das, was die müden Augen wahrnehmen. Ada hob ihre rechte Hand auf Brusthöhe, hielt sie einen Moment so und schaute sie an: Die Hand zitterte. Und wenn die Hand jetzt schon zitterte, dann würde es nicht mehr lnage dauern, bis die Taucherglocke ihr den Kopf unter Wasser drückte, tief in ihr eigenes Angstwasser hinein.

Durch diesen Teufelskreis schuldet sie ihrem Vermieter Matuschek nun mehrere Monatsmieten. Dieser Matuschek ist auch ein ganz liebevoll geschilderter Charakter, ganz gegensätzlich zu einem Miethai bringt er für die Kalamitäten der jungen Ada doch sehr viel Verständnis auf und er versichert ihr, dass er sich eine Kompromisslösung einfallen lässt, die für beide Seiten erträglich sein wird. Dann passiert etwas, das sich Ada nie hätte träumen lassen, völlig konsterniert stellt sie fest, dass Matuschek seinen Enkel Juri in ihrer Wohnung – respektive in Ihrem ritualisierten Angstzimmer – einquartiert hat.

 

Ada fühlt sich völlig überrumpelt, in ihrem Leben gestört und ihre Privatsphäre gekapert. Doch Juri stört auch intensiv ihre Angst. Welche Analogie! Er ist ja auch in ihrem Panikzimmer eingezogen, in dem sie alle ihre potenziellen Ängste aufgeklebt hat, indem er es ganz unkompliziert in Besitz nimmt, es mit seiner eigenen Persönlichkeit füllt, die Zettel einfach von der Wand nimmt und diese wegwirft. Sonst ist er ein äußerst angenehmer Wohngemeinschaftsgenosse, sensibel, freigiebig, etwas still und nicht übergriffig, einer, mit dem man leicht auskommen kann, weil er nicht stört und auch sonst eher leise ist. Nach und nach nähert sich Ada einerseits Juri an, andererseits will sie aus der Situation flüchten, indem sie sich in einer anderen Stadt, nämlich in München, für ein Engagement bewerben will. Leider schlägt die Panik wieder zu und vernichtet sowohl ihren beruflichen Aufstieg als auch ihren Umzug.

 

Nach und nach nähern die beiden sich immer weiter an, in wundervollen, total unkitschigen Szenen wird eine Freundschaft geschildert, die sich recht gemächlich in eine zart aufkeimende Liebe verwandelt: nächtelange Gespräche, Ada bringt Juri das Fahrradfahren bei und wie man Schlaflosigkeit bekämpft, Juri bringt Ada bei, wie man einen Fehlkauf rückgängig machen kann und das Geld zurückbekommt, Ada bemerkt erste Eifersuchtsgefühle, als sie eine Affäre Juris in der Wohnung kennenlernt, Juri begleitet Ada ins Krankenhaus, als sie eine Panikattacke bekommt und ahnt somit als erste Person ihres Lebens etwas von Adas enormen Problemen. Das ist dann auch der Punkt, an dem Ada Juri zurückstößt, da er ihr zu nahe gekommen ist. Nach noch ein paar Wendungen, Missverständnissen und Problemen gibt es auch noch ein ganz leises, wundervolles aber eben unromantisches Happy End – eigentlich ja nur einen kleinen Neuanfang, sonst wärs ja wieder kitschig, denn dieses „Liebe heilt alles“-Gewäsch hasse ich ja noch inbrünstiger als die romantische Gefühlsduselei. Den erwähnten Neuanfang gibt es übrigens nicht nur für Juri und Ada sondern auch für Adas Freundin Maria und dem Opa Matuschek, der in die rassige Maria schon ewig verschossen war, auch seine Angst überwunden und endlich einen Vorstoß gewagt hat, die Initiative zu ergreifen.

 

Fazit: Eine grandiose leise Geschichte über Ängste, Probleme, Nähe, Freundschaft, Liebe und den Mut, alle Hindernisse überwinden zu wollen.

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review 2020-04-13 16:47
Alt werden ist nichts für Feiglinge
Leichte Böden - David Fuchs

David Fuchs ist für mich ein Phänomen. War ich schon bei seinem Debütroman Bevor wir verschwinden schwer begeistert, so bin ich nun wieder total von den Socken, und erstaunt, wie einfach es scheint, gute Literatur zu erschaffen.

 

Der Autor erzählt ganz simpel eine hervorragende, aus dem Leben gegriffene Geschichte ohne sprachliches Schnick-Schnack, Bandwurmsätze, metaphernschwangere Beschreibungen oder sonstigen Firlefanz. Sehr viele Dialoge befinden sich in dieser Story, die er ausnehmend gut und spannend zu konzipieren weiß, die aber völlig unangestrengt wirken, als wären sie nur so von einem Anfänger daher erzählt. Entweder hat er ein geniales Talent, oder dieses Werk ist in seiner bewusst konstruierten Einfachheit ein gehöriges Stück Arbeit. Die Leser*in hat das Gefühl, nicht in fiktive Literatur, sondern schlicht ins Leben geworfen zu werden. Sofort ist man mittendrin in dieser verzwickten Situation in der Alters-WG.

 

 

Daniel, verhinderter Wissenschaftler, der bisher als Biologielehrer sein Dasein fristete, hat ein Sabbatical genommen und somit viel zu wenig zu tun. Mangels Problemen hat er auch keine Perspektiven oder eine Idee, was er mit der freien Zeit anstellen soll. Aus diesem Grunde möchte er seinen bei der Großtante in der Garage abgestellten Porsche Boxster wieder in Betrieb nehmen.

 

Bei seinem schon jahrelang her liegenden Besuch findet er Tante Klara in einer Art Geriatrie-WG, in der die schon sehr betagte Tante etwas mühsam ihren dementen Mann Alfred und den an Kehlkopfkrebs erkrankten Nachbarn Heinz pflegt und versorgt. Die drei alten Leute haben sich so recht und schlecht in ihrer Situation eingefunden und Tante Klara versucht, einigermaßen selbstbestimmt alle anfallenden Probleme teilweise eben nicht mit perfekten Methoden zu meistern. Als Daniel der Situation gewahr wird, hat er zuerst Mitleid, will helfen, aber mischt sich sofort viel zu viel ein, indem er alles besser weiß und anders machen will. Dieser Konflikt zwischen Überforderung der Tante, das Ringen um Selbstbestimmung, um nicht vom „Helfen-wollenden“ Neffen total entmündigt zu werden, ist sehr spannend. Hier bekommt das Sprichwort „gut gemeint ist nicht gut“ eine überlebensnotwendige Bedeutung. Sehr gut werden dieser Kampf und die Annäherung der Positionen in Form von Streit in Dialogen aufgebaut.

 

Eine kleine Liebesgeschichte mit Maria, der Tochter von Heinz, wird auch noch als Garnitur auf das ohnehin schon gute Familiendrama gesetzt, wobei der sehr pragmatischen Polizistin Maria, die ja schon lange mit dieser Situation im Nachbarhaus lebt, auch die Rolle der Beschwichtigerin zukommt, die Daniel immer runterholt, wenn er aus gut gemeintem Helfersyndrom droht, allzu übergriffig das Leben der drei Senioren zu verändern. Sie übernimmt als Anwältin und Fürsprecherin mit Blick auf Hilfestellung die Agenden der Senioren und ihrer Bedürfnisse nach einem Mindestmaß an Autonomie. Diese Position wird vom Autor aber nicht mit der Brechstange vertreten, sondern Maria versucht auch, die Position und die Sorgen von Daniel zu verstehen und ganz sensibel Kompromisse für beide Seiten zu finden, da, wo sie unbedingt notwendig sind. Das ist richtig wundervoll.

 

Kaum hatte ich mich in dieser zwar nicht konfliktfreien, aber dennoch sehr liebevollen Geriatrie-Kommune geistig und emotional gut eingerichtet, holte mich dieser Fuchs von Herrn Fuchs doch tatsächlich durch eine 180 Grad Wendung nochmals aus meiner Wohlfühlzone. Wahnsinn! Da dreht der Plot auch noch in ein nicht aufgearbeitetes, plötzlich eskalierendes, vergangenes Familiendrama mit einer ganz hässlichen Missbrauchsgeschichte. Das war wirklich ein überraschendes Ende und gibt der schon fast ins gemächliche ausklingenden Story nochmals den letzten Kick. Grandios!

 

Fazit: Diesen Autor muss man sich für die Zukunft merken! Das Buch ist alleine schon durch das in den ausgezeichneten Dialogen behandelte Thema und den gut gemachten spannenden Plot großartig. Unbedingt lesen!

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review 2019-10-14 14:18
I will survive
Sal - Mick Kitson

Dieses Drama, das vom Autor in einem sehr außergewöhnlichen Setting platziert wurde, hat mich sehr positiv überrascht und ungemein berührt.

 

Die dreizehnjährige Sal hat eine furchtbare Kindheit hinter sich und versucht, durch unterschiedliche psychologische Überlebensstrategien nicht komplett unterzugehen. Dabei hat sie konsequenterweise tatsächlich den Ausweg Survival-Training gewählt, ist mit ihrer Schwester Peppa von zu Hause geflüchtet und lebt nun alleine mit ihr im Wald, fernab jeglicher Zivilisation. Sie hat ihre Flucht generalstabsmäßig geplant und sich alle Überlebenstricks und Aufgaben in der Wildnis durch das Internet beigebracht. Es zerreißt einem das Herz, wie dieses kleine noch nicht mal in der Pubertät befindliche Mädchen jeden Tag zwanghaft plant, wie Essen zu beschaffen, wie ein Unterstand zu bauen ist und wie die beiden Schwestern verhindern, von den Behörden gefunden zu werden.

 

Nach und nach wird dem Leser scheibchenweise konsistent enthüllt, warum diese einschneidende Maßnahme notwendig war: Der Mutter ist als Alkoholikerin alles total egal, ihr Lebensgefährte hat sich schon jahrelang an Sal vergangen und nun auch gedroht, Peppa zu vergewaltigen. Aus Liebe zu ihrer Schwester, um ihr das eigene Schicksal zu ersparen, sah Sal sich genötigt, den Stiefvater – quasi als proaktive Nothilfemaßnahme – zu ermorden. Komplett abgeklärt – fast als wäre Sal nicht betroffen, sondern nur teilnehmende Beobachterin – schildert das kleine traumatisierte Mädchen ganz sachlich ihre Beweggründe und Taten. Wer sich mit solchen Biografien auskennt, weiß genau, diese Distanz ist auch nur eine der Überlebensstrategien, anders – wie zum Beispiel mit Selbstmitleid – wäre dieses Leben gar nicht zu ertragen. Weil Sal ja auch schon mit ungefähr vier Jahren ihre Schwester auf Grund der Alkoholsucht ihrer Mutter versorgen und sich immer zusammenreißen musste, wird dem Leser eine uralte, abgeklärte, nur noch sachlich agierende, verletzte Seele im Körper eines Kindes präsentiert, das sich ständig sorgt und Probleme lösen will, bevor sie entstehen. Das hat mich tief getroffen, dass dieses Kind nie eine Kindheit hatte. Einzig in der Liebe zu Peppa taut Sal ein bisschen auf.

 

Als Peppa eine von Sal nicht proaktiv abgecheckte und eingeplante Verletzung erleidet, die sich in der Wildnis schnell zum lebensbedrohlichen Ereignis entwickelt, treffen die beiden Mädchen auf Ingrid, eine ebenso im Wald lebende ehemalige Ärztin und Aussteigerin, die durch ihre Vergangenheit in der DDR auch ein bisschen traumatisiert ist. Sie hilft den beiden Mädchen und gibt insbesondere Sal das erste Mal in ihrem Leben Halt und Liebe. Zeile um Zeile kann die LeserIn beobachten, wie Sal durch diese erste liebevolle Bezugsperson immer mehr Sicherheit bekommt, sich schrittweise öffnet und Vertrauen fasst. Auch Ingrid überwindet durch diese Beziehung ihre Depression und erzählt von ihrer Vergangenheit. Irgendwie ist diese ganze Geschichte angewandte Gesprächstherapie und Familienaufstellung, zu der letztendlich auch die Mutter und ein guter Freund der Familie noch irgendwie als reale Figuren und aufzuarbeitende Beziehungen dazukommen müssen.

 

Das Ende ist zwar offen, was mich aber ausnahmsweise gar nicht gestört hat, da es einen teilweise sehr schönen und nicht abrupten Abschluss hat: Die Erwachsenen entlassen Sal aus der Verantwortung für ihre Schwester und für ihr eigenes Leben, sie darf endlich Kind sein. Somit kann, muss und soll sich Sal nun auch ihren eigenen Taten stellen. Wie es weitergeht, steht zwar in den Sternen, aber ein wichtiger Anfang ist gemacht, damit alles gut werden kann.

 

Das Tempo der Handlung ist gemächlich, was aber absolut angebracht ist, um stehenzubleiben, innezuhalten und dieser Entwicklung auch den nötigen Raum geben zu können. Mick Kitson gelingt es meisterhaft, durch die kindliche Ich-Erzählweise, authentisch alle Gefühle zu transportieren. Mich hat zudem gerade dieser distanzierte, oftmals sachliche Erzählstil des Mädchens häufig zu Tränen gerührt.

 

Fazit: Ich habe mitgefühlt, gefroren, gehungert, gebangt, geweint, gehasst, geliebt und geschmunzelt. Eine großartige, konsistente Geschichte und psychologische Analyse, wundervoll dargestellte Beziehungen, eine grandiose Entwicklung der Protagonisten mit einem sich vielleicht in Zukunft andeutenden Happy End in einem innovativen Setting sehr menschlich präsentiert. Absolute Leseempfehlung von mir.

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review 2019-01-14 12:41
Durch die Gästebetten von Paris - mit Einblick in den soziokulturellen Nukleus der Grande Nation
Das Leben des Vernon Subutex 1: Roman - Virginie Despentes,Claudia Steinitz

Im Zentrum dieses sehr zynischen Einblicks in die französische Gesellschaft steht Vernon Subutex, ehemals Inhaber eines Plattenlandens, den als Technologieverlierer der Internet-Onlinehandel aus seinem Job und seiner Kernkompetenz gefegt hat. Nun ist seine Expertise nicht mehr nützlich, er wird durch die Umstände zu wenig brauchbarem Menschenschrott, eine Weile hält er sich noch durch die Sozialhilfe über Wasser, aber irgendwann ist auch damit Schluss, er verliert diese und damit auch postwendend seine Wohnung.

Durch diese Plotwendung erzeugt die Autorin Virginie Despentes einen guten, gleichsam zwangsläufigen Überblick über unterschiedliche Prototypen der französischen Gesellschaft mit ihren Lebenskonzepten und Schicksalen, denn aus der Not heraus mit einer hanebüchenen Ausrede auf den Lippen quartiert sich Vernon kurzfristig bei sehr vielen seiner Kumpels aus seinem ehemaligen riesigen Freundeskreis ein. Um niemanden zu sehr zu strapazieren und auch durch sehr dumme Aktionen von Vernon, sind diese „Notschlafstellen" nur Intermezzi beziehungsweise Übergangslösungen und machen den Roman dadurch zwar nicht zum Road-trip, denn Vernon besitzt kein Auto, sondern zum innerstädtischen Pflasterspektakel.

Sehr viele von Vernons Freunden haben sich seit den alten unbeschwerten Zeiten von Sex, Drugs and Rockn‘ Roll in Vernons Plattenladen enorm verändert. Viele laufen entweder ihrer verlorenen Jugend nach, haben sich selbst verraten, oder sind gestorben wie die Fliegen, einige haben ihren sich in der Teenagerzeit abzeichnenden Arschlochcharakter einfach noch um ein Vielfaches vertieft, manche sind in ihrer jugendlichen Unruhe und Suche nach sich selbst noch immer steckengeblieben und haben sich verloren. Wie bei einem Kaleidoskop zeichnet Despentes die unterschiedlichen Archetypen des intellektuellen Mittelstands: Der erfolgreiche Sänger Alex, der an seinem Ruhm zerbrach und gestorben ist, der rechte nationalistische wenig erfolgreiche Drehbuchautor Xavier, der eine reiche Frau geheiratet hat, die ihn verachtet, eine Online Reputationsmanagerin, genannt die Hyäne, die in Wahrheit ja nur die geschönte Bezeichnung einer Schmutzkübelcampagnisiererin verkörpert, zwei ehemalige Pornodarstellerinnen, wobei eine es geschafft hat und die andere auch schon gestorben ist, Sylvie eine Frau die Vernon im Gegenzug für ein warmes Bett gebumst hat, und die nach Vernons Laufpass zu einem Facebook Racheengel mutiert, ein sehr erfolgreicher Filmproduzent, Gaelle, die sich noch immer bei wohlhabenden Irren durchschnorrt und Vernon mitzieht und so weiter und so fort.

Die Autorin fährt ein Potpourri des Zynismus auf, in dem wie beiläufig viele moderne Themen gestreift und durchphilosophiert werden, Sex, Porno, Drogen, Ehe, Familie, Politik, Links und Rechts, der Sozialstaat, neue Technologien, Wohlstandsverlierer, Kapitalismus, Reichtum, Hedonismus, Egoismus, Tierliebe, Eifersucht, Wahnsinn, ... Alle diese einerseits zeitlosen als auch in der Sicht der modernen Welt neuartigen Ausprägungen des Menschlichen werden aufgefahren. Keine Figur – nicht mal Vernon - ist wirklich sympathisch alle tragen eine gehörige Arschlochkomponente zur Schau.

In ihrem Zynismus der Misanthropie erinnert mich die Autorin frappant an …. na an wen? -  an einen handwerklich besseren und moderneren Houellebecq, der nicht vor 20 Jahren in seiner schriftstellerischen Entwicklung steckengeblieben ist, einfach sorgfältiger recherchiert, sich keine so sagenhaften technologischen und logischen Schnitzer leistet und der nicht ausschließlich seinem Sexismus und dem Faible für Skandale frönt. Das ist insofern sehr witzig kurios, da man meinen könnte, Houelle wäre in diesem Fall in den Geist und den Körper einer Frau geschlüpft. Stellt Euch das mal praktisch vor, das wäre wirklich die Hölle für ihn!

„Sie hat nie verstanden, was junge Mädchen daran finden, mit älteren Männern zu schlafen. […]„Männer ihres Alters stoßen sie ab, ihre Eier hängen herab wie sklerotische Schildkrötenköpfe. Sie könnte kotzen, wenn sie sie anfassen muss."

„Internet ist für Eltern so, als würde man dir dein Kind rauben, noch bevor es lesen kann.“

„Er steht hier und kauft ein, anstatt zu arbeiten, weil Madame nicht will, dass man sie für ein Dienstmädchen hält, aber die dreckigen Faulenzer von Kanaken hängen draußen rum, ohne einen Finger krumm zu machen. […] Zusammen mit den Arbeitslosen, denen die Stütze in den Arsch geschoben wird, sitzen sie den ganzen Tag im Cafe, während ihre Weiber schuften. Die machen nicht nur alles im Haus, ohne zu jammern, und gehen arbeiten, um ihre Kerle durchzufüttern, sie müssen sich auch noch einen Schleier umhängen, um ihre Unterwerfung zu demonstrieren. Das ist doch Psychoterror! Alles nur, damit der französische Mann merkt, dass er nichts mehr wert ist.“


Alle Figuren sind detailgetreu tiefgründig mitsamt ihrer Geschichte und den Einstellungen zum Leben entwickelt und irgendwie miteinander verwoben. Man hat das Gefühl, Paris ist nicht viel mehr als ein kleines Dorf, vor allem was Vernons Kohorte betrifft. Das letzte Interview des berühmten Sängers Alex, das in Vernons Besitz sein soll, spielt auch eine Rolle, warum sich so viele Menschen mit diesem Verlierer überhaupt abgeben wollen. Am Ende des ersten Teils ist Vernon ganz unten, nämlich nicht nur ohne Wohnung sondern richtig obdachlos draußen auf der Straße angekommen und kann auch von dort einen Bericht über den Zustand dieser französischen Subkultur abgeben.

Fazit: Ich persönlich bin sehr begeistert, muss aber anmerken, dass dies nicht unbedingt ein Werk für alle ist, denn es ist beinharter Tobak. Wer Zynismus, Bösartigkeit, Menschenfeindlichkeit und grenzenlosen Pessimismus bezüglich der Gesellschaft schwer erträgt, sollte die Finger davon lassen. Denn zumindest im ersten Teil hat die Autorin jeden Funken der Hoffnung mit der Perfidie einer Göttin in ihrem fiktiven bitterbösen selbstkonzipierten Mirkoversum namens Paris ausgeblasen. Wundervoll, genial, großartig und absolut lesenswert. Für mich schon im Jänner ein erstes Highlight des Buchjahres.

Ich will auf jeden Fall unbedingt wissen, wie es weitergeht!!!!

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