Ich bin ja seit meiner Autorinnenchallenge ein ausgewiesener Fan von Barbara Vine, die eigentlich Ruth Rendell heißt (beziehungsweise hieß, denn sie ist 2015 verstorben) und die ihre psychologischen Thriller unter diesem Pseudonym verfasste. Die Geschichte – von Thriller war für mich diesmal keine Spur – plätscherte mir aber dann viel zu gemächlich, zu breit ausgewalzt und lang andauernd, gleichsam in Form eines englischen Weinbergschneckenrennens dahin (die gibt’s wirklich, guckt Ihr hier). Bedauerlicherweise kam dabei dann auch öfter Langeweile auf und das ist für mich die erste und zentrale literarische Todsünde.
Dabei ist der Roman in gewohnt sprachlicher Qualität und auch prinzipiell vom Plot her ausgezeichnet konzipiert. Ann Eastbruck erbt beim Tod ihrer Tante Swanney, die sehr erfolgreich als Herausgeberin die Tagebücher ihrer Mutter Asta verlegt hat, sowohl den Familienbesitz, als auch noch nicht veröffentlichte Werke. Von der Gegenwart aus wird in Rückblenden sowohl das Leben der Großmutter Asta, die aus Dänemark nach England emigrierte und einige Anpassungsschwierigkeiten hatte, als auch die ganze Geschichte von Swanney aufgerollt. Dabei mischen sich vor allem drei Handlungsebenen und Zeitstränge: die Originaleinträge aus Astas Tagebuch, Erzählungen über Swanneys Leben und Erinnerungen von Ann zu diesem Thema und zu guter Letzt auch noch die Recherche von Ann in der Gegenwart. Somit wird die ganze Familienbiografie von den Urgroßeltern seit dem Jahr 1905 bis in die Gegenwart episch sehr breit ausgewalzt.
Als zentrale Szene des Romans und eigentliches Thema gilt die Identitätssuche von Astas Lieblingstochter Swanney, die durch einen sehr beleidigenden anonymen Brief darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie möglicherweise nicht die leibliche Tochter ihrer Mutter sein könnte. Asta schweigt zu den Vorhaltungen und bohrenden Fragen ihrer Tochter und ergeht sich in nebulöser Hinhaltetaktik, Ausweichmanövern und genervten Nicht-Antworten, da sie überhaupt nicht verstehen will, warum Swanney, die sich im bereits im reifen Alter von etwa 50 Jahren befindet, unbedingt ihre Wurzeln kennenlernen will. Swanney ist verzweifelt, als ihr das Fundament ihrer Herkunft entzogen wird. Als ihre Mutter stirbt, sucht sie nach Hinweisen für ihre brennende Lebensfrage und entdeckt die Tagebücher, die sie nach dem Tod ihres Mannes und im fortgeschrittenen Alter noch zur erfolgreichen Herausgeberin machen. Leider fehlen im Tagebuch ungefähr sechs Seiten, die irgendjemand herausgerissen hat. Ann spekuliert, dass es Swanney war, die ihre wahre Herkunft nicht ertragen konnte, aber es könnte auch Asta gewesen sein.
Ann macht sich nach dem Tod ihrer Tante erneut auf die bereits erkaltete Spur der ungesicherten Herkunft. Dabei stellen sich viele ungelöste Fragen: Ist Swanney möglicherweise die ungefähr zum Zeitpunkt ihrer Geburt verschwundene Edith Roper und hat Alfred Roper Ediths Mutter umgebracht? Wohin ist Edith verschwunden, lebt sie, oder ist sie auch tot und die Leiche wurde gut beseitigt? Oder hatte Asta gar keine Fehlgeburt, Swanney ist tatsächlich ihre Tochter und sie hat den anonymen Brief selbst geschrieben? Wer hat den Brief überhaupt geschrieben? Diese Fragen werden in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert und leider mit viel zu viel ausladendem Familientratsch und für die Haupthandlung unnötigen biografischen Gschichtln garniert.
Das Ende, das bedauerlicherweise erst nach diesem elendslangen, mehr als fünfhundert Seiten dauernden Plot mit der gesamten, in fast allen Petitessen geschilderten Familienchronik in Sicht ist, überrascht auf den letzten Seiten doch sehr, denn die wahre Geschichte von Astas Tochter ist völlig anders, als die Familienmitglieder bisher geglaubt haben. Als die vermissten Seiten endlich zufällig in der Gegenwart auftauchen, dreht sich die Handlung noch einmal und im Plot kommt erstmals Spannung auf. Diese Wendung kommt aber für die Schnecke viel zu spät, sie ist schon so erschöpft und genervt, dass sie es nicht mehr genießen kann.
Fazit: Eine zu langatmige, zu episch breite Familiengeschichte mit zu viel unnötigem Beiwerk, der eine Kürzung von mindestens zweihundert Seiten und eine Konzentration auf die Haupthandlung, nämlich Swanneys Herkunft, gutgetan hätte. Der Roman ist zwar prinzipiell gut, aber ich hätte gerne bitte viel weniger davon.