Das Theater ist ein wesentlicher Bestandteil im Leben der Amerikanerin M.L. Rio. Ihre erste Rolle übernahm sie in der ersten Klasse, entdeckte kurz darauf Shakespeares Stücke und entwickelte eine unsterbliche Leidenschaft für ihn. Sie studierte Englisch und Dramatik und zog nach ihrem Abschluss nach London, um am renommierten King’s College ihren Master in Shakespeare Studies zu machen. 2016 gewann sie zum 400. Todestag Shakespeares eine Reise zu Hamlets dänischem Schloss Kronborg und war die erste Person, die dort seit 100 Jahren übernachtete. Rio ist ein Shakespeare-Nerd. In den ersten Semestern ihres Masterstudiums begann sie, ihren Debütroman zu schreiben, der sowohl ihrer Begeisterung fürs Theater als auch für den alten Barden Ausdruck verleiht: „If We Were Villains“.
„Das Leben ist eine Bühne“ – für Oliver Marks und seine Freunde war dieses Sprichwort Realität. Ihre exklusive Ausbildung an der elitären Dellecher Kunsthochschule überzeugte sie davon, sich als Erben Shakespeares zu verstehen. Glorreiche Tage voller Verse und Dekadenz. Sie lebten und atmeten ihre Rollen, nahmen sie in Besitz, bis ihre Rollen auch von ihnen Besitz ergriffen. Sogar abseits der Bühne verkörperten sie die Charaktere, denen sie Leben einhauchten. Ihre Leidenschaft schweißte sie zusammen. Sie waren unzertrennlich, unbesiegbar. Doch in ihrem Abschlussjahr entflammte eine nie gekannte Rivalität. Ihre Lehrer_innen änderten die Besetzung und provozierten einen Konkurrenzkampf, der ihre Gemeinschaft vergiftete. Aus Freunden wurden Feinde und eines Morgens war ein Mitglied ihrer Clique tot. 10 Jahre später wird Oliver aus dem Gefängnis entlassen und kehrt nach Dellecher zurück, um die Wahrheit zu offenbaren. Noch einmal durchlebt er seine schmerzvollen Erinnerungen an die überreizten Monate, die in einer katastrophalen Tragödie endeten. Hat er das furchtbare Verbrechen, für das er büßte, wirklich begangen?
Es geschehen noch Zeichen und Wunder. „If We Were Villains“ ist streng genommen ein Krimi. Normalerweise sind mir Krimis zu langweilig. Dieses Buch hingegen ist mehr als ein schnöder Krimi. Es ist eine formvollendete Tragödie in Shakespeare-Manier, was wahrscheinlich das größte Kompliment ist, das man M.L. Rio aussprechen kann. Ich glaube, ihr Debütroman hätte dem alten Barden gefallen. Es ist ihr gelungen, in jeder Facette der Geschichte eine unvergleichliche Intensität einzufangen, die die frenetische Atmosphäre prägte. Die Strukturierung des Buches in Szenen und Akte unterstützte den Eindruck eines shakespeareesken Theaterstückes natürlich, aber ich bin sicher, dass dieser auch mit einer konventionellen Einteilung entstanden wäre, weil die Figuren in bedeutendem Maße dazu beitragen. Shakespeares Stücke zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass seine Figuren innerhalb sehr kurzer Zeit ein überwältigendes Wechselbad der Emotionen durchleben. Diese erratische Sprunghaftigkeit ist M.L. Rios Charakteren ebenfalls eigen. Olivers Clique lebte in einem Shakespeare-Stück. Sie führten Dialoge in Zitaten und ließen sich völlig von der komprimierten Darstellung menschlicher Beziehungen vereinnahmen. In der elitären Umgebung der Dellecher Kunsthochschule verloren sie den Kontakt zur Realität. Die Schule wirkte auf mich beinahe wie eine Sekte, denn Oliver und seine sechs Freunde wurden in dem Empfinden, dass eine Welt außerhalb ihrer Mauern nicht existent oder zumindest irrelevant ist, subtil bestärkt. Ihre Ausbildung war ihr Universum; Dellecher war ihr Heim, ihre Freunde waren ihre Familie und Shakespeare war ihre Religion, der sie mit kompromissloser Opferbereitschaft huldigten. Die uneingeschränkte Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Rollen einnahmen, war geradezu unheimlich. Mir war nicht immer klar, wo die Rolle aufhörte und der Mensch begann. Ihre Mimikry war vollkommen bis zur Selbsttäuschung und beeinflusste die Dynamik ihrer Gruppe maßgeblich. Eine Umbesetzung seitens ihrer Lehrer_innen störte das sensible Gleichgewicht zwischen ihnen und ihre Freundschaft wankte. Bis zum Ende des zweiten Akts lag die Spannung von „If We Were Villains“ folglich darin, herauszufinden, welches Mitglied der Clique den Tod finden würde. Danach ist die bestimmende Frage, wer schuldig ist. Meine Verdächtigungen variierten, lediglich den Protagonisten Oliver zog ich nie in Betracht. Sein unterstützendes Wesen, das Wesen einer Nebenrolle, das sich allerdings ausschließlich auf ihre Gemeinschaft bezog, zeichnete diese Möglichkeit für mich als unvorstellbar. Der Tod des Mitglieds und die resultierenden polizeilichen Ermittlungen zwangen die Clique in eine Lage, in der sie nicht mehr fähig waren, ihre Rollen aufrechtzuerhalten. Der enorme emotionale Druck zerrte die Persönlichkeiten hinter den Rollen hervor. Ihre Gruppe brach auseinander, weil sie nicht länger funktionierten, was Oliver 10 Jahre später, nach seiner Inhaftierung, durchaus bewusst zu sein scheint. Durch seine rückblickende Erzählung erfasst M.L. Rio den Niedergang der sieben Jugendlichen eindringlich und vermittelt glaubhaft, dass sie sich gegenseitig zugrunde richteten. Niemand konnte ihnen etwas anhaben – nur sie selbst.
„If We Were Villains“ ist der vermutlich beste Krimi, den ich je gelesen habe, weil sich das Buch eben nicht wie ein Krimi anfühlte, sondern wie ein waschechtes Shakespeare-Stück. Der Mord ist lediglich ein einzelnes Puzzleteil in dieser berauschenden Erzählung von Leidenschaft, Besessenheit und Hingabe. Die psychologisch komplexe, vielschichtige Darstellung einer komplizierten, prekären Freundschaft, die ausschließlich unter sehr spezifischen Bedingungen überlebte und eskalierte, sobald sich diese Bedingungen änderten, beeindruckte mich und hätte den alten Barden stolz gemacht. M.L. Rio darf sich meiner Meinung nach ohne Arroganz Shakespeares Erbin nennen – obwohl in ihrem Roman nicht alle Figuren sterben.