Ende der 20er-Jahre wird die neunjährige Vivian in einen Waisenzug gesetzt. Als Tochter irischer Einwanderer hat sie bei einem Häuserbrand ihre Familie verloren und fährt kurzerhand einer ungewissen Zukunft entgegen. Erst im hohen Alter bringt sie es über sich, dem Teenager Molly ihre Geschichte zu erzählen, weil Molly selbst eine Waise ist.
„Der Zug der Waisen“ von Christina Baker Kline ist ein wunderbar aufbereiteter historischer Roman, der Vergangenheit und Gegenwart vom Dasein als Waise reflektiert. Zudem geht es um Identitätssuche und die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit.
Im Zentrum der Handlung stehen die Waisenzüge, wie sie in den USA in den 20er- und 30er-Jahren zum Einsatz kamen. Waisenkinder wurden einfach in einen Zug Richtung Westen gesetzt, um von Station zu Station neue Familien für sie zu finden. Leider hat man sich um das Wohlergehen der Kinder selbst kaum Sorgen gemacht, sondern war froh, wenn sie unterkamen. So hat es sich ergeben, dass viele dieser Waisen keine angenehme Kindheit hatten, sondern als Dienstmädchen, Stallburschen oder Erntehelfer ohne Schulbildung aufgewachsen sind.
Vivian erzählt dem Teenager-Mädchen Molly, wie es ihr als Waisenzugkind ergangen ist. Sie holt aus und berichtet, wie sie einst mit ihrer Familie in den USA landete, erklärt, wie schwierig es war in New York Fuß zu fassen, und wie sie ihre Familie, ihre Herkunft und sogar ihren richtigen Namen verlor.
Es war sehr angenehm der alten Dame - Vivian ist zu dem Zeitpunkt schon über 90 Jahre alt - zuzuhören. Ohne sentimental zu werden, erzählt sie davon, wie es damals gewesen ist, was sie ertragen musste, berichtet von ihren Befürchtungen und wohin sie die Reise ihrer Kindheit verfrachtet hat.
Molly ist selbst ein Waisenkind und in einer Pflegefamilie untergebracht. Dadurch lernt sie die alte Frau kennen, der sie zur Hand gehen soll. Anhand von Molly wird das Waisendasein in der Gegenwart thematisiert. Molly hat es auch nicht leicht, weil sie nur selten den Erwartungen ihres Umfelds entspricht und diesen gar nicht entsprechen will. Sie hasst es, sich verbiegen zu müssen, dass alle anderen es ständig besser wissen, und dass sie nie dazuzugehören scheint.
Diese beiden Perspektiven von damals und heute wurden anhand der beiden Schicksale zu einem schönen Roman verwoben. Es wird zwischen den Erzählsträngen gewechselt, sodass man Parallelen aber auch Unterschiede erkennt.
Mir hat sehr gut gefallen, dass die Autorin nicht zu sehr auf die Tränendrüse drückt. Die Emotionen der Protagonisten werden trotzdem gut rübergebracht, allerdings ohne kitschig zu sein.
Einziger Kritikpunkt sind die Nebenpersonen des Gegenwartsstrangs, die sofort als Mittel zum Zweck erkennbar und ziemlich ausdruckslos geblieben sind. Man merkt, dass sie nur ihren Platz in der Geschichte haben, damit die Handlung voran getrieben wird, ohne authentische Eigenheiten erhalten zu haben.
Dessen ungeachtet hat Christina Baker Kline einen sehr gut recherchierten, historischen Roman geschaffen, dem die beiden Sprecherinnen der Hörbuchversion gerecht geworden sind. Den unterschiedlichen Erzählsträngen kann man sehr gut folgen, denn bei jedem Kapitel wird auf die Zeitebene verwiesen, und die Sprecherinnen haben auf mich glaubwürdig gewirkt.
„Der Zug der Waisen“ behandelt ein ernstes Thema amerikanischer Geschichte und gibt den Kindern von damals eine Stimme, damit ihre ‚wahre‘ Identität nicht vergessen wird. Ich bin froh, mehr darüber erfahren zu haben und hoffe, dass es noch viele Leser und Hörer finden wird.