Bereits als Joe Abercrombie den dritten Band seiner „First Law“-Trilogie schrieb, „Königsklingen“, wurde ihm bewusst, dass er sich in Sachen Gleichberechtigung nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Nicht nur ist das „First Law“-Universum ein striktes Patriarchat, er hatte auch vergleichsweise wenig weibliche Charaktere in die Geschichte integriert. In seiner „Shattered Sea“-Trilogie wollte er das ändern. Da Gettland eine von den Wikingern inspirierte Gesellschaft darstellt, konnte er Frauen wichtige Aufgaben übertragen: finanzielle Entscheidungen, Handel und Haushaltsführung liegen ganz in weiblicher Hand. Dennoch gibt es sogar in Gettland Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen ist die Protagonistin des zweiten Bandes „Königsjäger“, Dorn Bathu.
Alles, was Dorn Bathu je wollte, ist, für ihr Land und ihren König zu kämpfen. Sie ist nicht wie andere Mädchen: weder kann sie nähen, noch kochen und sie versteht auch nichts von Haushaltsführung. Sie versteht sich nur auf den Gebrauch eines Schwertes. Leider hat ihr Ausbilder etwas dagegen, dass eine Frau die Truppen Gettlands verstärkt und stellt ihr während ihrer letzten Prüfung eine unmögliche Aufgabe. Dorn scheitert – mit fatalen Folgen. Geächtet und verzweifelt erwartet sie das Urteil ihres Königs. Doch als sich ihre Zelle öffnet, steht dort nicht der Vollstrecker, sondern Vater Yarvi. Der Gelehrte bietet ihr an, sie rauszuholen, im Austausch für ihre Dienste. Sie soll ihn auf eine völlig verrückte Reise um die halbe Welt begleiten, als Mitglied der seltsamsten Crew, die jemals ein Schiff bemannte. Vater Yarvis undurchsichtige Pläne sind Dorn ein Rätsel. Aber was hat sie schon zu verlieren?
Ja! Ich fand „Königsjäger“ deutlich besser als den ersten Band „Königsschwur“! Ich habe mich während der Lektüre beobachtet: ich freute mich viel mehr aufs Lesen und wollte meist nicht unterbrechen, hatte ich einmal angefangen. Das war mit dem Trilogieauftakt nicht der Fall und ist ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass mich die Geschichte des zweiten Bandes verstärkt fesselte. Einerseits lag meine positivere Leseerfahrung sicher daran, dass ich mich mit Joe Abercrombies konzeptioneller Herangehensweise an „Shattered Sea“ bereits abgefunden hatte und mich die erneut auftretenden Zeitsprünge weniger störten. Diese gestalteten sich teilweise abermals recht abrupt, ich hatte allerdings seltener das Gefühl, dass dadurch entscheidende Entwicklungen ausgelassen wurden. Andererseits konnte ich mich mit Dorn als Protagonistin wesentlich besser anfreunden als mit Yarvi in „Königsschwur“. Wo Yarvi intrigant und verschlossen ist, ist Dorn gradlinig und direkt. Sie handelt nicht immer sympathisch, doch es fiel mir leichter, ihre Entscheidungen, Motivationen und Prioritäten nachzuvollziehen, wodurch ich eine tiefere Verbindung zu ihr aufbauen konnte. Außerdem empfand ich es als hilfreich, dass Abercrombie Dorns kompromissloser Härte die sanfte Güte ihres Ruderpartners Brand gegenüberstellt, der Yarvi ebenfalls auf seiner Reise in seiner offiziellen Funktion als Gelehrter begleitet. Gemeinsam krempeln sie Gettlands Geschlechterrollen auf links, denn beide verkörpern jeweils genau das Gegenteil dessen, was gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Trotz der höheren Präsenz weiblicher Figuren in „Königsjäger“ wäre es ein Trugschluss, anzunehmen, das Universum der „Shattered Sea“-Trilogie sei feministisch. Es existiert keine wahre Gleichberechtigung, weil „männliche“ und „weibliche“ Domänen sehr klar abgesteckt sind und Übertretungen der Grenzen durchaus Folgen haben, die Dorn und Brand am eigenen Leib erfahren. Ebenso erleben sie die Auswirkungen einer prekären politischen Situation, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Dieser indirekte Blickwinkel gefiel mir hervorragend, weil „Königsjäger“ dadurch überraschend politisch ist, ohne diejenigen zu fokussieren, die die Machtströmungen der Bruchsee konkret repräsentieren, sondern die daraus resultierende, greifbare Realität für das einfache Volk. Demzufolge empfand ich auch die Kampfszenen als mitreißender, denn im Gegensatz zu Yarvi sind Dorn und Brand mittendrin. Dennoch faszinierte es mich, Yarvi diesmal von außen zu betrachten, zu studieren, wie er auf andere wirkt und welchen Ruf er sich in seiner relativ kurzen Zeit als Gelehrter bereits erarbeitete. Er ist wirklich ein verflixt gerissener Intrigant, der weitreichende Pläne verfolgt. Er beeindruckte mich, obwohl ich finde, dass seine Absichten und Strategien recht gut lesbar sind, hat man erst verstanden, wie er tickt. Deshalb bin ich sicher, dass Yarvi mit der Bruchsee noch nicht fertig ist. Sein Konflikt mit dem Hochkönig und dessen Gelehrter Großmutter Wexen ist noch nicht gelöst. Ich bin gespannt, was er sich im Finale „Königskrone“ einfallen lässt, um diesen beiden endgültig ihre Machtpositionen zu entreißen.
Meiner Meinung nach entspricht „Königsjäger“ eher dem unverwechselbaren Stil, den Fans (wie ich) von Joe Abercrombie gewohnt sind. Der zweite Band der „Shattered Sea“-Trilogie führt die Geschichte um Yarvi zwar konsequent weiter, bedient sich dafür jedoch anderer Charaktere, die viel mehr an die Figuren der „First Law“-Romane erinnern und deren Profile die Handlung actionreicher und schwungvoller gestalten. Ich mochte Dorn und Brand sehr, weil sie für mich nahbarer waren als der reservierte Yarvi, der sich so ungern in die Karten schauen lässt. Ihre Reise um die halbe Welt greift erneut den Coming of Age – Aspekt auf, konfrontiert sie – manchmal unangenehm – mit ihrer Selbstwahrnehmung und stellt sie vor die Wahl, was für Menschen sie künftig sein wollen. Ganz nebenbei lernte ich das Universum des Dreiteilers dadurch besser kennen und begriff, dass der Bruchsee Krieg bevorsteht. „Shattered Sea“ ist nicht nur die Geschichte des Racheschwurs eines einzelnen Mannes – es ist die Geschichte einer Welt im Wandel und somit doch ganz typisch Abercrombie.