Durch meine diesjährige Autorinnenchallenge, in der ich in 13 Monaten 26 Bücher von Autorinnen mit dem Familiennamen A-Z lese (Details dazu hier), habe ich mich aus meiner bisherigen Komfortzone herausbegeben und möchte Euch nun zum relativ exotischen Buchstaben O die finnische Autorin Sofi Oksanen mit diesem Roman wärmstens ans Herz legen.
Im Jahr 1992 findet die Protagonistin Aliide auf ihrem estnischen Bauernhof ein junges geflüchtetes verletztes Mädchen namens Zara, das sich allmählich als Enkelin ihrer Schwester entpuppt. Nach und nach erhält der/die Leser*in Einblick in das Familiendrama, das dafür verantwortlich ist, dass die Verwandten auseinandergerissen wurden und sich gar nicht kennen. Daraus webt die Autorin ein beispielloses Drama aus Terror, Angst, Schuld, Opfer -Täterumkehr und Sühne, in dem die Figuren derart vielschichtig denken handeln und fühlen, dass es eine Freude ist.
Die Geschichte kommt zwar durch die zahlreichen sprunghaften Rückblenden in unterschiedliche Jahre etwas gemächlich in Schwung, aber spätestens bei der Hälfte der Strecke hatte sie mich so gepackt, dass sie mich überhaupt nicht mehr losließ.
Zu Beginn war es für mich gruselig, dass die Zivilbevölkerung 1992 während des russischen Umbruchs in den baltischen Staaten auch extrem von Angst, Mangelwirtschaft, Terror und Vergeltungsmaßnahmen geplagt war. Fast schien es so, als würde sich die sehr bewegte Geschichte Estlands während des 2. Weltkrieges wiederholen, in der die zuvor autonome estnische Bevölkerung permanent abwechselnd von deutschen und russischen Soldaten okkupiert und drangsaliert wurde.
Nach den Rückblenden in die Jahre 1936-1952 kommt das ganze Ausmaß der Schuld der Protagonistin Aliide ans Tageslicht. Selbst als junges Mädchen ein Opfer von Vergeltungsmaßnahmen und Vergewaltigung richtet sie aus Scham, Trotz, Eifersucht, Angst und über Leichen gehenden Überlebenswillen ihre ganze Familie zu Grunde. Unglaublich was geschundene Menschen in Ausnahmesituationen ihren eigenen geliebten Verwandten antun können, dies auch noch rechtfertigen, sich als Opfer mit den Tätern verbünden und damit selbst zu einer der widerlichsten und gleichzeitig armseligsten, erbarmungswürdigsten Form von Tätern werden. Wenn im Krieg der Firnis der Zivilisation abbröckelt, ist vieles, das vorher unvorstellbar war, plötzlich möglich.
Auch die Geschichte des Jahres 1991 mit der Großnichte Zara ist ganz schön starker Tobak. Von Mädchenhändlern in Wladiwostok akquiriert und mit angeblich ehrlicher Arbeit im Westen in die Zwangsprostitution gelockt, erlebt auch dieses Familienmitglied den absoluten Horror in der Spirale der Gewalt und Unterwerfung.
Beide Frauen misstrauen, belauern und unterstützen sich gleichzeitig gegenseitig, die Stimmung des Romans ist sehr von Angst, Misstrauen, Geheimnissen, lapidarer und massiver Gewalt geprägt. Letztendlich tilgt jedoch Aliide ihre Schuld der Vergangenheit und es kommt fast so etwas wie ein furioses trauriges Ende mit vielen Leichen zustande, das aber dennoch irgendwie als positiv bezeichnet werden kann, da sowohl die letzten übriggebliebenen „Bösen“ als auch jene sterben, für die sowieso jegliche Rettung nicht mehr möglich und vergeudet ist.
Die Figuren sind alle sehr komplex und vielschichtig gezeichnet. Kaum einer ist nur gut oder böse, Opfer oder Täter, sondern es werden menschliche Abgründe in Extremsituationen dargestellt. Gleichzeitig wird sehr viel Geschichte aus diesem kleinen baltischen Staat namens Estland vermittelt, von dem ich bisher auf jeden Fall viel zu wenig wusste. So, nun beiße ich mir aber auf die Zunge und höre auf zu schwärmen und zu spoilern, damit Ihr Euch von der Geschichte überraschen lassen könnt, und glaubt mir, da gibt es noch so einige unerwartete Wendungen und Überraschungen.
Fazit: Eine absolute Leseempfehlung von mir für diesen packenden, brutal realistischen, preisgekrönten Frauen-Roman. Er erfordert aber zu Beginn ein bisschen Durchhaltevermögen, also bitte nicht zu schnell aufgeben.