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review 2018-07-30 08:33
Estnisch-Russisch-Deutsche Spirale der Gewalt
Fegefeuer - Sofi Oksanen,Angela Plöger

Durch meine diesjährige Autorinnenchallenge, in der ich in 13 Monaten 26 Bücher von Autorinnen mit dem Familiennamen A-Z lese (Details dazu hier), habe ich mich aus meiner bisherigen Komfortzone herausbegeben und möchte Euch nun zum relativ exotischen Buchstaben O die finnische Autorin Sofi Oksanen mit diesem Roman wärmstens ans Herz legen.

Im Jahr 1992 findet die Protagonistin Aliide auf ihrem estnischen Bauernhof ein junges geflüchtetes verletztes Mädchen namens Zara, das sich allmählich als Enkelin ihrer Schwester entpuppt. Nach und nach erhält der/die Leser*in Einblick in das Familiendrama, das dafür verantwortlich ist, dass die Verwandten auseinandergerissen wurden und sich gar nicht kennen. Daraus webt die Autorin ein beispielloses Drama aus Terror, Angst, Schuld, Opfer -Täterumkehr und Sühne, in dem die Figuren derart vielschichtig denken handeln und fühlen, dass es eine Freude ist.

Die Geschichte kommt zwar durch die zahlreichen sprunghaften Rückblenden in unterschiedliche Jahre etwas gemächlich in Schwung, aber spätestens bei der Hälfte der Strecke hatte sie mich so gepackt, dass sie mich überhaupt nicht mehr losließ.

Zu Beginn war es für mich gruselig, dass die Zivilbevölkerung 1992 während des russischen Umbruchs in den baltischen Staaten auch extrem von Angst, Mangelwirtschaft, Terror und Vergeltungsmaßnahmen geplagt war. Fast schien es so, als würde sich die sehr bewegte Geschichte Estlands während des 2. Weltkrieges wiederholen, in der die zuvor autonome estnische Bevölkerung permanent abwechselnd von deutschen und russischen Soldaten okkupiert und drangsaliert wurde.

Nach den Rückblenden in die Jahre 1936-1952 kommt das ganze Ausmaß der Schuld der Protagonistin Aliide ans Tageslicht. Selbst als junges Mädchen ein Opfer von Vergeltungsmaßnahmen und Vergewaltigung richtet sie aus Scham, Trotz, Eifersucht, Angst und über Leichen gehenden Überlebenswillen ihre ganze Familie zu Grunde. Unglaublich was geschundene Menschen in Ausnahmesituationen ihren eigenen geliebten Verwandten antun können, dies auch noch rechtfertigen, sich als Opfer mit den Tätern verbünden und damit selbst zu einer der widerlichsten und gleichzeitig armseligsten, erbarmungswürdigsten Form von Tätern werden. Wenn im Krieg der Firnis der Zivilisation abbröckelt, ist vieles, das vorher unvorstellbar war, plötzlich möglich.

Auch die Geschichte des Jahres 1991 mit der Großnichte Zara ist ganz schön starker Tobak. Von Mädchenhändlern in Wladiwostok akquiriert und mit angeblich ehrlicher Arbeit im Westen in die Zwangsprostitution gelockt, erlebt auch dieses Familienmitglied den absoluten Horror in der Spirale der Gewalt und Unterwerfung.

Beide Frauen misstrauen, belauern und unterstützen sich gleichzeitig gegenseitig, die Stimmung des Romans ist sehr von Angst, Misstrauen, Geheimnissen, lapidarer und massiver Gewalt geprägt. Letztendlich tilgt jedoch Aliide ihre Schuld der Vergangenheit und es kommt fast so etwas wie ein furioses trauriges Ende mit vielen Leichen zustande, das aber dennoch irgendwie als positiv bezeichnet werden kann, da sowohl die letzten übriggebliebenen „Bösen“ als auch jene sterben, für die sowieso jegliche Rettung nicht mehr möglich und vergeudet ist.

Die Figuren sind alle sehr komplex und vielschichtig gezeichnet. Kaum einer ist nur gut oder böse, Opfer oder Täter, sondern es werden menschliche Abgründe in Extremsituationen dargestellt. Gleichzeitig wird sehr viel Geschichte aus diesem kleinen baltischen Staat namens Estland vermittelt, von dem ich bisher auf jeden Fall viel zu wenig wusste. So, nun beiße ich mir aber auf die Zunge und höre auf zu schwärmen und zu spoilern, damit Ihr Euch von der Geschichte überraschen lassen könnt, und glaubt mir, da gibt es noch so einige unerwartete Wendungen und Überraschungen.

Fazit: Eine absolute Leseempfehlung von mir für diesen packenden, brutal realistischen, preisgekrönten Frauen-Roman. Er erfordert aber zu Beginn ein bisschen Durchhaltevermögen, also bitte nicht zu schnell aufgeben.

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review 2018-07-11 10:36
Mediokre Altherrenfantasie mit viel Geschwafel, platten Figuren aber grandiosem Plot
Der menschliche Makel - Philip Roth,Dirk van Gunsteren

Wenn ich mich bei meinen Buch-Freunden umsehe, dann fällt auf, dass dieses Werk extrem stark polarisiert. Die einen lieben es, die anderen finden kein gutes Haar an ihm.  Ich bin diesmal wie so oft in der Mitte und kann sowohl die Begeisterung als auch die Ablehnung verstehen, so wie ich hier auch die Stärken und Schwächen dieses Werkes anmerken kann.

Im Gesamtplot finde ich die Geschichte echt grandios. Ein sehr heller Schwarzer konsturiert seine Lebenslüge als weiße Identität, inklusive sagenhaftem akademischen und gesellschaftlichen Aufstieg, aus der er nicht mehr herauskann. Irgendwie rächt sich diese Bitch von Karma, da er wegen eines Missverständnisses als Rassist gegen Schwarze diffamiert wird. In dieser von Roth konstruierten Konstellation bekommt der Begriff Zwickmühle eine Bedeutung, die der griechischen Tragödie gleichkommt. In einer Doppelmühle kann der falsche Protagonist SilkySilk wählen zwischen: Weißer Rassist, der akademisch in den neuen politisch korrekten Zeiten einfach erledigt ist oder Neger, der sich durch Schwindel einen ihm nicht angemessenen akademischen Posten erschlichen hat bzw. nur ein verdammter dreckiger Lügner, der auch seine Familie an der Nase herumgeführt hat. Vor allem der Verrat an der Familie und seinen Kindern wiegt so schwer, dass er nicht mehr zurück kann und den weißen Rassisten stehenlassen muss, unpackbar wenn rauskäme, dass er seine Familie lebenslang angelogen hat und die Beziehungen seiner Kinder der Katastrophe ausgesetzt hätte, dass in Filialgeneration 3 ein reinrassiger Neger rausschlüpft. Er hat die Wahl zwischen Pest und Cholera

Auch die Sprachfabulier und Erzählkunst ist streckenweise ausgezeichnet, bis sie in die furchtbar typische amerikanische eitle Schwadronierkunst ausufert, die fast jedem US-Autor im Verlauf seines Romans ein bisschen entgleist. Eine epische Landstraße wäre oft angemessener als ein breiter 10spuriger highway. Vor allem die Kapitel 3-4 strotzen nur so vor epischem sinnlosen Füllmaterial. Das beginnt mit den beschissenen Krähenszenen über das elaborierte oft sehr substanzlose philosophische Geschwafel des amerikanischen Pildungspürgers über Rousseau, Heidegger und andere Philosophen, deren Theorien aber nicht konsistent wirklich in den Plot eingebaut werden, sondern nur zitiert werden, damit man damit prahlen kann, was man alles gelesen hat und wie man seichte Querverweise mit der Mistgabel in den Roman hineinschaufelt. WTF das hier ist Literatur und keine wissenschaftliche Arbeit, in der jener gewinnt, der von den meisten Quellen "abgeschrieben" (natürlich zitiert - das ist ein Wissenschaftswitz) hat.
Es endet übrigens in einem verdammten elitären Kulturpessimismus (Szene Ernestine und Zuckerman), ala früher waren alle klüger, den ich einfach nicht mehr ertragen kann, weil er auch heutzutage von Literaturprofessoren, die offensichtlich noch nie was von lebenslangem Lernen gehört haben und sich gegen jede Literatur- und Medientransformation mit überheblichem eltärem Geschwafel sperren, noch immer angewandt wird.

Die Analogien zur griechischen Tragödie und mehrfache Zitierung derselben halte ich jedoch in zweierlei Hinsicht für wundervoll. Erstens ist der Protagonist Professor für klassische Literatur, die vor allem das griechische Drama umfasst. Zweitens ist das gesamte Werk als ziemlich geniale griechische Tragödie aufgebaut. Am Ende kommen die größten Schurken gottgleich auch noch davon und profitieren sogar vom Unglück des Protagonisten.

Inhaltlich spielt der Roman dann auch noch ein bisschen Gesellschaftskritik an der amerikanischen Scheinheiligkeit der akademischen Schichten. Selbst dort bei den ach so humanitären Wesen wird die political correctness als sehr effektive Waffe gleich einer Atombombe in den Ränkespielen und Intrigen der universitären Welt eingesetzt. Jaja das kenne ich sehr gut. Nirgends fliegen die intriganten Hackln so tief und effizient wie auf den Fluren der Universitätsinstitute.

Was für mich inhaltlich extrem störend ist, sind die geilen unrealistischen Altherrenphantasien, die von ärgerlich über peinlich, grotesk bis total armselig reichen. Ist schon arg traurig, wenn sich fast ein Drittel des Romans über die schwindende Manneskraft, Sex, der Segen von Viagra und die Erhöhung des alten klugen Mannes über die jungen Frauen definiert.

 

Das Bildnis der Frauen in diesem Roman  also die Figuren sind auch voll von Stereotypen und Klischees, die platter und peinlicher gar nicht gehen. Die ungebildete, Katastrophen wie ein Magnet anziehende Hure mit dem goldenen Herzen und die gebildete, etwas einsam verklemmte pöhse Intrigantin. Coleman Silks Frau Iris wird dann sowieso nur mehr ganz flach auf ihre Haare und auf ihren politischen Kampfgeist reduziert. Für einen dritten Frauentypus etwas differenzierter gestaltet hat offensichtlich die Fantasie des Autors nicht mehr gereicht. Ach ja und dann auch noch die brave duldende kulturpessimistische Lehrerin in einer kleinen Nebenrolle.

Etwas ungewöhnlich sind auch die völlig randomisierten Wechsel der Erzählperspektiven. Ich habe lange überlegt, ob sie mich nerven, bin aber draufgekommen, dass sie mich herausfordern, aber irritieren.

Fazit: Die Story ist prinzipiell grandios, hätte man ordentlich lektoriert und das ganze Füllmaterial herausgestrichen, wäre schon mal ein guter Roman herausgekommen. Die Figuren sind klischeehaft und das intellektuelle Geschwafel ist einerseits himmlisch, dort wo es dazupasst und dort wo es als eitles Geschwätz eingesetzt wird, das mit der Handlung nichts zu tun hat, ist es nur unerträglich. So kommt bei Abwägung aller Faktoren für mich in Summe zwar kein schlechtes, aber ein recht mediokres Werk heraus.

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review 2018-05-31 10:06
Surrealer, total wahrer Wahnsinn im Operettenstaat Nordkorea
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do - Adam Johnson,Anke Caroline Burger

Dieser 2013 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Roman ist bedauerlicherweise bisher völlig an mir vorbeigegangen. Dann entdeckte er mich kürzlich zufällig auf dem Weg zu einer Aussichtsplattform, ich stolperte quasi über ihn. Am Tag der Annäherung von Nord- und Südkorea beschloss ich nun, dass es Zeit ist, mich mit diesem Werk zu beschäftigen.

Wahnsinn! Ich fasse noch immer nicht, was mir bisher entgangen ist, da bin ich doch glatt unvermutet über eine Perle, ein Kleinod gestolpert.

Der Waise Jun Do hat kein eigenes Leben, keine Familie, sein ganzes Dasein und sein Lebenszweck ist dem großen Führer Kim Jog Il (als Stellvertreter natürlich den ausführenden Parteibonzen), seinen Bedürfnissen, Wünschen und Forderungen gewidmet. Durch diese Konstellation schlittert und laviert er durch ein atemberaubendes total fremdbestimmtes Leben, das in seiner Grausamkeit tragisch, episch und opernhaft in seiner Groteskheit und Absurdität aber fast operettenhaft wirkt. Fast so wie wir uns den geliebten Führer Nord-Koreas vorstellen, so wie uns dieser wahnwitzige eitle Zwerg in den Medien präsentiert wird.

Ich hoffe, ich kriege die Analogien richtig zusammen, denn der Stil dieses irrwitzigen Entwicklungsromans ist einzigartig. Der Roman hat von seiner lapidaren Grausamkeit her sehr viel von Remarques Im Westen nichts Neues gemischt mit sehr viel Kafka, und einem Schuss Anarchie der Monty Pythons, aber nicht die humorvollen Szenen sondern die brachial-grotesken. Somit sind die nicht seltenen sehr gewalttätigen Sequenzen aber auch etwas verträglicher, weil sie durch die Absurdität etwas weniger realistisch wirken.

"Das wahre Leben hatte ihn wieder - man hatte ihn für eine neue Aufgabe eingeteilt, und Jun Do machte sich keine Illusionen darüber, was das bedeuten mochte. Er drehte sich wieder zu den Anzugträgern um. Sie redeten über einen kranken Kollegen und spekulierten, ob er wohl Nahrungsmittel bei sich im Haus gehortet hatte und wer die Wohnung bekommen würde, wenn er starb."


Eine kafkaeske surreale menschenverachtende Münchhausiade, die so perfekt mit abstrusen Fakten über Nord-Korea gestrickt und eng gewoben ist, dass man nicht erkennt, wo die Wahrheit aufhört und die Fiktion beginnt - ich bin ENTZÜCKT!!

Beispielsweise entführen die Nordkoreaner in China, Japan und Südkorea massenweise Personen,  die irgendwer haben will: den Sushi Koch und den Leibarzt für den geliebten Führer, Frauen für Generäle, Schauspieler um die Filmindustrie aufzubauen ..... Am Anfang dachte ich mir noch, dieses abstruse Gschichtl ist gut erfunden, dann empfand ich es als so arg, dass es schon wieder wahr sein könnte. Nach einer ausführlichen Recherche, ob so was wirklich im großen Stil stattgefunden hat, fiel ich aus allen Wolken: Das ist tatsächlich in der Realität so passiert. Das geschiedene Schauspielerehepaar wurde aus Südkorea entführt, die Schauspielerin ist tatsächlich bei einer Auslandstournee geflüchtet und hat in Wien um politisches Asyl angesucht. Massenweise Japaner wurden entführt, um als Sprach- und Japanischlehrer zu fungieren, damit die Koreaner in einer japanischen Passagiermaschine nicht auffallen und einen Terroranschlag durchführen konnten. Unpackbar! Insgesamt 30 Entfürhungen hat Nord-Korea zugegeben mehr als 100 haben alleine die Japaner nachweislich dokumentiert.

Jun Do entwickelt sich im Laufe des Romans und wechselt in Folge seiner fehlenden persönlichen Identität und eines Glücksfalls auch sehr schnell zu der Identität des Generals Ga, den er in Notwehr umgebracht hat. In einem Staat, in dem alle vorauseilenden Gehorsam gewohnt sind, brauchen nur zwei bis drei einflussreiche Personen inkl. der große Führer diese Scharade unterstützen, schon folgen alle der Münchhausiade. Sogar die Ehefrau, die einen Treuetest des Führers oder ihres ehemaligen Gemahls vermutet, steigt in das Spiel ein. Zudem wird dieser Glücksfall von Jun Do noch gefördert, da Kommandant Ga einer der größten und unbeliebtesten Verbrecher des Landes war, der sogar von Kim Jong Il gehasst wird, weil sich beide gar so ähnlich sind.

In der ganzen skurrilen Geschichte steckt noch viel mehr drinnen, aber ich kann dem ganzen gar nicht gerecht werden, erstens wahrscheinlich überhaupt nicht in meiner Rezension und dann schon gar nicht, ohne massiv zu spoilern. Bei all den Absurditäten, die sich nach Recherche auf jeden Fall zu einem Großteil als wahr erweisen, ist Adam Johnson möglicherweise der tiefste, intensivste  ausführlichste und wahrhaftigste Blick auf den Operettenstaat Nordkorea mit dem Vorbild des Shogunats und in die verwirrten Seelen des geknechteten, mit Stockholm Syndrom gepeinigten Täter- und Opfervolks zugleich gelungen.

Fazit: Einer der Höhepunkte in meinem Buchjahr - sowohl aus politischer, dramaturgischer und sprachlicher Sicht ein absoluter Knüller, der auf jeden Fall in meine All-Time-Favourites eingeht! Aber eben ein bisschen abstrus in seiner Realität und sicher nicht für Jedermannfrau geeignet.

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review 2018-03-01 16:00
Sprachakrobatik und Beziehungen
Verteidigung der Missionarsstellung - Wolf Haas

Nein, in diesem Roman geht es nicht um Sex, sondern um eine kurzweilige Geschichte über Beziehungen und die Liebe aber vor allem um ein grandioses exzessives Spiel mit der Sprache.

 

Einigen von Euch wird Wolf Haas mit seinen Brenner-Kriminalromanen, die auch verfilmt wurden, im Gedächtnis sein. Auch ich habe bereits auf diesem Blog vor Jahren eine Book2movierezension über den Autor veröffentlicht. Aber Wolf Haas kann nicht nur einen minimalistischen Schreibstil wie in den sehr berühmten Krimis perfekt konzipieren, als studierter Linguist treibt er in diesem untypischen Roman mit der Sprache seine Späße, und das auf derart hohem Niveau, dass sich eine kindliche literarische Freude und das reine Lesevergnügen einstellen. Das beginnt mit ausländischen Angebeteten, die deutsche Sprache zwar sehr gut aber nicht perfekt beherrschen, was zu den köstlichsten Dialogen führt. Da werden Umlaute wie Ü komplett an der falschen Stelle gesetzt, dann wird sinniert, welche Wörter es im Englischen im Vergleich zum Deutschen nicht gibt. Weiters wird thematisiert, dass sprachlich immer die Ausnahmen von der Regel mit eigenen Wörtern bezeichnet werden, mit Ausnahme des Geschlechtsverkehrs, denn da hat auch die gewöhnliche Stellung einen Namen: Womit wir beim titelgebenden Wort – Missionarsstellung – wären, das eben tatsächlich nichts mit Sex in der Handlung zu tun hat. Haas spielt auch massiv grafisch und mit Typografie, um mit der Sprache seinen Schabernack zu treiben, da gibt es Texte in Kringeln, versetzt auf mehreren Seiten, Noten, Chinesische Schriftzeichen etc.. Ich als Leserin kam mir vor wie ein staunendes Kind, das lustvoll seinen Geist in ein Meer aus Sprachspielen und Rätseln taucht – wie Charly in der Schokoladenfabrik seine Finger in die Bottiche.

„Bist Du Vechetarier?“
„Nein“, sagte Benjamin Lee Baumgartner, obwohl er Vegetarier war.
„Und stört es Dich, wenn ich Gevögel bestelle.“
„Gevögel?“
„Vögelfleisch.“
„Geflüüügel!“
„Geflüüügel.“

„Hör auf mit diesem Unfug. Ich mache meinen Augen zu, und Du darfst mich nicht wieder kussen wie vorhin auf der Brucke. Ich habe Dir schon gesagt, warum nicht.“
„Ich will Dich nicht küssen. Ich will Dich schon küssen, ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass Du mich innerhalb der nächsten fünf Stunden küssen wirst, mit einer achzig- bis neunzigprozentigen Kusswahrscheinlichkeit sogar sehr optimistisch ein, jetzt aber will ich Dir nur eine Rätselfrage stellen, die ganz harmlos ist.“

Ein bisschen erinnert mich das ganze an James Joyces Ulysses – was sicher ein wenig als Vorbild diente – mit dem Unterschied, dass ich hier an einem Sprachspiel teilnehmen kann, das ich weit besser bis in die kleinsten Feinheiten in Originalsprache verstehe und nicht auf irgendeine Übersetzung angewiesen bin. Zwei weitere Vorteile hat das Haas’sche Werk auch noch: Erstens ist es kürzer und zweitens ist der Plot inhaltlich wesentlich (und jetzt ducke ich mich gleich weg, weil sprichwörtlich auf gut österreichisch die Hackln fliegen könnten) besser. Joyce hat mich immer mit seiner Imballance zwischen belanglosem Inhalt – dieser Gossip (wer mit wem) in Dublin, durch die Straßen wandern, Essen und Ausscheidungen, das war ja fürchterlich – und den überkandidelten sprachlichen Manierismen sehr genervt.

 

Bei Haas finde ich es ausgeglichen, denn er schreibt auch inhaltlich eloquent und kurzweilg über das banalste und gleichzeitig wahrscheinlich wichtigste Dauerthema der Literatur: über das Verlieben, die Liebe und Beziehungen.

 

Es geht um Wolf Haas und seinen Freund, Benjamin Lee Baumgartner, der immer, wenn er sich verliebt, in eine gefährliche Pandemie gerät. Auch hier wird wundervoll thematisiert, dass ein zeitlicher Zusammenhang im Deutschen nicht unbedingt eine kausale Korrelation nach sich zieht, obwohl man beides gleich ausdrückt. Allmählich wird in der liebenswürdigen Geschichte aber klar, nach der BSE-Krise in London 1988, Vogelgrippe 2006 in Peking und Schweinegrippe 2009 in Santa Fe könnte auch der hartnäckigste Verschwörungstheorieverweigerer draufkommen, dass es einen kausalen Zusammenhang geben könnte.  In Liebesdingen gibt es selbstverständlich auch einige ernsthafte amouröse Verwicklungen, denn Benjamin Lee Baumgartner ist nicht der ehrlichste, zuverlässigste Typ und auch selten Single, wenn er sich neu verliebt.

 

Zwei Kleinigkeiten haben mich ein ganz kleines bisschen gestört. Wolf Haas, der ja als Figur und Autor mitspielt, lässt manche Passagen des Romans unfertig und präsentiert dem Leser eigene Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen zur Überarbeitung. Das war am Anfang noch lustig, nervte mich aber letztendlilch schon etwas. Außerdem gibt es einen logischen Fehler inklusive einer wesentlichen Auslassung im Plot. Die dritte Liebesbeziehung war gar keine, denn Benjamin Lee trifft völlig unvermutet seine eigene Tochter, fällt auf Grund der Schweinegrippe in Ohnmacht und trifft sie nicht mehr an, als er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Dann wird dieser Erzählstrang aber völlig ignoriert. Nie wird thematisiert, ob sich Benjamin überhaupt auf die Suche gemacht hat. So etwas mag ein Mann verstehen, ich kann das einfach nicht, denn so etwas auf sich beruhen zu lassen, ist für mich sehr unlogisch.

 

Das Ende des Romans ist wieder von einer Genialität konzipiert, die atemberaubend ist. Benjamin verliebt sich in Deutschland und ich musste mir auf den Kopf schlagen, denn diese Seuche habe ich schon längst verdrängt. Ratet mal! 

 

Fazit: Wer sich gerne auf Sprachspielereien einlässt, wird restlos begeistert sein, aber der Roman ist zudem auch noch eine gute Geschichte über die Liebe und Beziehungen.

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review 2017-12-23 07:23
Ironische Geschichte mit romantischem Schmalzabsturz zum Ende
Juliet, Naked - Nick Hornby,Clara Drechsler Harald Hellmann

Wie ich schon mehrmals in einigen Rezensionen erwähnt habe, halte ich Nick Hornby für einen großartigen Starter von Romanen, die wenigsten Autoren können so gut unvermittelt und auch mit ein bisschen beißender Ironie eine Geschichte beginnen, aber auch für einen der schlechtesten Finisher im Literaturbetrieb. Entweder er läßt gleich quasi die Tastatur fallen, oder er vergeigt den ursprünglichen Plot derart nachhaltig, dass es ein Graus ist. So wie es mein Goodreads-Freund Armin formuliert hat, agiert Hornby gleich seinen Figuren, die auch immer alles verpatzen, wobei eine Katastrophe am Ende in einem fiktiven Plot mit fiktiven Figuren ja wesentlich besser und amüsanter ist als ein realer Qualitätsabfall im Werk.

 

Auch bei Juliet, Naked ist es nicht anders. Sprüht die Geschichte zu Beginn vor Ironie und witzigen Beziehungsproblemen mit unerwarteten Wendungen und ist sie bis Seite 250 also hundert Seiten vor dem Ende noch gut und amüsant zu lesen, so strotzt sie nach dem Herzinfarkt (was für eine blöde Idee, es hätte 100 witzigere alternative Plotmöglichkeiten gegeben) nur so vor kitschigen Platitüden. Wie kann man bei einem so rasanten Roman eine derart sinnlose Vollbremsung machen! Fast könnte man meinen, der Geist einer grottenschlechten Bianca Schrifstellerin wäre plötzlich in Nick Hornby gefahren. Für alle, die das nicht kennen - das sind diese dünnen gebundenen Schundheftln, die früher als Frauenliteratur propagiert wurden.

 

Was für ein kitschiger Scheissdreck am Ende auf diese anfängliche wundervolle Ironie! Dem Herrn Hornby sind schlussendlich sprichwörtlich nicht nur die spitzen Zähne sondern gleich auch die messerscharfe Zunge rausgefallen. Damit der altersheimgerechte schale Brei aus Schmonzette für das gehinamputierte romantikaffine Publikum mit Realitätsverweigerung besser verdaulich ist.

 

Fazit: 2,5 Sterne aufgerundet auf 3 weil doch 250 Seiten sehr gut und nur 100 schlecht waren.

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