Gleich mal zu Beginn eine Positionsbestimmung meinerseits. Ich lese seit den 80er Jahren Science Fiction und bin ein Fan und Nerd in dieser Community von meiner ersten Stunde an. Ich habe von Lem und den Herberts (Vater und Sohn) nahezu alles verschlungen, von meinem Superstar Philip K. Dick auch sehr viel gelesen, Douglas Adams sowieso, und dann natürlich noch ein bisschen Heinlein und Strugatzki und so weiter ....auch ein paar modernere Autoren habe ich gelesen und alle filmischen Umsetzungen wurden von mir selbstverständlich inhaliert.
Insofern bin ich SF-Purist und mir ist die Science in diesem Genre - die ja auch im Namen steht und deshalb ein wesentlicher Bestandteil ist - sehr wichtig. Wir haben früher stundenlang falsche Konzeptionen an Zeitschleifen kritisiert, über mögliche Antriebstheorien diskutiert und die fiktionalen Theorien auf Wisschenschaftlichkeit abgeklopft. Deshalb war ich als Frau auch sehr gespannt, was denn die vom Verlag propagierte neue Weiblichkeit in der Science Fiction von Becky Chambers zu bedeuten hätte. Prinzipiell ist es mir sowieso ein Dorn im Auge, dass in manchen Genres so gut wie keine Frauen sichtbar sind.
Vermeidung von technologischen Erklärungen
Der neue Stil begann schon mal sehr irritierend. Die Autorin warf völlig inflationär technologische Ausdrücke unkommentiert die Arena. Als Leserin musste ich mich mit Wörtern und neuen Technologien anfreunden, von denen mir nicht erklärt wurde, wie sie in diesem Roman funktionieren sollten. Wie zum Beispiel der Algenantrieb, die Stasetruhe, die Medbots... Zuerst dachte ich mir noch -
"Ok gemach Du SCIFI-Nerd, warte mal ab. Die Autorin spielt einfach nicht sofort und vordergründig den Erklärbären für die erwähnten Technologien, die genaue Funktionalität wird dem Leser nach und nach offenbart."
.... Und dann passierte nichts. Im Gegenteil, weitere Technologien wurden eingeführt und wieder nicht erklärt, wie sich die Autorin das vorstellt. Neben dem verwirrenden Beginn des Roman hat mich am meisten der Umstand gestört, dass in einem plotrelevanten Teil der Raumfaltung - das ist ja das Kerngeschäft der Wayfarer - nicht mal im Ansatz thematisiert wurde, was die Crew hier überhaupt macht. Ok da ich schon genug andere SCIFI gelesen habe und mit den älteren Theorien der Raumfaltung zumindest ganz gut vertraut bin, kann ich mir vieles denken, aber wie zum Beispiel die Käfige zur Stabilisierung des Bohrerlochs fungieren ist mir völlig schleierhaft - oder dienen sie vielleicht als Bojen, damit man sich im Hyperraum nicht verirrt? Keine Ahnung - ganz typisch wie im Rest des Romans - ein paar Begriffe in die Geschichte geworfen, ein paar wissenschaftliche Andeutungen und dann wird wieder drauf gepfiffen.
Auch hier wird bereits ein bisher fundamentaler Grundsatz des SCIFI-Genres in Frage gestellt. Die Frage ist nämlich, ob technische Erklärungen integraler Bestandteil von guter Sci-Fi Literartur sein müssen oder nicht. Soll die SCFI- komplett zur Fiktion verkommen und die wissenschaftlichen Erklärungen werden ab nun ignoriert und ausgelassen- Hautpsache die Figuren sind nett entwickelt und eine Geschichte wird erzählt?
Ich sage schon in diesem Bereich nein, denn auch hier und jetzt auf der Erde interessieren mich grad die neuen Elektro- Speicher- und Wasserstofftechnologien. Als halbe Technikerin ist mir ist gar nix wurscht hauptsach die Karre fährt oder der Compi funzt. Ich will wissen wie, und griff und greife auch öfter zum Schraubenschlüssel weil ich die Technik dahinter erforschen will - SEHRRRR SCHLECHT FÜR DIE GEWÄHRLEISTUNG BEI APPLE PRODUKTEN!!!
Das Privatleben der Aliens
Stattdessen fokussiert sich Frau Chambers sehr intensiv auf die Figurenentwicklung, die einzelnen Alienrassen, deren Taxonomien und biologische Eigenschaften, ihre Gebräuche, wie sie essen, wie sie Sex haben, wie sie kommunizieren, wie ihre Familienverbände strukturiert sind. Also sie zentriert den Roman auf biologische, soziologische und ethnografische Aspekte der Science Fiction.
Das ist eigentlich der Punkt, wo sie wirklich frischen Wind in das Genre bringt, ohne es durch einen Tsunami völlig auf den Kopf zu stellen, der mir zudem am besten am Roman gefallen hat. Bei allen wissenschaftlichen Lücken muss gesagt sein: Dieses breite Feld, das mich seit den 80ern in der Science-Fiction umtreibt und das noch nie geklärt wurde, wird hier doch ein bisschen genauer beleuchtet und das hat der Science Fiction auf jeden Fall gefehlt. Ein Mad-Bild zum Krieg der Sterne drückt nämlich sehr deutlich aus, was ich schon immer wissen wollte, mich aber nie getraut habe zu fragen:
Ok wie die Aliens auf die Toilette gehen, wurde nicht beschrieben, aber die private Lebensrealität von Aliens wurde sehr genau thematisiert.
Wissenschaftliche Korrektheit von Analogien und Wendungen im Plot
Da Becky Chambers ja eh so gut wie nie detaillierte technische Erlärungen abgibt, sondern sich nur in Andeutungen ergeht, wäre die Wahrscheinlichkeit, wissenschaftliche Fehler zu begehen eher gering, aber sebst hier schafft sie es, auf wissenschaftliche Recherche und Korrektheit zu verzichten und kapitale Schnitzer zu produzieren. Das ist sehr ärgerlich. Kann die Vermeidung von Wissenschaftlichkeit im Roman noch als lässlicher Fehler gesehen werden, so sind Analogien und Plotwendungen basierend auf uralten falsifizierten Theorien einfach ein NO-GO im Genre.
Da sie sich auf biologische Aspekte der Aliens kapriziert, sollte zumindest dieses wissenschaftliche Gebäude ihrer Analogien auf dem letzten Stand der Forschung sein, aber nicht mal das schafft sie. Sie vergleicht eine zweibeinige fleischfressende KALTBLÜTLER-Echse mit einem zweibeinigen Saurier der seit dem Stand der Wissenschaft ab 2005 definitiv als WARMBLÜTLER bestätigt wurde. Außerdem wurde auch impliziert, das 2-beinige Raubsaurier keine Federn hattten. Nun könnte man ja bei der indirekten Konzeption der Figuren einwenden, dass die Figur der Echse so etwas nicht wissen kann, aber eine menschliche Spezialistin für Aliens und Aliengesetze also für Rassen und Taxonomien, die auch ständig in der Datenbank rechcheriert, zieht den Vergleich und das ist Figurenkonzeptionell total unlogisch.
Ein bisschen Recherche (und mehr als 10 minuten Aufwand ist das nicht) des aktuellen Standes der Wissenschaft würde sowohl für die Autorin als auch für den SCIFI-Verlag absolut notwendig sein. Sogar in Krimis müssen die Autoren auf dem aktuellen Stand der Forensik und der Technik schreiben und demgemäß die aktuellen Entwicklungen permanent recherchieren.
Mein Lesefreund Marcus hat mir dann auch am Ende noch ziemlich klar vor Augen geführt, dass der Roman auch im Plot bei der Raumfaltung bzw. beim Bewegen des Raumschiffs im Raum und in der Zeit des Universums, am wissenschaftlichen Stand von vor 2005 steckengeblieben ist. Auch hier wurden die neueren Erkenntnisse der Forschung der letzten Jahre einfach ignoriert bwz. uralte, mittlerweile falsifizierte Theorien auf den Plot angewandt. Das wäre nun bei einem Buch von 2000 gar kein Beinbruch, aber die Erstausgabe des Romans wurde 2014 verlegt und das Genre heißt SCIENCE-Fiction.
Der Plot
Auch im generellen Plot verstößt der Roman gegen alle Regeln des Genres. Es existiert auf 550 Seiten bis auf ein paar Ausnahmen so gut wie keine ÄKTSCHN was eigentlich doch ganz schön langweilig ist.
Resumee und Fazit
Drei fundamentale Regeln und Grundpfeiler des SF-Genres werden hier in diesem Roman auf den Kopf gestellt und ignoriert.
- 1) Die fehlende Wissenschaftlichkeit im Roman durch Auslassung fast aller Erklärungen (die geht für mich ja noch, denn möglicherweise ist die manische technokratische Fokussierung des Plots im Genre ohnehin zu ausgeprägt, dennoch möchte ich manchmal wissen, wie etwas funktioniert und will mich nicht durch leere technische Worthülsen verwirren lassen)
- 2) FAKE-Wissenschaftlichkeit durch uralte falsifizierte wissenschaftliche Theorien im Roman (für mich absolut nicht zu tolerieren denn das Genre heißt SCI-Fi und ohne Science führt es sich schon alleine in seiner Existenz ad Absurdum)
- 3) kaum Action im Plot (für mich sehr langweilig)
+ 4) Demgegenüber steht auf der positiven Seite eine gute und intensive Figurenentwicklung die doch sehr erfrischend in das ansonsten technokratische Genre, das sich bisher wenig mit Figuren und Aliens beschäftigt hat, eingeführt wird.
Am Ende meiner Bewertung, wenn ich die Minuspunkte und Pluspunkte zusammenrechne, stehen 2,5 Sterne in der Bewertung eines sehr mediokren SCI-FI Romans, der einfach mit Gewalt versucht, anders und innovativ zu sein und dabei die fundamentalen Pfeiler des Genres total verloren bzw. sie bedauerlicherweise bewusst ignoriert hat.