Da es eine Weile her ist, dass ich den ersten Band der Trilogie gelesen habe, tat ich mich anfänglich etwas schwer damit, wieder in die Geschichte hinein zu finden - schließlich ist diese Welt irrsinnig vielschichtig und auch die Charaktere sind selten das, was sie oberflächlich zu sein scheinen... Manchmal kann einem da schon der Kopf schwirren!
Aber es dauerte nicht lange, bis mich Darrows Geschichte wieder gefangen nahm, und dann war ich sehr beeindruckt von der enormen dramatischen Wucht, mit der sie sich entfaltet. Brutal, dreckig, gnadenlos, rasant... Unerbittlich und unaufhaltsam wie ein Erdrutsch reißen die Geschehnisse den Leser mit. und dennoch gibt es immer mal wieder Momente, wo sie sich entfalten wie ein eleganter Tanz aus Allianzen und Intrigen, Familien und Hauszugehörigkeiten, Verrat und Loyalität.
Immer, wenn man glaubt, man hätte jetzt alles durchschaut, überrascht Pierce Brown einen wieder mit einer unerwarteten Wendung. Immer, wenn man sozusagen eine Schale der Geschichte abgeschält hat, stellt man fest, dass man noch lange nicht am Kern angekommen ist. Dabei folgt das Buch in meinem Augen niemals einem bekannten Schema, sondern liest sich immer originell und überraschend.
Ich habe mich öfter bei dem Gedanken ertappt, dass Pierce Brown und George RR Martin sich die Hand reichen könnten. Zum einen, weil die Welt von "Red Rising" genauso komplex und dabei bis ins Kleinste durchdacht ist wie die Welt von "Das Lied von Eis und Feuer", und zum anderen, weil beide Autoren großartige Charaktere schreiben, denen sie nichts, aber auch wirklich nichts ersparen.
Nicht nur, dass man sich niemals zu sicher sein sollte, dass ein wichtiger Charakter schon nicht sterben wird - man kann sich auch nicht darauf verlassen, dass die Hauptcharaktere moralisch immer über jeden Zweifel erhaben sind. Die Welt, in der sie leben, hat sie hart und grausam gemacht.
Um das System zu unterwandern und zu zerstören, lässt sich Darrow auf das gnadenlose Spiel ein, das die Goldenen spielen, und dabei lädt er enorme Schuld auf sich. Unschuldige Menschen sterben, damit er seine Ziele erreichen kann, in großer Zahl. Ja, er leidet darunter, der Gedanke an die Opfer verfolgt ihn - aber er macht weiter, denn mit friedlichen Mitteln kann er das korrupte Regime der Goldenen nicht stürzen. Nicht immer konnte ich seine Entscheidungen verstehen oder gutheißen, aber im Grunde ist er ein guter Mann, der seine Welt zum Besseren verändern will.
Gerade weil die Charaktere alle ihre Schattenseiten haben, fand ich sie interessant und glaubhaft geschrieben.
Es gibt Liebesgeschichten, diese stehen aber nicht so sehr im Mittelpunkt, dazu sind die Charaktere viel zu beschäftigt mit Kriegen und Intrigen...
Ich muss leider sagen, dass der Schreibstil in der deutschen Übersetzung viel an Sogkraft verliert - im Original ist er schlichtwegs atemberaubend, geradezu hypnotisch, und ich hatte durch die Sprache noch mehr den Eindruck, wirklich in einer ganz anderen Welt zu sein. Aber auch im Deutschen ist der Stil immer noch bildgewaltig und ungewöhnlich!
Zitat:
"Dann stehe ich allein da und horche auf den Ruf der tiefen Minen. Wind heult durch den Untergrund und singt sein trauriges Lied. Ich habe die Augen in der Dunkelheit geschlossen, stehe mit den Füßen im lockeren Boden. Mein Gesicht ist dem schwarzen Schlund zugewandt, der tief in die Eingeweide meiner Welt hineinreicht."
Fazit:
"Red Rising - Im Haus der Feinde" ist ein gelungener zweiter Band, mit wahnsinniger Sogkraft und jeder Menge Action. In meinen Augen war schon der erste Band großartig, aber Pierce Brown setzt hier noch einmal eine Schippe drauf!
Die Charaktere könnten auch von George RR Martin sein - beeindruckend komplex, aber nicht unbedingt langlebig... Überhaupt ist "Red Rising" meiner Meinung nach sozusagen der dystopische Stiefbruder von "Das Lied von Eis und Feuer", was ich durchaus als Kompliment meine.
Originelle Ideen, vielschichtige Charaktere, ein straffer Spannungsbogen und ein bildgewaltiger Schreibstil voller Atmosphäre - für mich ein absolutes Erfolgsrezept.