In einem sehr impulsiven Spontankauf – wahrscheinlich weil mir das Cover gefiel – habe ich mir für meinen Urlaub das Hörbuch: Der Wal und das Ende der Welt besorgt und bin nur ein wenig enttäuscht worden. Der Roman ist zu siebzig Prozent eine ausgezeichnete optimistische Wohlfühl-Dystopie, die zeigt, wie ein Teil der Menschheit in der modernen vernetzten Welt in Folge eines totalen Zusammenbruchs von Wirtschaft, Recht und Ordnung durch Kooperation doch noch überleben könnte. Zu den restlichen dreißig Prozent kommen wir noch im Laufe meiner Rezension und breiten zu Beginn meiner Ausführungen noch den Mantel des Schweigens über diese missliche Lücke.
Im kleinen, von seiner Umwelt relativ abgeschieden liegenden Fischerdorf St. Piran in Cornwall wird ein nackter bewusstloser Mann an den Strand gespült. In Folge der Sensation und der notwendigen Rettungsaktion ist natürlich fast das ganze Dorf auf den Beinen, was dem Autor die Gelegenheit gibt, dem Leser die gesamte etwas mehr als 300 Seelen starke Gemeinschaft, inklusive deren Verflechtungen und jede einzelne Figur vorzustellen: Doktor Books, der Pastor, seine hübsche Frau Polly, die Lehrerin, die Krankenschwester, der Strandgutsammler, der Wirt, die Romanautorin …, alle sind sehr detailliert gezeichnet und liebevoll entwickelt.
In Rückblenden wird enthüllt, dass der junge gestrandete Mann mit dem Namen Joe Haak, bisher als Analyst in London gearbeitet und eine selbstlernende Software namens Cassie entwickelt hat, die ursprünglich eigentlich nur den Aktienmarkt vorausberechnen sollte. Da sich in einer vernetzten Welt aber auch Rohstoffe und Ressourcenverknappung, geo- und lokalpolitische Situationen, Erwartungen an den Handel, Lieferketten, Krankheiten, Geldverkehr und viele andere Faktoren auf die Aktien auswirken, müssen in ein funktionierendes komplexes System einer genauen Vorhersage eigentlich alle globalen Faktoren einberechnet werden, was zu einer Zukunftsvoraussagesoftware führt, die weit über den Aktienmarkt hinausgeht und zu einer Art unviersellen Kassandra (wie jene von Troja – welch eine schöne Analogie) mutiert.
Auf den Wunsch seines Chefs Lou Kaufmann bezog Joe Haak auch diverse menschliche Faktoren in die Berechnungen seines Wirtschaftsalgorithmus Cassie mit ein. Die Figur von Kaufmann ist grandios gezeichnet, sie symbolisiert die Fratze von Gier und Macht. Kaufmann legt beispielsweise die Theorien der Komplexitätsforscher Jared Diamond und Yaneer Bar-Yam dar und philosophiert über den Kollaps von Gesellschaften durch die hochgradige Anfälligkeit von modernen Lieferketten. Vor allem Großstädte seien immer nur drei Mahlzeiten von der Anarchie entfernt. Die historische Geschichte der Rapa Nui, ihre Gesellschaft auf einer endlichen Ressource aufzubauen und damit unterzugehen, mit unserem Umgang mit dem Erdöl zu verknüpfen, fand ich besonders erhellend. Viele dieser Theorien, über die der alte Banker Kaufmann so nonchalant plaudert, werden übrigens auch in Marc-Uwe-Klings Dystopie Qualityland angesprochen. Solche komplexen wirtschaftstheoretischen Auseinandersetzungen, eingewoben in eine spannende Geschichte gefallen mir persönlich – sofern sie gut gemacht sind – besonders, weil sie auch dem Laien die trockene Materie der Wissenschaft recht plastisch, interessant aufbereitet und auch einfach verständlich anhand eines Beispiels darlegen.
Die künstliche Intelligenz Cassie sagt also einen globalen Kollaps voraus, der in Folge des Zusammenspiels zweier Faktoren – Ressourcenknappheit und Pandemie – entstehen soll. Deshalb bereitet Joe Haak seine Lebensretter und neuen Freunde im kleinen Dorf – genauso wie die Seherin Cassandra – auf die sich abzeichnende Katastrophe vor. Gemäß dem historischen Vorbild glaubt ihm zwar keiner, aber die Gemeinschaft unterstützt ihn dennoch in seinen Vorbereitungsmaßnahmen.
Als der Supergau tatsächlich eintritt, beschreibt Ironmonger sehr gut und detailliert die Strategien der Dorfbewohner. Die Beziehungen der Bewohner untereinander und die Krisenbewältigungsmaßnahmen sind ausnehmend gut dargestellt. Es menschelt sehr in St. Piran. Ach ja, und dann ist da auch noch der Wal, der eine alttestamentarische, ein bisschen religiöse Komponente in die Story einbringt und sich zudem auch noch als Instrument und Katalysator zur Krisenlösung entpuppt.
Nun muss ich zu den angekündigten restlichen dreißig Prozent kommen. Ab der Rettung – als zumindest ein Teil der Menschheit über den Berg und die Krise am abebben ist – verkommt die Geschichte leider zur schmalzig kitschigen Liebeschmonzette. Wäh, da drehen sich mir persönlich einfach die Zehennägel auf. *würg*. So oft habe ich schon in Rezensionen die abrupten Enden der diversen Romane kritisiert, diesmal hätte ich mir sehnlichst gewünscht, wenn der Autor bei zwei Dritteln diesmal einfach hätte symbolisch den Bleistift fallen lassen.
Bezüglich Audioversion möchte ich auf jeden Fall noch meine Begeisterung für den Sprecher Johann von Bülow ausdrücken. Seit Harry Rowohlt hat mich keine Sprecherstimme und Interpretation im Rahmen eines Hörbuchs mehr so vom Hocker gerissen. Ich war total entzückt von der sonoren und auch in den Höhen sehr variantenreichen Stimmfarbe des Schauspielers.
Fazit: Gute Wohlfühldystopie mit spannenden Prämissen und Hintergründen, wundervoll vorgetragen, die aber zumindest auf dieses Ende hätte verzichten sollen. Ich gebe eine bedingte Hörempfehlung ab, rate aber, im letzten Drittel einfach abzubrechen, es lohnt sich nicht.