„Weißer Schrecken“ von Thomas Finn erregte vor Jahren meine Aufmerksamkeit, weil der Klappentext behauptete, das Buch sei der ultimative Thriller für alle Fans von Stephen King. Das war kurz nachdem ich begeistert meinen ersten King gelesen hatte, „ES“. Ich war sozusagen frisch angefixt. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich meiner Schwester euphorisch von „Weißer Schrecken“ erzählte. Das Buch landete auf meiner Wunschliste, ich konnte mich aus Geiz aber wieder einmal lange nicht überwinden, es zu kaufen. Ich weiß nicht, wie lange, mehr als drei Jahre auf jeden Fall. Im März 2016 begegnete es mir dann günstig gebraucht bei Medimops. Ich zögerte nicht und nutzte die Chance, diese WuLi-Altlast endlich abzuarbeiten. 10 Monate später nahm ich mir „Weißer Schrecken“ als ideale Winterlektüre vor.
Andreas verbrannte alle Brücken zu seiner Vergangenheit. Er ließ seine Heimat, das verschlafene Berchtesgadener Dörfchen Perchtal, weit hinter sich. Um zu vergessen. Um zu entkommen. 26 Jahre lang täuschte er vor, die schrecklichen Ereignisse seiner Jugend überwunden zu haben. Doch nun holt das Grauen ihn ein. Kurz vor Nikolaus ruft ihn das Schicksal nach Hause. Unter Schnee und Eis regt sich erneut das Böse in Perchtal und droht, weitere Kinder als Opfer zu fordern. Andreas hat keine Wahl. Er muss sich erinnern. Er braucht seine Jugendfreunde, um sich der uralten Macht entgegenstellen zu können. Das dunkelste Kapitel seines Lebens ist noch nicht abgeschlossen.
„Weißer Schrecken“ ist das perfekte Buch für lange, kalte, dunkle Winternächte, wenn man sich gern ein bisschen gruselt und Nervenkitzel zu schätzen weiß. Eingekuschelt in eine Wolldecke, eine dampfende Tasse Tee in der Hand, kann ich mir keine bessere Lektüre vorstellen, während draußen ein Schneesturm tobt und der eisige Wind um die Ecken pfeift. Passenderweise ächzte Deutschland gerade unter einem jähen Wintereinbruch, als ich es las und auch die Weihnachtszeit lag nicht lange zurück. Dieser Thriller hat einen bemerkenswerten Bezug zum vorweihnachtlichen Nikolausbrauchtum, der für mich absolutes Neuland war. Offenbar ranken sich im Alpenland zahlreiche Mythen um die Zeit des 06. Dezembers, die mir alle unbekannt waren. In meiner Heimat Berlin gibt es keine Krampusläufe; wir kennen weder Schönperchten noch Schiechperchten. Bei uns wird am Nikolaus der Stiefel gefüllt und das war’s. Ich war schockiert, wie wenig ich über deutsche Volkssagen weiß und habe jede Information, die Thomas Finn mir präsentierte, gierig aufgesogen wie ein Schwamm. Es ist interessant, wie sich in Süddeutschland der christliche Glaube an den heiligen Nikolaus von Myra mit heidnischen, keltischen Überlieferungen vermischte und ein düsteres Geflecht aus Sagen und Gebräuchen entstehen ließ, in dem der negativ konnotierte Knecht Ruprecht eine zentrale Rolle spielt. Diese bedrohliche Schattenseite einer beliebten Kinderfigur bildet die Basis von „Weißer Schrecken“, für die ich sehr empfänglich war. Ich fand die Geschichte von Andreas und seinen vier Freunden, die einer uralten, bösartigen Macht trotzen, äußerst fesselnd und unheimlich. Die Handlung wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der Großteil spielt allerdings in der Jugendzeit der Clique. Im Winter 1994 sind sie alle um die 15 Jahre alt und zu Tode gelangweilt vom Leben in Perchtal. Zumindest, bis sie herausfinden, dass das kleine Dorf ein entsetzliches Geheimnis verbirgt. Die solide, gradlinige, kontinuierliche Spannungskurve ließ die Seiten hinwegfliegen; ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Ich konnte mich hervorragend in die frostige, schauerliche Atmosphäre einfühlen. Ich hörte Schnee knirschen und Eis knacken, spürte die schneidende Kälte in meinen Lungen und sorgte mich um die fünf Freunde, die auf der Suche nach Antworten ihre Leben riskieren. Obwohl die Zusammensetzung der Clique ein wenig stereotyp ist, mochte ich die unterschiedlichen Charaktere, weil ihre Freundschaft glaubwürdig ist. Ebenso wenig störte mich, dass Thomas Finn kein herausragender Schriftsteller ist, denn er versteht es durchaus, eine mitreißende Geschichte zu erzählen. Ich kann ihn mir gut an einem Lagerfeuer vorstellen. Er lässt Legenden lebendig werden und ich glaube, ihn selbst faszinierten die Ergebnisse seiner Recherchen mindestens genauso wie mich. Lediglich die vielen, betonten Anspielungen auf die 90er fand ich etwas übertrieben und nervig, weil diese Zeitspanne nun wirklich nicht so lange her ist, dass sie amüsierte Nostalgie rechtfertigen würde. Nichtsdestotrotz gefiel mir „Weißer Schrecken“ so gut, dass ich diesbezüglich ein Auge zudrücken kann.
„Weißer Schrecken“ wird nicht mein letzter Thriller von Thomas Finn gewesen sein. Mittlerweile stehen drei weitere Romane aus seiner Feder auf meiner Wunschliste. Sein Ansatz, aus alten Legenden eine moderne, unheimliche Geschichte zu konzipieren, begeistert mich. Man erzählt sich die Sage des strafenden Knecht Ruprecht seit Jahrhunderten; zahllose Generationen von Kindern fürchteten sich vor ihm. Für mich besitzt dieses kulturelle Erbe eine ganz eigene Macht und Wirkung. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich während der Lektüre von „Weißer Schrecken“ mehr als einmal ordentlich gegruselt habe – nicht zuletzt am Ende des Buches, das Thomas Finn zwar unbefriedigend offen gestaltete, welches meine Fantasie aber auch zu wilden Spekulationen anregte.
Tatsächlich würde ich nicht zögern, Fans von Stephen King „Weißer Schrecken“ zu empfehlen. Obschon Thomas Finn dem Meister des Horrors schriftstellerisch nicht das Wasser reichen kann, nutzt er eine ähnliche Mischung aus Realismus und Mystik, um seine Leser_innen zu unterhalten. Er holt uralte Schrecken in die Realität und spielt mit den Grenzen der Rationalität. Ein gabengefüllter Stiefel wird für mich nie wieder unschuldig sein, denn er wird mich stets daran erinnern, dass der gute Nikolaus einen finsteren Begleiter hat…