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review 2018-12-12 10:04
Ein manischer Wirbel aus Schuld, Reue und Scham
Allerliebste Schwester - Wiebke Lorenz

Mit ihrer Schwester Frauke Scheunemann verbindet die Autorin Wiebke Lorenz eine sehr innige Beziehung. Die Schwestern wurden im Rheinland geboren und zogen 1996 gemeinsam in ein altes Pfarrhaus in Hamburg. Seit 2006 teilen sie eine berufliche Laufbahn; damals erschien ihr erster Roman „Glückskekse“ unter dem Sammelpseudonym Anne Hertz. Während die Schwestern professionell durchstarteten, mussten sie privat harsche Rückschläge wegstecken. Scheunemann bekam vier Kinder – Lorenz durchlitt vier Fehlgeburten und konnte das Familienglück unter ihrem Dach bald nicht mehr ertragen. 2009 ließ sie sich in die Psychiatrie einweisen, weil sie Gewaltfantasien quälten. Die Diagnose lautete Zwangsstörung. Sie ließ sich behandeln und krempelte ihr Leben um, trennte sich von ihrem Mann und zog aus dem Pfarrhaus in eine WG. Dort begann sie, den Thriller „Allerliebste Schwester“ zu schreiben. Dieses Ventil half ihr, sich mit ihrer Schwester auszusöhnen. Das Buch hat demzufolge eine bewegte Entstehungsgeschichte, die ich vielleicht besser vor Lektüre recherchiert hätte.

 

Eva liebte ihre Schwester. Ihre langweilige, brave Zwillingsschwester Marlene, die vor drei Jahren unter mysteriösen Umständen Selbstmord beging. Niemand verstand, wie Eva Marlenes Witwer Tobias heiraten und ihren Platz einnehmen konnte. Sie begriffen nicht, dass sie es ihr schuldig war. Eine Zeit lang hoffte Eva sogar, glücklich zu werden. Die Schwangerschaft erfüllte sie. Doch die Todgeburt ihres Sohnes Lukas reißt alte Wunden auf. Die Erinnerung an Marlene ist präsenter denn je. Immer häufiger erscheint sie Eva in ihren Tagträumen. Sie fürchtet, den Verstand zu verlieren. Langsam schleichen sich Zweifel in ihr Herz. Tötete sich Marlene wirklich selbst? Oder ist die Wahrheit viel schrecklicher? Ist Eva für den Tod ihrer Zwillingsschwester verantwortlich?

 

Es ist nie gut, ein Buch mit einem Stirnrunzeln zu beginnen. Falls ihr Schwierigkeiten habt, euch vorzustellen, dass eine Frau aus Schuldgefühlen heraus den Ehemann ihrer verstorbenen Zwillingsschwester heiratet, in ihr Haus zieht und mit besagtem Ehemann, ihrem ehemaligen Schwager, ein Kind zeugt, versteht ihr wahrscheinlich, wieso ich keinen Spaß mit „Allerliebste Schwester“ von Wiebke Lorenz hatte. Auf einer abstrakten Ebene ist mir bewusst, dass Menschen in Trauer ganz erstaunliche Bewältigungsmechanismen entwickeln und Schuld, real oder eingebildet, ein starker Motivator ist. Ich respektiere Lorenz‘ persönlichen Bezug zu diesem Thema. Dennoch erschien mir das Szenario, das sie in diesem Roman darlegt, abwegig und übertrieben. Die Protagonistin Eva verschwindet im Leben ihrer toten Schwester Marlene, weil sie von Schuldgefühlen paralysiert ist und glaubt, sie müsse sich selbst zur Märtyrerin stilisieren, indem sie mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht liebt und die Lüge eines Lebens aufrechterhält, das sie niemals wollte. Es wunderte mich nicht, dass sie nach der Todgeburt ihres Sohnes nahezu implodiert. Sie ist so offensichtlich unglücklich, dass es meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit war, bis sie überschnappt. Es übersteigt mein Verständnis, wie jemand so unreflektiert sein kann. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob ihr denn nicht klar ist, was sie da treibt. In Evas Kopf manifestierte sich die Idee, Tobias und sie würden einander verdienen und müssten diese Ehe durchziehen, weil sie Marlene auf dem Gewissen haben. Es ist ihre Form der Selbstbestrafung und Tobias erfüllt in dieser verdrehten Geißelung die Rolle des Gefängniswärters. Er fühlt sich ebenfalls schuldig und klammert sich deshalb mit Gewalt an die Illusion einer glücklichen Ehe, die er einfach von Marlene auf Eva projiziert. Er ist unerträglich, übergriffig und bevormundend. Ich misstraute ihm von Anfang an und verdächtigte ihn schnell, etwas mit Marlenes angeblichem Selbstmord zu tun zu haben. Eva erschienen die rätselhaften Umstände des Suizids ihrer Schwester immer seltsam, doch erneut hinderten sie ihre Schuldgefühle daran, die Wahrheit aufzudecken. Die Lektüre von „Allerliebste Schwester“ scheiterte für mich hauptsächlich ihretwegen. Ich war permanent genervt von ihr, weil ich ihren Umgang mit ihren Gefühlen unverzeihlich schwach fand. Sie stellte sich ihnen nicht, verkroch sich lieber in der Ehe mit Tobias, lief weg und leugnete, was das Zeug hielt. Daher konnte ich nicht einmal Mitleid für sie aufbringen, denn meiner Ansicht nach manövrierte sie sich selbst in ihre Lage. All ihre negativen Emotionen verursachte sie ganz allein. Sie hätte einen gesunden Weg finden können, zu trauern – dann wäre der ganze Mist mit Tobias niemals passiert. Sie hätte sich nicht auf eine Beziehung eingelassen, die ihr jegliche Energie aussaugte, es hätte keine Notwendigkeit bestanden, sich zu befreien und ich hätte nicht Zeugin eines wirren, psychotischen Zusammenbruchs werden müssen, der in das unpassendste, fragwürdigste Happy End aller Zeiten mündete.

 

Das wahre Ich zu verleugnen, kann krank machen. Eigentlich ist das keine weltbewegende Erkenntnis, die in „Allerliebste Schwester“ jedoch in einem manischen Wirbel aus Schuld, Reue und Scham als revolutionäre Neuheit verkauft wird. Ich weiß nicht, inwieweit Wiebke Lorenz in diesem Thriller ihre persönlichen Erfahrungen verarbeitete, aber ich hoffe für sie, dass sie deutlich reflektierter ist, als sie die Protagonistin Eva porträtierte. Ich bin ratlos, warum sie mir Evas Geschichte erzählte und was sie damit in mir zu bewirken plante. „Allerliebste Schwester“ ist für mich weder Fisch noch Fleisch. Es ist kein Kriminalthriller, denn die kriminalistischen Elemente sind viel zu unbedeutend, um sie als handlungstragend zu bezeichnen. Es ist aus meiner Sicht auch kein Psychothriller, weil sich keine Diskrepanz zwischen Realität und wahnhafter Einbildung entfaltet. Ich weiß nicht, was „Allerliebste Schwester“ ist. Ein gutes Buch ist es meiner Meinung nach jedenfalls nicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/12/12/wiebke-lorenz-allerliebste-schwester
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review 2018-08-15 11:21
Willkommen bei der skurrilsten Selbsthilfegruppe der Welt
We Are All Completely Fine - Daryl Gregory

„We Are All Completely Fine“ von Daryl Gregory hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Es erschien 2014, ein Jahr, bevor Gregory den lovecraftischen Horror-SciFi-Fantasy-Young Adult-Roman „Harrison Squared“ veröffentlichte. Diese Veröffentlichungsreihenfolge entspricht allerdings nicht der Reihenfolge, in der Gregory die Bücher geschrieben hat. „We Are All Completely Fine“ entstand nach „Harrison Squared“ und hätte ohne den YA-Roman wohl nie das Licht der Welt erblickt. In diesem geht es um den jungen Harrison, der seine Stadt Dunnsmouth vor einer Monsterinvasion retten muss. Nachdem er diese Geschichte abgeschlossen hatte, fragte sich Gregory, welche Konsequenzen sie für seinen Protagonisten haben könnte. Wie schlüge sich Harrison als Erwachsener? Garantiert wäre er traumatisiert, müsste Psychopharmaka schlucken und eine Therapie absolvieren. Was wäre, wenn es allen Held_innen von Monster- und Horrorgeschichten so erginge? Was wäre, wenn sie einmal die Woche zusammenfinden würden – in einer Selbsthilfegruppe?

 

Wir treffen uns einmal die Woche: Harrison, Barbara, Stan, Martin, Greta und die Leiterin unserer Gruppe, Dr. Jan Sayer. Wir alle haben Schreckliches erlebt. Wir tragen Wunden, Narben und unser ganz privates Trauma mit uns herum. Niemand glaubte uns. Man erklärte uns für verrückt, geistesgestört, psychotisch. Erst Dr. Jan hörte uns zu und gab uns einen sicheren Ort, um über unsere Erfahrungen zu sprechen. Wir sind die exklusivste Selbsthilfegruppe der Welt. Wir wurden vom Unnatürlichen berührt. All die Menschen, die an unseren Geschichten zweifeln, sollten sich eins fragen: was wäre, wenn sie wahr sind?

 

Ich liebe Autor_innen, die den Mut aufbringen, eine völlig absurde Geschichte lässig zu erzählen und ihre Leser_innen im Brustton der Überzeugung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Mit „We Are All Completely Fine“ sucht Daryl Gregory die Konfrontation mit seinem Publikum. Er präsentiert eine komplett abgedrehte Szenerie und überlässt es seinen Leser_innen, aus den Fakten eine kohärente Geschichte zu formen. Er schubste mich in die Handlung hinein und erwartete von mir, mich selbst zurechtzufinden. Er hielt es nicht für nötig, irgendetwas zu erklären – er stellte die Weichen, damit ich selbst Erklärungen finden konnte. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, mich auf dieses Konzept einzulassen. Ich fand es toll, dass Gregory durch seine selbstverständliche, entschiedene Zurückhaltung immensen gedanklichen und emotionalen Spielraum ermöglichte. Er zwang mir nichts auf, keine Schlussfolgerungen, keine Interpretationen. Er ließ mich einfach machen. Ich konnte vollkommen selbstbestimmt, ja geradezu emanzipiert lesen und die Handlung von „We Are All Completely Fine“ erleben, wie es mir passte. Und die hat es in sich, eine stimulierende Mischung aus oberflächlichem Wahnsinn und nachdenklicher Tiefe. Im Mittelpunkt stehen die Biografien von sechs Menschen, die ihre Begegnungen mit dem erschreckenden Unnatürlichen traumatisiert überlebten und nun versuchen, ihre Traumata durch eine Selbsthilfegruppe zu überwinden. Ich musste mich unwillkürlich fragen, was es hieße, hätten all die Menschen, die behaupten, Kontakt mit dem Übernatürlichen, Fantastischen und Überirdischen gehabt zu haben, keine Wahnvorstellungen. Angenommen, sie sagten die Wahrheit, wurden wirklich von Außerirdischen entführt oder von Monstern verfolgt – was bedeutete das für unsere Wahrnehmung der Realität? Die unfreiwillige Korrektur ihres Weltbildes spielt im Aufarbeitungsprozess der Figuren eine fundamentale Rolle. Sie müssen nicht nur verkraften, was sie physisch durchlitten, sie müssen auch lernen, diese neue, alternative Wirklichkeit zu akzeptieren. Dabei gehen sie ganz unterschiedlich vor. Obwohl sie alle auf ähnlich verstörende Erfahrungen zurückblicken, verarbeiten sie ihre Erlebnisse äußerst individuell. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie viel diebische Freude es Daryl Gregory bereitet haben muss, diese sehr verschiedenen Persönlichkeiten in einen Raum zu sperren und sie zur Interaktion zu zwingen. Die Selbsthilfegruppe ist ein Experiment, sowohl für den Autor, als auch für die Figuren, die passend zu ihren Charakteren mal mehr, mal weniger bereit sind, ihre Geschichten preiszugeben. Gregory beweist erneut vornehme Zurückhaltung und nötigt sie nicht, mehr zu erzählen, als sie möchten. Er offenbart nichts, was sie nicht selbst berichten, wodurch es für mich umso spannender war, ihre Biografien langsam und Stück für Stück ans Licht zu bringen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich in der Rolle des Erzählers stark mit der Gruppe identifiziert, ein Eindruck, der durch seinen ungewöhnlichen Erzählstil unterstützt wurde. Der Erzähler spricht von sich oft als Teil der Gruppe, bleibt die ganze Handlung über jedoch anonym und taucht in den Sitzungsbeschreibungen nicht auf. Aber wenn er teilnimmt, ohne physisch anwesend zu sein, wer erzählt dann da eigentlich? Daryl Gregory beantwortete diese Frage in einem Interview – ich werde euch die Antwort allerdings nicht verraten. Wo bliebe sonst der Spaß? ;-)

 

„We Are All Completely Fine“ ist ein köstliches Vergnügen, voller Wahnsinn, Absurdität und philosophischem Surrealismus. Die Lektüre erfordert einen wachen, aufgeschlossenen Geist und die Bereitschaft, ein unkonventionelles Experiment zu wagen, ohne jede Kleinigkeit zu hinterfragen und auf explizite Erklärungen zu warten. Ich warne euch, es wird seltsam, fantastisch, abgefahren und manchmal sogar ein bisschen beängstigend. Daryl Gregory mag es extrem und schreckt vor Brutalität nicht zurück. Der Trick ist, hinter die schrillen, nervenaufreibenden Szenen zu blicken und auf die Bedeutung der stillen, nachdenklichen Momente zu achten. Wer sich auf diese Herangehensweise einlassen kann, wird ein einzigartiges Abenteuer erleben – mit der skurrilsten Selbsthilfegruppe aller Zeiten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/08/15/daryl-gregory-we-are-all-completely-fine
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