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review 2019-10-30 11:23
Kein 0815-Thriller
Argus (C.J. Townsend #3) - Jilliane Hoffman

2001 traf Jilliane Hoffman eine folgenreiche Entscheidung. Nach 10 Jahren, in denen sie als stellvertretende Staatsanwältin und juristische Beraterin des Florida Department of Law Enforcement arbeitete, beschloss sie, ihren aufregenden Job in der Strafverfolgung aufzugeben, um Autorin zu werden. Während eines Prozesses gegen einen Vergewaltiger beobachtete sie, wie eine Betroffene „zitternd vor Angst mit der eigenen Aussage haderte“. Sie fragte sich, wie dieses Mädchen reagieren würde, stünde sie an ihrer Stelle und könnte ihren Angreifer zur Rechenschaft ziehen. Sie begann, aus dieser Idee eine Romanhandlung zu entwickeln. Leider konnte sie die Herausforderungen ihres Berufs nicht mit ihrem Privatleben und dem Traum vom Schreiben vereinbaren. Deshalb kündigte sie – ein mutiger Schritt, der belohnt wurde, denn ihr Debüt „Cupido“ wurde ein internationaler Erfolg und der Auftakt einer Reihe von Thrillern um die Staatsanwältin C.J. Townsend. „Argus“ ist der dritte Band.

 

Eine grausame Serie sadistischer Frauenmorde versetzt Miami in Angst und Schrecken. Die Opfer werden vor laufender Kamera brutal gefoltert – und viele Augen sehen zu. Staatsanwältin Daria DeBianchi ist sicher, dass der Tatverdächtige Talbot Lunders nicht allein handelt. Hinter ihm steht ein skrupelloses Netzwerk wohlhabender und einflussreicher Personen, ein elitärer Club, der die Morde als Attraktion vermarktet. Leider schweigt Lunders. Der einzige, der bereit ist, mit Daria zu reden, sitzt im Todestrakt des Staatsgefängnisses von Florida ein. Es handelt sich um William Bantling, der 10 Jahre zuvor für die Cupido-Morde verurteilt wurde. Er behauptet, die Identitäten der Clubmitglieder zu kennen und bietet Daria seine Mithilfe an, verlangt dafür jedoch einen hohen Preis. Daria ist lange genug dabei, um zu wissen, dass sie sich Idealismus in ihrem Job nicht leisten kann. Doch rechtfertigt der Fall einen Pakt mit dem Teufel?

 

Es ist wirklich sehr lange her, dass ich die ersten beiden Bände der „C.J. Townsend“-Reihe, „Cupido“ und „Morpheus“, gelesen habe. Daher war ich positiv verblüfft, als ich meine Nase in „Argus“ steckte und feststellte, dass ich überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, in die Handlung zu finden. Das lag nicht nur daran, dass die Vorgänger mächtig Eindruck bei mir hinterlassen hatten, sondern vor allem an der speziellen Struktur der Geschichte. „C.J. Townsend“ ist keine 0815-Thrillerserie. Die einzelnen Bände erzählen keine abgeschlossenen Fälle, der Fokus liegt nicht auf der Polizei oder auf Behörden wie der CIA oder dem FBI. Seit „Cupido“ dreht sich diese Reihe unmissverständlich um einen einzigen, gigantischen, komplexen Fall, der wächst, mutiert und sich mit jedem Band weiterentwickelt. Es geht nicht um stereotype Ermittler_innen, es geht um das Böse in gewissen Menschen, das sich in spektakulären Auswüchsen krimineller Energie Bahn bricht und um den nachhaltigen Einfluss, den ihre Taten für die Betroffenen bedeuten. Dadurch ergeben sich andere Ansprüche an die Ausarbeitung der Figuren, was mir persönlich sehr entgegenkommt. Jilliane Hoffman war, wie erwähnt, selbst Staatsanwältin. Ich vermute, dass sie in ihren Romanen deshalb tiefgreifende, kritische Fragen aufzuwerfen vermag, die das grundlegende Täter-Opfer-Verhältnis reflektieren und die Fallstricke des US-amerikanischen Rechtssystems illustrieren. In „Argus“ besteht nie ein Zweifel daran, dass Talbot Lunders schuldig ist. Unsere wackere Heldin Daria DeBianchi muss allerdings vor Gericht beweisen, dass er schuldig ist. Anhand der Steine, die ihr durch frustrierende Verfahrensrichtlinien in den Weg gelegt werden, bespricht Hoffman subtil die Grenzen des Rechtsstaats, die Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit und stellt außerdem eine Verbindung zu den bisherigen Ereignissen her. Die Vergangenheit ist in „Argus“ durch den Auftritt von William Bantling aka Cupido äußerst präsent, so präsent, dass es unmöglich ist, den Fall in der Gegenwart von seiner Verurteilung zu trennen. Meinem Empfinden nach ist Bantling sogar deutlich prominenter inszeniert als Lunders, der lediglich als Stellvertreter für die Mitglieder des ominösen Snuff-Clubs fungiert, von dem Bantling bereits Jahre zuvor berichtete. Seine Involvierung verleiht der Handlung das, was mir an den Hoffmans Büchern am besten gefällt: Unberechenbarkeit. Nichts ist sicher oder garantiert, sie behandelt die Wahrheit fließend und konfrontiert ihre Leser_innen mit neuen Wendungen, die diese zwingen, bestimmte Aspekte komplett neu zu bewerten. Für mich war „Argus“ demzufolge herrlich spannend; es hat mir grenzenlosen Spaß bereitet, mal wieder in einen sensationell aufregenden Thriller einzutauchen, mich schockieren und überraschen zu lassen und mich endlich mal nicht darüber ärgern zu müssen, dass sich die Figuren wie wandelnde Klischees verhalten.

 

„Argus“ war eine rundum befriedigende Lektüre. Es stimmt mich optimistisch, dass es noch Thriller-Autor_innen gibt, die mehr aus einem Ermittlungsszenario herausholen als ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mörder_in und Fahnder_innen. Jilliane Hoffman beleuchtet ihren beeindruckend facettenreichen Fall, der die gesamte „C.J. Townsend“-Reihe begleitet, aus verschiedenen Perspektiven und erreicht dadurch sein maximales Potential. Sie schreckt nicht davor zurück, unangenehme Tatsachen wie die Lücken des US-amerikanischen Rechtssystems anzusprechen und nach den ideologischen Grenzen von Gerechtigkeit zu fragen. Bevor ich mich nun verabschiede, möchte ich noch ein potenzielles Missverständnis aufklären. Im Klappentext meiner Ausgabe von „Argus“ steht „Der dritte Band der großen Cupido-Trilogie“, was impliziert, dass die Reihe nach diesem abgeschlossen wäre. Das ist sie nicht. Der nächste Band heißt „Nemesis“. Der deutsche Verlag hatte seine Gründe, diesen Satz abzudrucken – welche das sind, verrate ich aber natürlich nicht. ;-)

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/10/30/jilliane-hoffman-argus
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review 2018-12-12 10:04
Ein manischer Wirbel aus Schuld, Reue und Scham
Allerliebste Schwester - Wiebke Lorenz

Mit ihrer Schwester Frauke Scheunemann verbindet die Autorin Wiebke Lorenz eine sehr innige Beziehung. Die Schwestern wurden im Rheinland geboren und zogen 1996 gemeinsam in ein altes Pfarrhaus in Hamburg. Seit 2006 teilen sie eine berufliche Laufbahn; damals erschien ihr erster Roman „Glückskekse“ unter dem Sammelpseudonym Anne Hertz. Während die Schwestern professionell durchstarteten, mussten sie privat harsche Rückschläge wegstecken. Scheunemann bekam vier Kinder – Lorenz durchlitt vier Fehlgeburten und konnte das Familienglück unter ihrem Dach bald nicht mehr ertragen. 2009 ließ sie sich in die Psychiatrie einweisen, weil sie Gewaltfantasien quälten. Die Diagnose lautete Zwangsstörung. Sie ließ sich behandeln und krempelte ihr Leben um, trennte sich von ihrem Mann und zog aus dem Pfarrhaus in eine WG. Dort begann sie, den Thriller „Allerliebste Schwester“ zu schreiben. Dieses Ventil half ihr, sich mit ihrer Schwester auszusöhnen. Das Buch hat demzufolge eine bewegte Entstehungsgeschichte, die ich vielleicht besser vor Lektüre recherchiert hätte.

 

Eva liebte ihre Schwester. Ihre langweilige, brave Zwillingsschwester Marlene, die vor drei Jahren unter mysteriösen Umständen Selbstmord beging. Niemand verstand, wie Eva Marlenes Witwer Tobias heiraten und ihren Platz einnehmen konnte. Sie begriffen nicht, dass sie es ihr schuldig war. Eine Zeit lang hoffte Eva sogar, glücklich zu werden. Die Schwangerschaft erfüllte sie. Doch die Todgeburt ihres Sohnes Lukas reißt alte Wunden auf. Die Erinnerung an Marlene ist präsenter denn je. Immer häufiger erscheint sie Eva in ihren Tagträumen. Sie fürchtet, den Verstand zu verlieren. Langsam schleichen sich Zweifel in ihr Herz. Tötete sich Marlene wirklich selbst? Oder ist die Wahrheit viel schrecklicher? Ist Eva für den Tod ihrer Zwillingsschwester verantwortlich?

 

Es ist nie gut, ein Buch mit einem Stirnrunzeln zu beginnen. Falls ihr Schwierigkeiten habt, euch vorzustellen, dass eine Frau aus Schuldgefühlen heraus den Ehemann ihrer verstorbenen Zwillingsschwester heiratet, in ihr Haus zieht und mit besagtem Ehemann, ihrem ehemaligen Schwager, ein Kind zeugt, versteht ihr wahrscheinlich, wieso ich keinen Spaß mit „Allerliebste Schwester“ von Wiebke Lorenz hatte. Auf einer abstrakten Ebene ist mir bewusst, dass Menschen in Trauer ganz erstaunliche Bewältigungsmechanismen entwickeln und Schuld, real oder eingebildet, ein starker Motivator ist. Ich respektiere Lorenz‘ persönlichen Bezug zu diesem Thema. Dennoch erschien mir das Szenario, das sie in diesem Roman darlegt, abwegig und übertrieben. Die Protagonistin Eva verschwindet im Leben ihrer toten Schwester Marlene, weil sie von Schuldgefühlen paralysiert ist und glaubt, sie müsse sich selbst zur Märtyrerin stilisieren, indem sie mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht liebt und die Lüge eines Lebens aufrechterhält, das sie niemals wollte. Es wunderte mich nicht, dass sie nach der Todgeburt ihres Sohnes nahezu implodiert. Sie ist so offensichtlich unglücklich, dass es meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit war, bis sie überschnappt. Es übersteigt mein Verständnis, wie jemand so unreflektiert sein kann. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob ihr denn nicht klar ist, was sie da treibt. In Evas Kopf manifestierte sich die Idee, Tobias und sie würden einander verdienen und müssten diese Ehe durchziehen, weil sie Marlene auf dem Gewissen haben. Es ist ihre Form der Selbstbestrafung und Tobias erfüllt in dieser verdrehten Geißelung die Rolle des Gefängniswärters. Er fühlt sich ebenfalls schuldig und klammert sich deshalb mit Gewalt an die Illusion einer glücklichen Ehe, die er einfach von Marlene auf Eva projiziert. Er ist unerträglich, übergriffig und bevormundend. Ich misstraute ihm von Anfang an und verdächtigte ihn schnell, etwas mit Marlenes angeblichem Selbstmord zu tun zu haben. Eva erschienen die rätselhaften Umstände des Suizids ihrer Schwester immer seltsam, doch erneut hinderten sie ihre Schuldgefühle daran, die Wahrheit aufzudecken. Die Lektüre von „Allerliebste Schwester“ scheiterte für mich hauptsächlich ihretwegen. Ich war permanent genervt von ihr, weil ich ihren Umgang mit ihren Gefühlen unverzeihlich schwach fand. Sie stellte sich ihnen nicht, verkroch sich lieber in der Ehe mit Tobias, lief weg und leugnete, was das Zeug hielt. Daher konnte ich nicht einmal Mitleid für sie aufbringen, denn meiner Ansicht nach manövrierte sie sich selbst in ihre Lage. All ihre negativen Emotionen verursachte sie ganz allein. Sie hätte einen gesunden Weg finden können, zu trauern – dann wäre der ganze Mist mit Tobias niemals passiert. Sie hätte sich nicht auf eine Beziehung eingelassen, die ihr jegliche Energie aussaugte, es hätte keine Notwendigkeit bestanden, sich zu befreien und ich hätte nicht Zeugin eines wirren, psychotischen Zusammenbruchs werden müssen, der in das unpassendste, fragwürdigste Happy End aller Zeiten mündete.

 

Das wahre Ich zu verleugnen, kann krank machen. Eigentlich ist das keine weltbewegende Erkenntnis, die in „Allerliebste Schwester“ jedoch in einem manischen Wirbel aus Schuld, Reue und Scham als revolutionäre Neuheit verkauft wird. Ich weiß nicht, inwieweit Wiebke Lorenz in diesem Thriller ihre persönlichen Erfahrungen verarbeitete, aber ich hoffe für sie, dass sie deutlich reflektierter ist, als sie die Protagonistin Eva porträtierte. Ich bin ratlos, warum sie mir Evas Geschichte erzählte und was sie damit in mir zu bewirken plante. „Allerliebste Schwester“ ist für mich weder Fisch noch Fleisch. Es ist kein Kriminalthriller, denn die kriminalistischen Elemente sind viel zu unbedeutend, um sie als handlungstragend zu bezeichnen. Es ist aus meiner Sicht auch kein Psychothriller, weil sich keine Diskrepanz zwischen Realität und wahnhafter Einbildung entfaltet. Ich weiß nicht, was „Allerliebste Schwester“ ist. Ein gutes Buch ist es meiner Meinung nach jedenfalls nicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/12/12/wiebke-lorenz-allerliebste-schwester
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text 2018-09-26 11:08
Das "hypothetische" Geständnis eines Mörders
If I Did It: Confessions of the Killer - The Goldman Family

Herzlich Willkommen zum zweiten Teil unseres dreiteiligen Rezensionsexperiments zum Thema „O.J. Simpson“. Gestern habe ich „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson” von Jeffrey Toobin besprochen und euch die Fakten des Strafprozesses gegen den ehemaligen Footballspieler nahegebracht. Heute widmen wir uns dem zweiten Buch in diesem Themenkomplex: „If I Did It: Confessions of the Killer“, O.J. Simpsons hypothetisches Geständnis der Morde an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman am 12. Juni 1994. Die Geschichte dieses höchst umstrittenen Werkes ist – wie so ziemlich alles, was Simpson betrifft – äußerst verzwickt, kompliziert und kann ausschließlich im Kontext des Zivilprozesses der Familien Goldman und Brown gegen Simpson betrachtet werden. Daher bin ich gezwungen, erneut weit auszuholen und Hintergrundinformationen zusammenzufassen. Ich verlange also wieder eine Menge Geduld von euch. ;-)


O.J. Simpsons Strafprozess wegen zweifachen vorsätzlichen Mordes an seiner Ex-Frau Nicole Brown Simpson und dem Kellner Ronald Goldman endete am 03. Oktober 1995 mit einem vollständigen Freispruch. Trotz der überwältigenden Beweislast befand ihn die 12-köpfige Trial Jury in allen Anklagepunkten als unschuldig. Da die Geschworenen ihr Urteil nicht begründeten, ist unklar, ob sie die Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten anwendeten oder Simpson im Sinne der „Jury Nullification“ entgegen geltenden Rechts und der Beweise freisprachen.
Sollte O.J. Simpson jedoch geglaubt haben, er sei damit vom Haken, irrte er sich.

 

Bereits im Oktober 1995 wurde Fred Goldman (Rons Vater) der Anwalt Daniel Petrocelli empfohlen, der eine verlässliche Reputation als Zivilprozessanwalt vorweisen konnte. Goldman und Petrocelli trafen sich und beschlossen, eine Zivilklage wegen widerrechtlicher Tötung gegen O.J. Simpson anzustreben. Diese Entscheidung war mehr als ungewöhnlich. Jeffrey Toobin schrieb in „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson”, dass er keinen einzigen Präzedenzfall finden konnte, indem eine Zivilklage gegen eine Person angestoßen wurde, die in einem Strafprozess wegen Mordes von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde.

 

Zivilprozesse unterliegen in den USA harmloseren Bedingungen als Strafprozesse. Zwar werden diese ebenfalls vor einer Jury verhandelt, während der Richter oder die Richterin als Moderator_in des Verfahrens fungiert, doch ihr Urteil muss nicht einstimmig sein. 9 von 12 Stimmen genügen für eine Verurteilung. Außerdem kommt der Grundsatz der Schuld „beyond reasonable doubt“ hier nicht zur Anwendung. Die Anklage muss lediglich eine überwiegend eindeutige Beweislage gegen den/die Beschuldigte_n präsentieren. Vermutlich rechneten sich die Goldmans und Daniel Petrocelli deshalb gute Chancen aus, Simpson dieses Mal erfolgreich zur Rechenschaft zu ziehen. Sie behielten Recht.

 

Petrocelli war im Vergleich zur Staatsanwaltschaft, vertreten von Marcia Clark und ihrem Team, zweifellos im Vorteil. Dem Zivilprozess, der im Oktober 1996 begann, wurde der Richter Hiroshi Fujisaki zugeteilt, der kurz darauf in den Ruhestand trat. Es war sein letzter Fall. Er scherte sich im Gegensatz zu Lance Ito nicht im Geringsten darum, ob er sich mit seinen Entscheidungen Feinde machte und hatte keinerlei Geduld für Selbstdarstellungen und lange Diskussionen in seinem Gerichtssaal. Simpsons Verteidigung, angeführt von Robert Baker, der darauf spezialisiert war, Versicherungsunternehmen in Kunstfehlerprozessen zu vertreten, biss sich an Fujisaki die Zähne aus.

 

Von Anfang an verbannte Fujisaki die berüchtigte „Rassenkarte“ aus seinem Prozess, was die Verteidiger zwang, eine alternative Strategie zu der im Strafprozess eingesetzten Verschwörungstheorie zusammenzuschustern. Da der Prozess allerdings in Santa Monica verhandelt wurde, wo die Bevölkerung überwiegend weiß war, hätten sie ohnehin Schwierigkeiten gehabt, die Jury mit dieser Theorie zu überzeugen. Sie entschieden, Simpsons Ruhm in den Mittelpunkt zu stellen und behaupteten, es sei unrealistisch, dass der ehemalige Footballstar, dem Frauen reihenweise zu Füßen lägen, seine Ex-Frau aus Eifersucht getötet habe. Vielmehr müsse jemand aus ihrem dubiosen Umfeld sie ermordet haben. Sie unterstellten Nicole Drogenprobleme und kriminelle Kontakte, wofür es keinerlei Beweise gab. Baker deutete an, durch ihren riskanten Lebenswandel sei Nicole indirekt selbst schuld an ihrem Tod. Victim Blaming in Reinkultur.

 

Die neue Strategie der Verteidigung fußte auf O.J. Simpsons persönlichem Auftritt als Zeuge. Durch seinen Freispruch im Strafprozess konnte er ohnehin nicht länger Gebrauch von seinem Recht machen, die Aussage zu verweigern. Er durfte in den Zeugenstand berufen werden und musste aussagen. Petrocelli nutzte die Gelegenheit, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen, natürlich gnadenlos aus. Simpson schadete sich selbst massiv. Er präsentierte sich als unsympathisch, ungeduldig, arrogant und reagierte auf Widersprüche, die Petrocelli aufzeigte, mit aggressiver Starrköpfigkeit. Beispielsweise leugnete er weiterhin in drastischen Worten, ein Paar Schuhe der Marke Bruno Magli zu besitzen, die vom Spezialisten für Fuß- und Schuhabdrücke im Strafprozess mit den Abdrücken am Tatort in Verbindung gebracht worden waren. Nach dem Strafprozess tauchten Fotos von Simpson auf, in denen er eben jene Schuhe trug. Petrocelli führte sie mit Freuden vor. Ein ums andere Mal demaskierte er Simpson als Lügner.

 

Die Jury fällte ihr Urteil am 04. Februar 1997, nach etwa einer Woche der Beratungen. Die Geschworenen verurteilten O.J. Simpson zur Zahlung von insgesamt 33,5 Millionen Dollar an die Kläger_innen. Sie empfanden ihn als unglaubwürdig und waren von der Gültigkeit der physischen Beweise, wie zum Beispiel der DNA-Spuren, überzeugt. Kein einziges Mitglied der rechtsprechenden Jury war afroamerikanisch. Die einzige Person, die zugunsten des Beklagten entschieden hätte, fungierte als Ersatz und wurde nicht in den Dienst berufen. Sie war eine schwarze Frau in den mittleren Jahren.

 

Der Zivilprozess korrigierte die Fehlentscheidung der Jury im Strafprozess indirekt. Zwar war O.J. Simpson noch immer ein Mörder auf freiem Fuß, doch zumindest hatten die Browns und die Goldmans bewiesen, welches Unrecht er ihren Familien angetan hatte. Das Problem war, dass O.J. Simpson das völlig anders sah.

 

Die Jury verteilte die Summe, zu der sie Simpson verurteilte, wie folgt: die Browns sollten 12,5 Millionen Dollar Schadensersatz erhalten; den Goldmans sprachen sie 7 Millionen Dollar Entschädigung und ebenfalls 12,5 Millionen Dollar Schadensersatz zu. Sie befanden, dass der Beklagte verantwortlich für die Tode von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman war. Doch niemand erklärte den Familien, was sie tun sollten, falls sich O.J. Simpson weigerte, die geforderten Summen zu zahlen. Natürlich konnte Simpson 33,5 Millionen Dollar nicht aus dem Ärmel schütteln, schon gar nicht, nachdem er sich das unsagbar teure „Dreamteam“ im Strafprozess geleistet hatte. Der Punkt ist allerdings nicht, dass er nicht zahlen konnte, er wollte es nicht. Tatsächlich unternahm er alle möglichen und unmöglichen Schritte, um nicht zahlen zu müssen. Er zog nach Florida, weil dort Rentenbezüge und selbst bewohnte Immobilien nicht pfändbar sind. Er gründete Firmen im Namen seiner Kinder, um sein Einkommen vor dem Zugriff der Justiz zu schützen, während er sich selbst weiterhin munter bereicherte. Speziell die Goldmans kämpften jahrelang erbittert darum, ihn endlich zu fassen zu bekommen. Erfolglos. Und dann kam das Buch.

 

2006, 12 Jahre nach den Morden an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman, kündigte der Verlag HarperCollins eine Sensationsveröffentlichung an: ein Buch von O.J. Simpson, in dem er beschrieb, wie er die Morde begangen hätte, wäre er der Täter. Titel: „If I Did It“. Als die Familie Goldman davon erfuhr und herausfand, dass Simpson angeblich einen Vorschuss in Höhe von mehr als 1 Million Dollar erhalten hatte, waren sie entsetzt. Angewidert. Verletzt. Zornig. Sie starteten eine Gegenkampagne, um das Erscheinen des Buches zu verhindern. News Corp., der Mutterkonzern von HarperCollins, setzte sich daraufhin mit den Goldmans in Verbindung, um mit ihnen eine Entschädigungszahlung zu vereinbaren. Sie waren bereit, ihnen eine gewaltige Summe zu überlassen, aber nicht, die Veröffentlichung zu stoppen. Die Goldmans berieten sich mit den Browns, ob es richtig wäre, das Angebot anzunehmen. Welche Botschaft würde dieser Schritt der Öffentlichkeit vermitteln? Sie wurden ohnehin als geldgierig angefeindet; ihnen wurde vorgeworfen, auf O.J. Simpson herumzuhacken, weil sie versuchten, das Urteil des Zivilprozesses durchzusetzen. Am Ende eines sehr angespannten Wochenendes im November 2006 erhielten sie einen Anruf der Browns, denen News Corp. einen Bruchteil der Entschädigungssumme versprochen hatte, den sie den Goldmans angeboten hatten. Die Browns lehnten ab und die Goldmans ebenfalls. Stunden später wurde die Veröffentlichung von „If I Did It“ gestoppt.

 

Anwälte erteilten den Goldmans den Rat, offiziell Anspruch auf die Rechte am Buch zu erheben, wenn sie vermeiden wollten, dass es jemals das Licht der Welt erblickte. Erneut war die Familie hin- und hergerissen. Wollten sie wirklich Eigentümer eines Dokuments sein, das den Mord an einem der ihren beschrieb? Letztendlich siegte ihr Kampfeswille. Sie wollten O.J. Simpson davon abhalten, sich weiter durch den Mord an Ron zu bereichern. Sie entschieden, sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen. Bevor es jedoch zur Auktion der Rechte kommen konnte, meldete Simpsons Firma Lorraine Brooke Associates (LBA) Insolvenz an. LBA hatte als Strohfirma zwischen HarperCollins und O.J. Simpson gedient. Sie war nach den Zweitnamen seiner beiden Töchter, Arnelle Lorraine und Sydney Brooke, benannt. Arnelle wurde als Präsidentin geführt und seine Kinder aus der Ehe mit Nicole (Sydney und Justin) hielten jeweils 25% der Anteile der Firma. Auf diese Weise hätte Simpson ungefähr 630.000 Dollar mit der Veröffentlichung von „If I Did It“ verdient, auf die das Urteil des Zivilprozesses nicht anwendbar waren. Seine Familie befürwortete das Erscheinen des Buches übrigens.

 

Die Insolvenz von LBA war ein strategischer Schachzug. Die Anwälte der Scheinfirma hofften, die Rechte am Buch schützen zu können. Für die Goldmans gab es nun lediglich die Möglichkeit, das Manuskript vor das Konkursgericht zu zwingen. Sie waren demotiviert und resigniert, schöpften allerdings neue Hoffnung, als das Konkursgericht LBA als Scheinfirma einstufte. Es gelang ihnen, das Buch zur Verhandlung zu bringen. Der Richter hatte Erbarmen. Als größte Gläubiger (mit Zinsen schuldete ihnen Simpson zu diesem Zeitpunkt bereits 38 Millionen Dollar) wurden ihnen die Rechte an „If I Did It“ zugesprochen.
Die Konkursvereinbarung sah vor, dass sie das Buch veröffentlichen und 10% der Erträge an das Konkursgericht übergeben würden, womit weitere Schulden von LBA abbezahlt würden. Die Situation war zweifellos paradox. Mit diesem Manuskript würden sie helfen, die Schulden von Rons Mörder zu tilgen.

 

Der Weg bis zur Veröffentlichung 2007 war für die Goldmans lang, steinig und emotional äußerst aufwühlend. Mittlerweile hatten sie begriffen, dass es sich bei „If I Did It“ nicht um die befürchtete Anleitung zum Mord handelte, sondern um ein „hypothetisches“ Geständnis. O.J. Simpson beschrieb in eigenen Worten, wie und warum er seine Ex-Frau Nicole und Ron ermordet hatte. Dies zu lesen, muss unheimlich schmerzvoll gewesen sein. Im Vorwort der überarbeiteten Ausgabe berichtet die Familie, dass sie für die Entscheidung, das Buch zu veröffentlichen, harte Kritik ernteten. Erneut warf man ihnen vor, O.J. als Goldesel zu missbrauchen und sich an Rons Tod zu bereichern. Ich kann verstehen, wieso sie sich dazu durchrangen und ich glaube ihnen, dass sie es sich damit nicht leicht machten. Sie „missbrauchen“ den Mörder ihres Familienmitglieds nicht – sie fordern ein, was ihnen zusteht. Es geht nicht ums Geld. Es geht ums Prinzip. Es geht darum, dass jede Tat Konsequenzen hat und O.J. Simpson sich länger als ein Jahrzehnt Arme und Beine ausriss, um diese Konsequenzen zu umgehen. Mit dem Erscheinen von „If I Did It“, nun um den Untertitel „Confessions of the Killer“ erweitert, kamen sie ihrem Ziel, Gerechtigkeit für Ron zu erwirken, endlich ein Stück näher. 90% der Erlöse des Buches fließen in eine Stiftung in seinem Namen.

 

Als ich das erste Mal von „If I Did It“ las, traute ich meinen Augen nicht. Ich konnte es wirklich nicht fassen. Wer ist denn so dämlich, nach einem Freispruch ein „hypothetisches“ Geständnis zu verfassen und dieses als Buch veröffentlichen zu wollen? Mir ist zwar klar, dass man in den USA für dasselbe Verbrechen nicht mehrfach angeklagt werden kann, aber ich bitte euch. Wer macht sowas? Warum macht man sowas? Wenn man mit zweifachem Mord davongekommen ist, hält man den Mund und nimmt die Erinnerungen an die Tat mit ins Grab. Man zieht nicht los und erklärt der ganzen Welt, wie man es getan „hätte“, „wäre“ man der Mörder. Aus meiner Sicht verrät diese Handlungsweise sehr viel über O.J. Simpsons Persönlichkeit. Er erträgt es nicht, irrelevant zu sein. Er badet im Scheinwerferlicht, vollkommen unabhängig davon, ob die Aufmerksamkeit, die er erhält, positiv oder negativ ist. Übrigens ein Verhalten, das ich von meiner Hündin kenne. Als sie ein Welpe war.

 

„If I Did It“ auf meine Lektüreliste zum Fall O.J. Simpson zu setzen, hatte mehrere Gründe. Primär hoffte ich, durch dieses umstrittene Buch besser verstehen zu können, was für ein Mann Simpson ist. Seit ich die Details des Prozesses kannte, ging mir die Frage, wie er seelenruhig im Gerichtssaal hocken und zuschauen konnte, wie seine Verhandlung zur Farce mutierte, obwohl er wusste, dass er seine Ex-Frau und einen unschuldigen jungen Kellner ermordet hatte, nicht aus dem Kopf. Begriff er nicht, dass er für lange Zeit ins Gefängnis gehen könnte? Eine Zeit lang schwebte sogar die Todesstrafe im Raum. Hatte er denn keine Angst? Empfand er keine Schuld, keine Reue? Wenn schon nicht für Ron, dann zumindest für Nicole? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er wirklich dieser arrogante, eiskalte Bastard ist, der keine Miene verzieht, während über seine Zukunft verhandelt wird. Mit diesem Buch erhielt ich die Chance, in seinen Kopf zu gucken.
Zusätzlich erwartete ich, meine Auffassung des Falles um eine Facette erweitern zu können. Ich bemühte mich sehr um Objektivität und dazu gehörte meines Erachtens nach eben auch, den Angeklagten zu Wort kommen zu lassen.
Zu guter Letzt muss ich zugeben, dass in meine Entscheidung, das „hypothetische“ Geständnis lesen zu wollen, eine gute Portion Neugier und Sensationslust hineinspielte. Ich brannte darauf, zu erfahren, was O.J. Simpson über die Mordnacht zu sagen hatte. Sicherlich nicht die reinste Motivation, aber äußerst typisch für alles, was diesen Fall betrifft. Skandale faszinieren Menschen. Ich bin da keine Ausnahme.
Gut Mr. Simpson, dachte ich, dann lassen Sie mal hören.

 

„If I Did It: Confessions of the Killer” beginnt mit dem Vorwort der Familie Goldman, in dem sie zusammenfassen, welchen verschlungenen Weg sie einschlugen, bis das Buch in seiner aktuellen Form veröffentlicht wurde. Darauf folgt ein Prolog des Ghostwriters Pablo F. Fenjves. Fenjves, Fenjves… da klingelte etwas in meinem Hinterkopf. Ich kannte den Namen. Ich fand schnell heraus, woher. Fenjves hatte im Strafprozess gegen Simpson ausgesagt. Er war einer der Nachbarn, die Nicoles Akita hatten bellen hören, unmittelbar nach den Morden. Was für ein seltsamer Zufall. Mittlerweile glaube ich, dass es vielleicht gar kein Zufall war. Vielleicht wollte O.J. Simpson mit Fenjves arbeiten, aus welchen verworrenen Gründen auch immer. Während seines Prozesses hatte er persönlich in die Besetzung des „Dreamteams“ eingegriffen, warum also nicht bei diesem Projekt? Fenjves wurde gesagt, es handle sich mit Garantie um ein Geständnis, doch O.J. sei lediglich bereit, hypothetisch über die Morde zu sprechen.

 

Fenjves beschreibt seine Zusammenarbeit mit O.J. Simpson und schildert, wie sich der ehemalige Footballstar ihm gegenüber verhielt. O.J. fühlte sich mit dem Kapitel, das die Morde thematisiert, nicht wohl. Er hasste diesen Abschnitt und betonte immer wieder, dass er unschuldig sei. Fenjves glaubte ihm nicht. Nur mit Mühe konnte er eine Rekonstruktion der Tatnacht aus Simpson herauskitzeln. Als sie das Rohmaterial fertiggestellt hatten, begann Fenjves, zu schreiben. Er hielt engen Kontakt mit Simpson und nahm seinen Wünschen entsprechend Änderungen vor. Das Kapitel über die Morde blieb Diskussionsgegenstand. O.J. wollte es herausnehmen und strich wiederholt Details, die ausschließlich der Mörder wissen konnte. Er behauptete, Fenjves habe ihn zu fiktiven Spekulationen gedrängt. Er bekam kalte Füße. Es dämmerte ihm, was für eine irre Idee das Buch war. Trotz dessen stimmte er Fenjves‘ Manuskript letztendlich zu und es ging in die Produktion.

 

Die Medien bekamen Wind von dem Projekt und Proteste gegen das Buch wurden laut, besonders seitens der Goldmans. Der Inhaber von News Corp. stoppte die Veröffentlichung. O.J. Simpson kontaktierte Pablo F. Fenjves telefonisch, um ihm mitzuteilen, dass er sich trotz der massiven Kritik nicht gegen ihn wenden würde. Fenjves verstand nicht. O.J. erklärte, dass das Kapitel über die Morde hauptsächlich von Fenjves stammte, nicht von ihm. Das war selbstverständlich Quatsch. Es war O.J.s Buch. Er hatte ausreichend Gelegenheit, falsche Aussagen und Missverständnisse zu korrigieren. O.J. behauptete jedoch, er habe bewusst Fehler im Manuskript belassen, damit er sich später verteidigen könne. Fenjves war nicht glücklich mit der Unterstellung, er habe sich Passagen ausgedacht. O.J. log. Er habe die Zusammenarbeit mit Fenjves zwar geliebt und empfände das Projekt als kathartisch, es sei jedoch hauptsächlich darum gegangen, die Wahrheit über seine Beziehung zu Nicole öffentlich zu machen.

 

Fenjves begriff, dass Simpson versuchte, sich von dem Buch zu distanzieren. Einen Tag nach ihrem Telefonat wandte sich Simpson an die Presse und argumentierte, es sei fiktional und hauptsächlich das Werk seines Ghostwriters. Die Presse stürzte sich auf Fenjves. Es gab eine Menge Rummel. Alle Welt wollte Interviews oder die Chance, das Buch zu lesen. Fenjves lehnte alle Anfragen ab. Erst als die Goldmans die Rechte am Manuskript erwarben und Simpson erneut beteuerte, er habe mit dem Kapitel über die Morde nichts zu tun gehabt, äußerte er sich und erklärte, alles, was in „If I Did It“ stünde, sei O.J.s Gedankengut, inklusive aller Fehler, Andeutungen und Offenbarungen.
An dieser Stelle endet der Prolog. Mit dieser wirren Geschichte im Hinterkopf begann ich die Lektüre des originalen Manuskripts.

 

Jeder Mensch ist der Held seiner eigenen Geschichte. Im Fall O.J. Simpson ist das vermutlich zutreffender als bei irgendjemandem sonst. „If I Did It“ hat meine Meinung von O.J. Simpson definitiv verändert; ich musste mein Bild von ihm anpassen. Meine Wut auf ihn ist verraucht – übrig blieb trauriges Bedauern für einen Mann, der völlig den Kontakt zur Realität verlor.

 

Ich bin überzeugter denn je, dass Simpson schuldig ist. Meiner Ansicht nach ist dieses Buch tatsächlich ein lupenreines Geständnis. Das Possenspiel rund um die „hypothetische“ Mordnacht kaufe ich ihm nicht ab. Die Beschreibungen der Tat sind viel zu detailliert, konkret und glaubwürdig, um ein Produkt seiner Fantasie zu sein. Ich glaube jedoch, dass O.J. Simpsons nicht bewusst ist, dass er die Morde beging. Es handelt sich um einen Fakt, den er tief in seinem Unterbewusstsein wegschloss. Er spaltete seine Erinnerung an die Morde von sich ab. In der Psychologie ist lange bekannt, dass solche schützenden Strategien erstens möglich und zweitens nicht ungewöhnlich sind, wenn bestimmte Erlebnisse zu schrecklich sind, um sie zu verarbeiten. Schuld in diesem Ausmaß ist schrecklich. Allerdings funktioniert diese Strategie nicht ewig. „If I Did It“ beweist für mich, dass sich seine Erinnerungen Bahn brechen, obwohl er sich noch immer nicht eingestehen kann, dass er Nicole und Ron ermordete. Er kann die Realität nicht akzeptieren, deshalb griff er auf einen hypothetischen Ansatz zurück. Solange er die Morde lediglich in der Theorie begangen hat, kann er behaupten, unschuldig zu sein.

 

Ich denke, O.J. Simpson wurde missverstanden. Ich halte ihn nicht für einen kaltblütigen Killer, der von Bosheit und Niedertracht erfüllt ist. Meiner Einschätzung nach ist er ein Mann mit massivem Gewaltpotential, das impulsiv explodiert. Die Morde an Nicole und Ron waren verabscheuungswürdig und ich vermute, dass Simpson unter gravierenden psychischen und emotionalen Defiziten leidet, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er plante, Nicole umzubringen (von Ron mal ganz zu schweigen, der unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort war). Für einen vorsätzlichen Mord fehlt es ihm an Intelligenz, Weitsicht und Organisationstalent, was die zahllosen physischen Beweise, die am Tatort gefunden wurden, unterstützen. Er ist ein Mann mit geringer Aggressionsschwelle und Frustrationsgrenze. Nicole war für ihn ein Störfaktor, weil sie sich nicht so verhielt, wie er es sich wünschte. Ich bin sicher, dass er wirklich glaubte, sie ruiniere kontinuierlich sein Leben. Der Störfaktor musste unter Kontrolle gebracht werden. Dass sein Bedürfnis, Nicole zu kontrollieren, in dieser verhängnisvollen Nacht tödlich eskalieren könnte, hätte er sich selbst wahrscheinlich niemals zugetraut. Er ist meiner Meinung nach längst nicht so skrupellos und kalkulierend, wie Medien und Staatsanwaltschaft behaupteten.

 

Es ist wichtig, zu begreifen, dass O.J. Simpsons Realität nicht mit der Faktenlage korreliert. Er sieht sich als unschuldig, weil die Annahme seiner Schuld nicht mit seinem Bild von sich selbst vereinbar ist. An dieser Überzeugung hält er mit der Sturheit eines verzweifelten Mannes fest. Sie befähigt ihn, jegliche Widersprüche zu ignorieren oder weg zu erklären. Das ist schwer nachvollziehbar und ich musste mich sehr anstrengen, um seinem Weltbild zu folgen. Doch irgendwie gelang es mir, mich in ihn hineinzuversetzen und seine verschobene Perspektive einzunehmen. Dadurch entwickelte ich eine Ahnung davon, warum er sich überhaupt auf dieses absurde Buchprojekt einließ. Ich denke, er hat Pablo F. Fenjves die Wahrheit gesagt. Er wollte die öffentliche Wahrnehmung seiner Beziehung mit Nicole korrigieren und folglich auch die Wahrnehmung seiner Person. Er wollte das Narrativ ihrer Beziehung zu seinen Gunsten umdeuten.

 

Laut Jeffrey Toobin brachten Simpson Erwähnungen von häuslicher Gewalt im Strafprozess aus der Fassung. Im Zivilprozess verärgerten ihn Andeutungen, dass er Nicole anbettelte, ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben. Für ihn ist es nicht mit seiner Realität vereinbar, dass Nicole nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte, weil er sie misshandelte und er dann zum Stalker wurde, der sie letztendlich tötete. Er musste die Situation umdrehen, um sich rechtfertigen zu können: seiner Meinung nach war Nicole diejenige, die ihre Beziehung unbedingt weiterführen wollte. Nicht sie, er fühlte sich bedrängt und verfolgt. Sie war diejenige, die ausflippte und gewalttätig wurde. Sie verhielt sich irrational und unberechenbar. Sie hatte Probleme. Er wollte Abstand. Er wollte die endgültige Trennung. Das Schlimme daran ist, dass ich denke, er glaubt tatsächlich alles, was er Fenjves aufschreiben ließ. Er verdrängt, ignoriert und leugnet alle Fakten, die seinem Bild von sich selbst als liebender, fürsorglicher, vernünftiger, rücksichtsvoller, verständnisvoller und geduldiger Ehemann, Vater, Ex-Mann, Sohn, Schwiegersohn und Freund widersprechen. Er beschreibt, wie er sich selbst sieht und wie er in der Öffentlichkeit gesehen werden möchte. Fehler seinerseits räumt er nur ein, um ihre Fehltritte zu betonen und sich selbst besser darstellen zu können. Dass dieses subjektive Porträt durch harte Tatsachen entkräftet wird, spielt für ihn keine Rolle. Seine Wahrnehmung ist meiner Ansicht nach komplett gestört: er ist der Gute, Nicole war die Böse.

 

„If I Did It“ beeinflusste meine Einschätzung von O.J. Simpson maßgeblich. Auf gewisse Weise konnte er sein Ziel also erfüllen. Ich bezweifle allerdings, dass er mit meinem Fazit zu diesem grotesken Buch zufrieden wäre. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass O.J. Simpson, Promi, Runningback, Schauspieler, Golfer und Werbeikone, eine Kunstfigur ist. Ich glaube, den wahren Menschen hinter dieser Fassade, den Mann namens Orenthal James Simpson, bekommt kaum jemand jemals zu Gesicht. Vermutlich nicht mal er selbst. Meiner Ansicht nach kappte er den Kontakt zu sich selbst bereits vor langer Zeit. Ich denke, nicht O.J. Simpson tötete Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman – Orenthal James Simpson tötete sie. In der Mordnacht eskalierte sein wahres Ich, nicht diese künstliche Hülle, die er den Medien zeigt. Durch diese Divergenz in seiner Persönlichkeit konnte er sich selbst glaubhaft weismachen, unschuldig zu sein. Ich möchte es ganz deutlich betonen: O.J. Simpson ist kein Lügner. Er glaubt, er ist unschuldig. In „If I Did It“ teilt er die Wahrheit mit, wie er sie interpretiert. Er verdreht und pervertiert, aber er lügt nicht.

 

Wie passt das Kapitel über die Morde in diese Theorie?
Simpsons eigentliches Geständnis nimmt lediglich geringen Raum im Buch ein, ca. 10 Seiten. Auf mich wirkten diese 10 Seiten ein bisschen wie ein Unfall. Vielleicht kann man von einer Verselbstständigung seines Unterbewusstseins sprechen. Ich glaube, Simpson wurde vom Momentum seiner Erzählsituation mit Pablo F. Fenjves mitgerissen. Obwohl Fenjves berichtete, es sei so mühselig wie Zähne ziehen gewesen, sein Gegenüber zum Reden zu bewegen, gelang es ihm mit ein paar psychologischen Tricks eben doch, Simpson ausreichend Sicherheit zu vermitteln, damit er sich öffnete. In der flauschigen, trügerischen Watte „hypothetischer“ Schilderungen rutschten ihm Details raus, die er vermutlich sogar vor sich selbst verbarg und die ihn meiner Meinung nach eindeutig als Mörder identifizieren. Ich stelle mir vor, wie es ihn eiskalt durchlief, als ihm klar wurde, was er verraten hatte. Orenthal James Simpson hatte sein hässliches Haupt gehoben. Interessant ist, dass O.J. Simpson innerhalb kürzester Zeit wieder die Kontrolle übernahm und sofort das Märchen erfand, Fenjves habe sich das Kapitel ausgedacht. Wie normal muss es für ihn sein, als Kunstfigur durchs Leben zu schreiten, um sein eigenes Verhalten problemlos leugnen und verzerren zu können?

 

Ich kann nicht leugnen, dass ich O.J. Simpson als Person bedauere. Er tut mir leid. Ich kann lediglich spekulieren, was ihn veranlasste, sich eine Kunstfigur zu erschaffen, sie unter allen Umständen zu schützen und als dominante Persönlichkeit zu etablieren. Einen Menschen, der niemals er selbst ist, der in einer illusorischen Traumwelt lebt und über keinerlei Kontakt zur Realität verfügt, kann ich nur bemitleiden. Das ändert jedoch nichts daran, dass er ein Mörder ist. Mein Mitleid spricht ihn nicht frei, das möchte ich keinesfalls suggerieren. „If I Did It“ ist ein Geständnis und verdient keine Sterne-Bewertung. O.J. Simpson ermordete Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman. Für dieses schreckliche Verbrechen hätte er ins Gefängnis gehört.


Morgen werden wir uns mit den Erinnerungen einer Person beschäftigen, die meinem letzten Satz in dieser Rezension zweifellos zustimmen würde: Marcia Clark, die leitende Staatsanwältin im Strafprozess gegen O.J. Simpson. „Without A Doubt“ schildert die Verhandlung aus ihrer Perspektive und erklärt die Entscheidungen der Anklage, die in der Presse häufig als Inkompetenz verurteilt wurden. Berichten zufolge erhielt Clark für dieses Buch ein Honorar von mehr als 4 Millionen Dollar. Schaut morgen wieder vorbei, wenn ihr herausfinden wollt, ob die Chefanklägerin diese gewaltige Summe zurecht erhielt.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/09/26/o-j-simpson-if-i-did-it-confessions-of-the-killer
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review 2018-09-25 09:32
Er ist ein Mörder
The Run of His Life: The People v. O. J. Simpson - Jeffrey Toobin

Heute starten wir zusammen ein Rezensionsexperiment. In den nächsten Tagen werde ich euch drei Rezensionen präsentieren, die drei Bücher mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Thema besprechen. Wir werden uns mit einer der bedeutendsten Fehlentscheidungen der US-amerikanischen Justiz auseinandersetzen, die drei verschiedene Personen vollkommen divergierend wahrnahmen, erlebten und beschrieben. Wir werden uns mit dem Fall O.J. Simpson beschäftigen.

 

Wir beginnen mit Jeffrey Toobins literarischer Dokumentation „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson”. Ich muss euch warnen: bevor ich über das Buch selbst spreche, werde ich euch mit Fakten und Hintergrundwissen überfluten. Meiner Ansicht nach können wir uns erst dann über das Buch verständigen, wenn wir einen annährend ähnlichen Wissensstand erreicht haben. Außerdem dient die heutige Rezension als Basis für die beiden folgenden Besprechungen in den nächsten zwei Tagen. Ich betrachte diese drei Rezensionen als Verbund, die aufeinander aufbauen. Heute legen wir das Fundament.


Laut US-amerikanischem Strafprozessrecht steht jedem bzw. jeder Angeklagten eine faire Verhandlung vor einer Jury zu. Diese sogenannte Trial Jury besteht aus 12 Geschworenen, die im Idealfall einen Querschnitt der Gesellschaft wiederspiegeln. Diese 12 Laien entscheiden über Schuld oder Unschuld des/der Angeklagten. In der Regel verfügen sie über keinerlei juristisches Vorwissen und stützen ihr Urteil auf die Beweislage, die ihnen von Anklage und Verteidigung während des Prozesses präsentiert wurde. Anders als in Deutschland hat der Richter oder die Richterin keinen direkten Einfluss auf Schuld- oder Freispruch. Er/Sie erfüllt eher eine moderierende Funktion und kann das Urteil einer Jury ausschließlich unter sehr spezifischen Bedingungen aufheben oder ändern.

 

Um Voreingenommenheit zu vermeiden, dürfen die 12 Geschworenen keine Vorkenntnisse über den zu verhandelnden Fall haben. Für die Dauer des Prozesses wird die Gruppe isoliert, um nachfolgende Beeinflussung ebenfalls auszuschließen. Sie werden oft in einem Hotel auf Staatskosten untergebracht und ihr Zugang zu Medien wie Zeitung, Fernsehen und Internet wird reglementiert. Besuch von ihren Familien dürfen sie nur unter strengen Auflagen erhalten.
Geschworenendienst bedeutet häufig Erwerbsausfall. Nicht nur werden Juroren für ihr Engagement häufig mager bezahlt (die Süddeutsche Zeitung spricht von 10$ pro Tag), viele Firmen stellen ihre Lohnzahlungen bereits nach kurzer Zeit ein. Langwierige Prozesse können ein Jurymitglied finanziell ruinieren.

 

In einem Strafprozess muss das Urteil der Jury einstimmig sein. Es obliegt der Anklage, sie davon zu überzeugen, dass der/die Angeklagte die Tat „beyond reasonable doubt“ begangen hat – das heißt, es dürfen keine berechtigten Zweifel bestehen, dass er oder sie schuldig ist. Da diese Voraussetzung keiner festen Definition folgt und die Geschworenen nicht verpflichtet sind, ihr Urteil zu begründen, besteht die Möglichkeit, dass Angeklagte willkürlich schuldig oder freigesprochen werden. Selbst wenn die Beweislage erdrückend ist.

 

Warum erzähle ich euch das alles?

 

Ich erkläre euch die Grundzüge des US-amerikanischen Geschworenensystems, weil dieses Wissen eine Voraussetzung ist, um zu verstehen, wie Orenthal James Simpson am 03. Oktober 1995 des zweifachen Mordes freigesprochen werden konnte. Ich erkläre es euch, damit ihr versteht, warum O.J. Simpson trotz überwältigender physischer Beweise für unschuldig befunden werden konnte.

 

Der Fall O.J. Simpson ist wie kaum ein zweiter im kollektiven Gedächtnis der USA verankert. Anspielungen auf seinen spektakulären Prozess sind in der Popkultur keine Seltenheit. Wann immer die US-amerikanische Justiz kritisiert oder durch den Kakao gezogen wird, ist die Erinnerung an O.J. und den berüchtigten Handschuh nicht weit.

 

Orenthal James Simpson ist ein ehemaliger Profi-Footballspieler. Er wurde am 09. Juli 1947 in San Francisco geboren. Als Runningback spielte er von 1969 bis 1979 bei den Buffalo Bills und den San Francisco 49ers und verdiente sich aufgrund seiner schnellen Füße und seiner Initialen (O.J. = Orange Juice) den Spitznamen „The Juice“.  Nach seiner erfolgreichen aktiven Karriere arbeitete er als Sportkommentator und strebte ins Showbusiness. Er versuchte sich als Schauspieler und verkörperte mehrere kleine Rollen, unter anderem in der Filmreihe „Die nackte Kanone“, konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf die Vermarktung seiner selbst. Er war jahrelang Werbepartner der Autovermietung Hertz.
Seit 1985 war O.J. Simpson in zweiter Ehe mit der Kellnerin Nicole Brown Simpson verheiratet. Kennengelernt hatte er sie bereits sieben Jahre zuvor, als sie 18 Jahre alt war und er in Trennung von seiner ersten Ehefrau lebte. Das Paar bekam zusammen zwei Kinder. Ihre Beziehung war stets turbulent und von teils gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt, die durch Zeugenaussagen und Polizeiberichte belegt sind. Sie ließen sich im Oktober 1992 scheiden, versuchten später allerdings, sich wieder zu versöhnen. Erst im Frühjahr 1994 entschieden sie, sich endgültig zu trennen.

 

Nicole Brown Simpson wurde kurz nach Mitternacht am Morgen des 13. Juni 1994 tot vor ihrem Haus in Los Angeles aufgefunden. Neben ihrem leblosen Körper befand sich die Leiche des jungen Kellners Ronald Goldman. Beide Opfer wiesen erhebliche Verletzungen auf und lagen in einer Blutlache. Die Gerichtsmedizin schlussfolgerte später, dass sie mit einem Messer angegriffen worden waren.
Am Tatort entdeckten die eintreffenden Ermittler einen schwarzen ledernen Herrenhandschuh, Blutstropfen und Fußabrücke, die von Browns Heim fortführten. Als sie ihren Ex-Mann O.J. Simpson, der nur wenige Minuten entfernt wohnte, von ihrem Tod informieren wollten, standen sie vor verschlossenen Türen. In der Einfahrt parkte ein weißer Ford Bronco, an dem den Polizisten ebenfalls Blutspuren auffielen. Besorgt, dass Simpson in Gefahr sein könnte, verschafften sie sich Zutritt und erfuhren von seiner Tochter aus erster Ehe, dass ihr Vater am Abend geschäftlich nach Chicago geflogen war. Auf dem Grundstück bemerkten sie weitere Blutstropfen, die ins Haus zu führen schienen, außerdem entpuppte sich ein Bündel auf einem Pfad neben einem der Gästehäuser als schwarzer Lederhandschuh. Nun galt O.J. Simpson inoffiziell als tatverdächtig.

 

Simpson weilte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich in Chicago, kehrte aber noch am 13. Juni nach L.A. zurück. Er wurde aufs Revier gebracht und befragt. Obwohl seine Aussagen teilweise widersprüchlich und wirr waren und er nicht erklären konnte, wie er sich eine blutende Wunde am Finger zugezogen hatte, ließen ihn die Ermittler wieder gehen. Die nächsten Tage verbrachte Simpson im Haus seines Freundes Robert Kardashian, während die Polizei weitere Beweise gegen ihn sammelte. Am 17. Juni wurde offiziell Haftbefehl erlassen. Simpson entzog sich seiner Verhaftung und wagte einen skurrilen Fluchtversuch in Begleitung seines Freundes Al Cowlings. In Cowlings weißem Ford Bronco (das gleiche Modell, das Simpson besaß und in dem Blutspuren gefunden wurden) schlichen sie über die Straßen in Los Angeles und lieferten sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd im Schneckentempo. Cowlings fuhr, Simpson saß auf der Rückbank und drohte, sich selbst zu erschießen. Seine Flucht wurde live im TV übertragen und wurde zum meistgesehenen Fernsehereignis der 90er Jahre. Die Einwohner_innen von L.A. waren nicht etwa schockiert, sondern feuerten ihren Footballhelden an und malten sogar Schilder, um ihm vom Straßenrand aus zuzujubeln. Die irrwitzige Verfolgungsjagd endete am Abend vor Simpsons Haus. Er ließ sich festnehmen, ohne Widerstand zu leisten. In Cowlings Wagen fanden Polizeibeamte Bargeld, einen Reisepass und einen falschen Schnurrbart. Die Vermutung, O.J. habe sich über die Grenze absetzen wollen, lag nahe, er behauptete jedoch, er habe lediglich Nicoles Grab besuchen wollen.

 

O.J. Simpson wurde am 30. Juni 1994 offiziell des zweifachen vorsätzlichen Mordes angeklagt. Der eigentliche Prozess begann am 22. Juli 1994. Den Vorsitz führte der Richter Lance Ito, die leitende Staatsanwältin war Marcia Clark. Simpson wurde von einem Team hochdekorierter Anwälte vertreten, darunter sein Freund Robert Kardashian, Robert Shapiro, F. Lee Bailey, der Harvarddozent Alan Dershowitz, der DNA-Spezialist Barry Scheck und der afroamerikanische Anwalt Johnnie Cochran, der bereits häufig schwarze Mandanten gegen die Stadt vertreten hatte. In den Medien wurde Simpsons Verteidigung das „Dreamteam“ genannt. Die vorherrschende Meinung besagte, er habe sich die besten Anwälte, die „für Geld zu haben sind“ gesichert.

Der Strafprozess gegen O.J. Simpson war ungemein kompliziert und komplex. Viele Faktoren spielten eine Rolle, die Anklage förderte bergeweise Beweismaterial gegen Simpson zu Tage und es kam zu spektakulären Szenen im Gerichtssaal, zum Beispiel, als Simpson von der Staatsanwaltschaft aufgefordert wurde, die belastenden Handschuhe anzuprobieren, die sowohl seine als auch DNA-Spuren der Opfer trugen. Durch die geschickte Haltung seiner Hände täuschte er vor, die Handschuhe seien zu klein. Der alles bestimmende Aspekt der Verhandlung war allerdings die Entscheidung seitens Simpsons „Dreamteam“, angeführt von Johnnie Cochran, die sogenannte „Rassenkarte“ auszuspielen.

 

O.J. war ein schwarzer Mann, der von der bekanntermaßen mit Rassismus in den eigenen Reihen kämpfenden, überwiegend weißen Polizei von L.A. festgenommen worden war. Cochran war fest entschlossen, seinen Fall als Verschwörung des korrupten, rassistischen L.A.P.D. gegen seinen schwarzen Mandanten zu inszenieren. Die Verteidigung behauptete, Beweise seien manipuliert und platziert, O.J. sei hereingelegt worden. Diese Theorie war nicht nur aufgrund der logischen Abläufe während der Ermittlung sehr weit hergeholt, sondern auch, weil Simpson sich einerseits nie für die afroamerikanische Community eingesetzt hatte und sich selbst offenbar nicht als schwarz begriff (Einem berühmten Zitat zufolge soll er gesagt haben „Ich bin nicht schwarz, ich bin O.J.“) und andererseits sehr gute Beziehungen zu den Polizisten des L.A.P.D. unterhielt. Viele Beamte waren in den vergangenen Jahren auf seinem Grundstück ein und aus gegangen und deckten ihn bezüglich der Vorfälle von häuslicher Gewalt gegen Nicole. Es war absurd, anzunehmen, O.J. sei das Opfer einer Verschwörung. Doch die Taktik der Verteidigung ging auf.

 

Die Jury im Prozess gegen O.J. Simpson bestand hauptsächlich aus schwarzen Bürger_innen. Während der Vorbereitungen hatten sowohl die Teams der Verteidigung als auch der Anklage herausgefunden, dass speziell afroamerikanische Frauen dazu neigten, O.J. als unschuldig zu betrachten. Ungeachtet der Beweise sah die schwarze Bevölkerung in O.J. einen Helden, der seine schwierige Herkunft überwunden und in der Welt der Weißen erfolgreich geworden war. Diesen Helden zugunsten des rassistischen, weißen L.A.P.D. zu verurteilen, war für viele vollkommen unvorstellbar. Die Theorie der Verteidigung, O.J. sei das Opfer einer Verschwörung, lieferte ihnen eine plausible Berechtigung, die Beweise zu ignorieren und ihn freizusprechen.

O.J. Simpson wurde nach über einem Jahr der Prozessdauer am 03. Oktober 1995 von den 12 Geschworenen bedingungslos freigesprochen. Die Jury beriet sich trotz der Länge und Komplexität des Prozesses lediglich vier Stunden. Sie begründeten ihr Urteil nicht. O.J. war ein freier Mann.

 

Ein Jahr nach dem Urteil im Strafprozess musste sich O.J. Simpson in einem Zivilprozess verantworten, den die Familien der Opfer, die Browns und die Goldmans, initiierten. Die Voraussetzungen für eine Verurteilung in einem Zivilverfahren sind deutlich lockerer. Er wurde schuldig gesprochen. Mittlerweile gilt als bewiesen, dass O.J. Simpson ein Mörder ist. Er tötete seine Ex-Frau Nicole Brown Simpson und den Kellner Ronald Goldman.

 

Puh. Habt ihr jetzt auch das Bedürfnis, erst einmal tief Luft zu holen? Ich weiß, ich habe euch nun mit einer Menge Fakten konfrontiert. Ich habe mich bemüht, den Mordprozess gegen O.J. Simpson so knapp wie möglich zusammenzufassen, doch die Komplexität des Falles zwang mich, ordentlich auszuholen. Ich wollte sicher sein, dass ihr genau wisst, wovon ich spreche, wenn wir uns der Rezension zu „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson“ von Jeffrey Toobin widmen. Bevor wir uns mit diesem brillanten Buch beschäftigen, möchte ich euch allerdings zuerst eine kleine Verschnaufpause gönnen und berichten, wie es überhaupt den Weg in mein Bücherregal fand.

 

Der Fall O.J. Simpson tanzte lange am Rande meiner Wahrnehmung entlang. Durch die starke popkulturelle Präsenz, die dieser Mordprozess erlangte, wurde ich in unregelmäßigen Abständen mit Anspielungen konfrontiert, die ich lediglich ansatzweise verstand, beispielsweise in den „Simpsons“ oder im Song „Lifestyles of the Rich and the Famous“ der Band Good Charlotte. Ich begriff, dass O.J. Simpson irgendein Promi war, der leugnete, ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben, aber ich kapierte nicht, wieso er damit beißenden Spott provozierte. Während des eigentlichen Prozesses war ich selbstverständlich noch viel zu jung, um überhaupt zu realisieren, was dort in diesem fernen Land namens Amerika passierte. Folglich verfügte ich über keinerlei Kontext, um die bissigen, ironischen Erwähnungen von O.J., des Handschuhs oder Johnnie Cochran korrekt einzuordnen. Ich plante zwar immer, den Fall irgendwann einmal zu recherchieren, aber wie es eben so ist im Leben, habe ich es nie getan.

 

Meine Neugier wurde erst richtig geweckt, als ich die Ankündigung las, dass es einen Ableger von „American Horror Story“ geben sollte. In diesem Spin-Off mit dem Titel „American Crime Story“ werden reale Fälle der US-amerikanischen Justiz vorgestellt, die große öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben. Die erste Staffel behandelt den Fall O.J. Simpson. Da „American Horror Story“ zu meinen Lieblingsserien zählt, hatte ich keine Zweifel, was die Qualität von „American Crime Story“ betrifft und betrachtete es als günstige Gelegenheit, meine Wissenslücken endlich zu schließen.
Die erste Staffel gefiel mir außerordentlich gut. Ich fand die filmische Umsetzung des Prozesses gegen O.J. Simpson ungemein spannend und mitreißend. Die Tatsache, dass es sich um reale Ereignisse handelte, verursachte einen zusätzlichen Kitzel und als ich die 10 Folgen der Staffel vollständig gesehen hatte, ließ mich das Thema nicht los. Ich war fasziniert und wollte unbedingt noch mehr über diesen sensationellen Fall, der als beispielloser Justizirrtum in die Geschichte der USA einging, wissen. Ich wollte mehr Details. Ich wollte wissen, wie akkurat „American Crime Story“ die Fakten verarbeitet hatte und wie viel Interpretation in den Szenen steckte. Ich wollte mir eine eigene Meinung bilden.

 

Zuerst sah ich mir Fotos der Beteiligten an und surfte durch Wikipedia-Artikel, aber als passionierter Bücherwurm war es für mich natürlich naheliegend, Antworten in Büchern zu suchen. Glücklicherweise haben beinahe alle Mitwirkenden irgendwann biografische Bücher ihrer Erlebnisse während des Prozesses veröffentlicht, sodass ich nicht mühsam Lektüre ausfindig machen musste, sondern einfach auswählen konnte, was mich interessierte. Ich nahm Abstand von den Biografien der Verteidiger, weil mich die Selbstinszenierung, die viele der Anwälte in O.J.s Kielwasser betrieben hatten, abstieß. Stattdessen entschied ich mich für drei Werke, die den Fall meinen Erwartungen zufolge umfassend abdeckten: „Without A Doubt“ von der leitenden Staatsanwältin Marcia Clark, das hypothetische Geständnis „If I Did It“ von O.J. Simpson selbst und „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson“ des ehemaligen Anwalts und Journalisten Jeffrey Toobin.

 

„The Run of His Life“ landete aus zwei Gründen auf meiner Auswahlliste: erstens wusste ich, dass dieses Buch als Vorlage für „American Crime Story“ diente; zweitens erhoffte ich mir von Toobin eine objektive Schilderung des Prozesses, da er als Journalist selbst nicht direkt involviert war. Aus denselben Gründen entschied ich, meine private Recherchemission mit exakt diesem Bericht zu beginnen.

Jeffrey „Jeff“ Toobin arbeitete zur Zeit des Strafprozesses gegen O.J. Simpson als Journalist beim New Yorker und wurde von seinem Blatt nach L.A. geschickt, um wenn möglich direkt aus dem Gerichtssaal zu berichten. Er war selbst eine Zeit lang Anwalt und qualifizierte sich daher als geeigneter Reporter, der die Feinheiten juristischer Strategien erkannte, begriff und den Leser_innen erklären konnte. Toobin begleitete den gesamten Prozess, da er einen der wenigen, heiß begehrten festen Sitze für die Presse in Lance Itos Saal ergatterte. „The Run of His Life“ ist das Ergebnis seiner persönlichen Beobachtungen, Analysen und Gedanken aus über zwei Jahren der Berichterstattung, sowie der ausführlichen Sichtung von Beweis- und Medienmaterial und zahlreicher Interviews mit mehr als 200 Menschen, die in irgendeiner Form vom Mordprozess gegen O.J. Simpson betroffen waren.

 

Meiner Meinung nach ist „The Run of His Life” ein Recherche-Meisterwerk. Es ist eine unglaublich aufwendige Fleißarbeit, in der Jeffrey Toobin eine überzeugende, detailreiche Zusammenfassung des über ein Jahr andauernden Strafprozesses gegen O.J. Simpson bietet. Er integrierte neben seinen persönlichen Erinnerungen Hintergrund- und biografische Informationen zu allen (wichtigen) Beteiligten, nachvollziehbare Einschätzungen der Vorgänge im Gerichtssaal, sowie Augen- und Zeitzeugenberichte. Obwohl das Buch durch eine ausgeglichene, sachliche Schilderung der Ereignisse beeindruckt, gelang es Toobin, seine private Meinung subtil auf der Metaebene einfließen zu lassen. Er kritisiert und urteilt diskret, ohne Spekulationen anzustellen oder seine Leser_innen aggressiv zu beeinflussen. Ich erhielt nicht nur einen einzigartig intensiven Einblick in die Fakten des Prozesses, es war mir auch problemlos möglich, eigene Ansichten zu entwickeln.

 

Für mich besteht kein Zweifel, dass O.J. Simpson schuldig ist. Er ist ein Mörder. Er tötete Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman. Das Urteil der Jury war eine kolossale gerichtliche Fehlentscheidung und nicht gerecht. Die Beweislast war erdrückend; er hätte verurteilt werden müssen. Ich begreife nicht, wie die 12 Geschworenen seinen Lügen Glauben schenken konnten. Aus meiner Sicht hätte es vollkommen unerheblich sein müssen, dass sie in ihm ein Symbol sahen. Es hätte keine Rolle spielen dürfen, dass er schwarz und berühmt ist. Es ist richtig, dass das L.A.P.D. Schwierigkeiten mit rassistischen Beamten hatte und dass der Polizist Mark Fuhrman, der den berüchtigten Handschuh auf O.J.s Grundstück fand und im Prozess traurige Berühmtheit erlangte, ein beschämendes Negativbeispiel für diese Schwierigkeiten darstellte, aber seine menschenverachtenden Ansichten schlugen sich nicht auf seine Arbeit am Tatort nieder. Er verhielt sich vorschriftsgemäß. Es gab keine Verschwörung. Es wurden weder Beweise platziert noch manipuliert. Die Schritte, die dafür nötig gewesen wären, waren viel zu kompliziert und unrealistisch, um sie tatsächlich zu vollziehen. Es mag sein, dass während der Ermittlungen Fehler geschahen und sich einige Mitarbeiter_innen fahrlässig verhielten, doch nachfolgende Untersuchungen zeigten, dass keiner dieser Fehler die Fakten kompromittierte. Die Fakten, das waren Blut- und DNA-Spuren, Faserrückstände, Fußabdrücke, zeitliche Abläufe und die tragische Vorgeschichte des Ehepaars Simpson. O.J. Simpson hatte Motiv und Gelegenheit und nichts, was seine Verteidigung, sein „Dreamteam“, während des Prozesses aus dem Hut zauberte, überzeugte mich vom Gegenteil. Ich wiederhole mich: O.J. Simpson ist ein Mörder. Seine Hautfarbe und sein sozialer Status hatten keinen Einfluss auf die Fakten, folglich hätte die Jury den Simpson-Fall nicht missbrauchen dürfen, um ein Exempel zu statuieren. Sie verwehrten Nicole und Ron Gerechtigkeit.

 

Ich werfe diesen fatalen Justizirrtum sowohl der Anklage als auch der Verteidigung vor. Die Rassendimension des Falls wurzelt tief in den Konflikten der US-amerikanischen Gesellschaft, in der Rassismus ein anhaltendes, konkretes, nicht zu leugnendes Problem ist. Auf gewisse Weise ist das L.A.P.D. selbst verantwortlich für die Wendung, die der Prozess gegen O.J. Simpson nahm, indem es von Hass getriebene Personen wie Mark Fuhrman beschäftigte und vermutlich bis heute beschäftigt. Trotz dessen war es die Verteidigung rund um Johnnie Cochran, die Rassismus als beherrschenden Aspekt der Verhandlung inszenierte und der Presse, dem 13. Jurymitglied, zum Fraß vorwarf, um von der Schuld ihres Mandanten abzulenken. Es oblag der Anklage, diese Fehlinterpretation der Fakten als Nonsens zu entkräften und die Jury von einem vernunftbasierten Urteil zu überzeugen. Sie versagten. Natürlich wurden sie durch willkürliche, schwer nachzuvollziehende und teils schlicht falsche Entscheidungen des Richters Lance Ito behindert, aber die Beweise hätten ungeachtet dieser Komplikationen zu einer sicheren Verurteilung führen müssen. Ich hatte den Eindruck, dass Marcia Clark und ihr Team den Fall durch Arroganz, Unfähigkeit und Unerfahrenheit an die Wand fuhren. Sie dachten, sie hätten bereits gewonnen. Manchmal wollte ich ins Buch greifen und die Staatsanwaltschaft geschlossen schütteln, weil sie einige wirklich dumme Fehler machten, die der Verteidigung direkt in die Hände spielten.

 

Über das legendäre „Dreamteam“ könnte ich eine seitenlange Schimpftirade verfassen. Es erschließt sich mir nicht, wie sich überhaupt jemand finden konnte, der den völlig offensichtlich schuldigen O.J. Simpson reinen Gewissens vertreten konnte. Rational weiß ich natürlich, dass ihr Gewissen die geringste Sorge seiner defensiven Armada war. Die Antwort, warum sich Anwälte darum rissen, ihn zu vertreten, ist sehr einfach: Geld. Geld und Ruhm. Jeder einzelne seiner Verteidiger nutzte den Mordprozess für eine private Agenda, die vor allem aus der Pflege ihrer Egos bestand. Ich finde sie alle abstoßend. Es spricht Bände, dass ich mich bewusst dagegen entschied, eines ihrer Bücher zu lesen. Ich muss nicht Zeugin werden, wie sich Robert Shapiro als missverstandener Edelmann porträtiert, dem übel mitgespielt wurde. Nein, danke, ich könnte auch einfach verschimmelte Lebensmittel herunterwürgen, wenn ich Brechreiz verspüren möchte.

 

Obwohl ich sie alle für egozentrische Verbrecher in teuren Anzügen halte, erkämpfte sich Johnnie Cochran einen speziellen Platz im Zentrum meiner Abneigung. Ich hatte nie das Gefühl, dass sein Einsatz für die afroamerikanische Bevölkerung aufrichtig war. Vielleicht schätze ich ihn falsch ein, aber das Credo „Der Zweck heiligt die Mittel“, das er im Simpson-Prozess verfolgte, lässt mich an seinen Motiven zweifeln. Der Kampf um Gerechtigkeit darf niemals zugunsten des Unrechts geführt werden. Hätte Johnnie Cochran wirklich daran gelegen, die Situation für Afroamerikaner_innen zu verbessern, hätte er dann in Kauf genommen, dass ein Mörder davonkommt? Ich glaube, er sah im Prozess gegen O.J. Simpson eine profitable Einnahmequelle und eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, das Rampenlicht zu beanspruchen. Eine weitere Schlacht in seinem heiligen Krieg gegen Rassismus und Willkür in den Rängen der Polizei. Ich vermute, dass sein Kampf eher gegen die Polizei als für die schwarze Bevölkerung ausgerichtet war. Er instrumentalisierte den Fall auf Kosten der Familien der Opfer – für einen Mann, der sich niemals um seine afroamerikanischen Wurzeln scherte. Cochran wird gewusst haben, dass Simpson sich nicht als schwarz identifizierte und ich denke auch, dass Cochran wusste, dass sein Mandant schuldig ist. Er glaubte ebenso wenig an eine Verschwörung des L.A.P.D. wie die Anklage. Den Fokus des Falls trotz dessen auf das Thema Rassismus zu lenken, war zutiefst unmoralisch, womit er sich allerdings in bester Gesellschaft befand.

 

Angeblich soll sich Simpson anfangs höchstpersönlich gegen das Ausspielen der „Rassenkarte“ gestellt haben. Das Zitat „Ich bin nicht schwarz, ich bin O.J.“ tauchte sowohl in „American Crime Story“ als auch in „The Run of His Life“ auf und – ich kann es nicht anders sagen – es passt zu O.J. Simpson. Letztendlich ließ er sich dennoch davon überzeugen, diese Strategie zu verfolgen, weil sie erfolgsversprechend war, aber es handelte sich dabei um wenig mehr als eine clevere Farce. Sein Image hatte für O.J. Simpson stets oberste Priorität. Auch er nutzte den Prozess zur Selbstdarstellung. Weder interessierte er sich tatsächlich für die Zukunft seiner Kinder, die er immer nur dann vorschob, wenn er Mitleid erregen wollte, noch verschwendete er jemals einen Gedanken an Nicole, Ron oder ihre Familien. Ich halte ihn für einen ganz und gar widerlichen Menschen. Er ist ein narzisstischer Frauenschläger, ungebildet, prahlerisch und wehleidig. O.J. Simpsons Existenz dreht sich ausschließlich um O.J. Simpson. Es will mir nicht in den Kopf, wie man so werden kann. Ein Psychotherapeut hätte vermutlich seine wahre Freude an ihm. Ich kann mir vorstellen, dass er über einige psychische Dysfunktionen verfügt. Er erweckt in mir eine so starke Antipathie, dass ich ihm den tiefen sozialen Fall, den er nach seinem Freispruch erlebte, von Herzen gönne. O.J. Simpson wanderte nämlich doch noch ins Gefängnis. Nicht für die Morde an Nicole und Ron, sondern für einen bewaffneten Raubüberfall, den er am 13. September 2007 in Las Vegas verübte. Er saß fast neun Jahre und wurde erst letztes Jahr, im Oktober 2017, auf Bewährung entlassen. Zwar bringt diese Strafe Nicole und Ron nicht zurück und ist lediglich ein trauriger Ersatz für die Gerechtigkeit, die sie verdient hätten, aber es verschafft mir eine bösartige Genugtuung, dass ihn sein (vergangener) Ruhm und seine Hautfarbe dieses Mal nicht retten konnten. Keine Lügen mehr, keine Ausreden, gehe nicht über Los. Tragen Sie die Konsequenzen ihrer Taten, Mr. Simpson.

 

Mit „The Run of His Life“ konnte ich meine Mission, mein Wissen zum Fall O.J. Simpson zu erweitern, definitiv erfüllen. Die erste Staffel von „American Crime Story“ bewegte sich zwar sehr dicht an Jeffrey Toobins Buch, musste jedoch selbstverständlich vieles deutlich kürzen. Ich bin froh, dass mich meine Neugier dazu trieb, die vielen Details und Feinheiten, die diesen Prozess bestimmten, zu ermitteln und mein Verständnis dessen, wie dieser gewaltige Justizirrtum möglich war, zu vertiefen. Toobin hat sich selbst übertroffen und mit seinen exorbitanten Recherchen ein wichtiges Zeugnis unserer Zeit erschaffen. So unwahrscheinlich es mir auch erscheint, solltet ihr jemals das Bedürfnis verspüren, euch selbst mit dem Fall O.J. Simpson zu beschäftigen, kann ich euch diese detaillierte, zuverlässige und spannend geschriebene Dokumentation nur ans Herzen legen.


Wir haben das Fundament errichtet. Morgen wird es hier die nächste Rezension zum Thema „O.J. Simpson“ geben, die das zweifellos umstrittenste Buch aus meiner Auswahl bespricht: „If I Did It“, das Simpson mithilfe eines Ghostwriters nach dem Prozess schrieb. Wie der Titel bereits vermuten lässt, handelt es sich dabei um ein hypothetisches Geständnis, in dem Simpson beschreibt, wie die Morde an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman geschehen wären, hätte er sie begangen. Das Buch ist untrennbar mit dem Zivilprozess der Familien der Opfer gegen Simpson verknüpft, das heißt, hierzu werde ich erneut einige Hintergrundinformationen bereitstellen. Schaut vorbei, wenn ihr erfahren wollt, was es mit diesem fragwürdigen Buch auf sich hat und wie O.J. Simpson die Tatnacht erinnert – natürlich rein hypothetisch.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/09/25/jeffrey-toobin-the-run-of-his-life-the-people-v-o-j-simpson
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review 2017-11-15 11:04
Ein Held mit Brüsten
Bloody Bones - Laurell K. Hamilton

In Großbritannien und den USA weckt der Titel des fünften „Anita Blake“-Bandes, „Bloody Bones“, vermutlich ganz bestimmte Assoziationen. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass deutsche Leser_innen hingegen keine Ahnung haben, welche Anspielung sich darin versteckt. Im englischsprachigen Raum ist Bloody Bones als Kinderschreck bekannt, der nahe Gewässern lebt und unartige Kinder ertränkt. Die Legende variiert natürlich. Alternativ lebt das Monster in einem Schrank unter der Treppe; in neueren Versionen treibt es in Abflussrohren sein Unwesen. Obwohl ich das Buch schon einmal auf Deutsch gelesen habe, erinnerte ich mich nicht an diese Sagengestalt. Insgesamt war meine Erinnerung an Band 5 vollkommen verschwunden, sodass ich „Bloody Bones“ gänzlich unbelastet beginnen konnte.

 

Jeder andere Animator hätte den Auftrag, einen ganzen Friedhof voller 200 Jahre alten Leichen zu erwecken, um einen Streit über die Besitzverhältnisse des Landes beizulegen, ablehnen müssen. Doch Anita Blake ist nicht wie ihre Kolleg_innen. Ist das Opfer mächtig genug, könnte sie es schaffen. Sie ist neugierig; will wissen, ob sie den Auftrag meistern kann, ohne menschliches Blut zu vergießen. Sie sagt zu und kurz darauf sitzt sie, begleitet von Larry, bereits in einem Helikopter, der sie nach Branson, Missouri bringen soll. Dort angekommen, bekommt sie es allerdings nicht nur mit gierigen Anwälten und der dubiosen Familie Bouvier zu tun, sondern auch mit einer rätselhaften Mordserie. Alle Opfer sind jung und nahezu blutleer. Für Anita ist der Fall klar: der Täter ist ein Vampir. Sie ahnt nicht, dass sich in den Wäldern rund um Branson noch ein ganz anderes Wesen verbirgt. Ein Wesen, das schlimmer und gefährlicher ist als ein Nest skrupelloser Vampire…

 

Vor rund zwei Jahren habe ich einen Artikel gelesen, der die Rolle der weiblichen Heldin in der Urban Fantasy aus der Gender-Perspektive heraus analysiert. Die These lautete, dass die Entscheidungen der Heldin festlegen, ob sie sich wahrhaft als Heldin mit weiblichem Gender qualifiziert oder ob sie eher als „Held mit Brüsten“ kategorisiert werden muss. Anita Blake ist ein Held mit Brüsten, das schlussfolgerte der Artikel einwandfrei und „Bloody Bones“ belegt diesen Ansatz zweifellos. Im fünften Band benimmt sich Anita äußerst maskulin, ist unfähig, Verantwortung abzugeben, Vertrauen zu schenken und zeigt extremes, teilweise aggressives Konkurrenzverhalten. Sie ging mir auf die Nerven, weil ihre Tendenzen zum obsessiven Kontrollfreak stark zu Tage treten. Sie muss alles selbst machen, kann nichts delegieren und reagiert wütend, stößt sie an Grenzen. Den armen Larry würde sie, wenn sie könnte, sogar auf die Toilette begleiten, da sie ihm nicht zutraut, sich selbst zu schützen. Selbstverständlich verfügt Larry weder über ihr Wissen, noch über ihre Erfahrung, aber sie ist nicht seine Mutter und hat kein Recht, ihn wie ein Kind zu behandeln und ihm Vorschriften zu machen, so sehr sie sich auch um seine Sicherheit sorgen mag. Er ist ein erwachsener Mann, verflixt noch mal. Durch ihr Verhalten stellt sie seine Kompetenz, seine Fähigkeiten und seine Autorität in Frage, was insofern paradox ist, dass sie selbst es nicht erträgt, wird mit ihr ebenso umgesprungen. In Branson, Missouri ist Anita kaum mehr als eine Zivilistin. Sie möchte der Polizei bei den Ermittlungen in der Mordserie helfen, hat jedoch keinerlei Handhabe, als ihr Ablehnung entgegenschlägt. Außerhalb von St. Louis besitzt sie keinen offiziellen Status, was sie verständlicherweise als frustrierend empfindet. Auf diese Weise unterstreicht Laurell K. Hamilton elegant die Notwendigkeit eines potentiellen Gesetzes, das Vampirhenkern die Befugnisse der Bundespolizei verleihen würde. Noch wird dieses Gesetz allerdings lediglich diskutiert, weshalb Anita in „Bloody Bones“ ordentlich tricksen muss, um in die Ermittlung involviert zu werden. Ich fand den Fall verworren und unübersichtlich, da wieder einmal mehrere Antagonisten vorgestellt werden und ich nur mit Mühe auseinanderhalten konnte, wer sich jetzt welcher Missetaten schuldig machte. Das unausweichliche Vampirchaos überstrahlt sowohl die Ausgangssituation der Erweckung eines ganzen Friedhofs, als auch die Etablierung einer neuen Spezies, die dadurch beiläufig und enttäuschend unspektakulär daherkam. Es wirkte, als hätte Hamilton während des Schreibprozesses den Fokus der Geschichte verschoben, damit die Vampire und somit auch Anitas Verbindung zu Jean-Claude erneut im Mittelpunkt stehen, was meiner Ansicht nach unnötig war. Ich sehe zwar ein, dass die Veränderung der Beziehung zwischen Anita und Jean-Claude für die übergreifende Handlung bedeutsam ist, doch meiner Meinung nach hätte sie dieses Element nicht zwangsläufig in „Bloody Bones“ hineinquetschen müssen. Es hätte Zeit gehabt. Ich hätte eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Erweckungsszenario und der damit einhergehenden Eingliederung besagter neuer Spezies definitiv bevorzugt.

 

Ich hatte leider nur mäßig Spaß an der Lektüre des fünften „Anita Blake“ – Bandes „Bloody Bones“. Einerseits fand ich das unglücklich wirre Handlungskonstrukt langatmig und gestreckt, andererseits manifestieren sich Anitas negative Eigenschaften so dominant, dass sich die Distanz zwischen uns, die sich bereits im letzten Band „The Lunatic Cafe“ aufzubauen begann, weiter vertiefte. Ich gebe es ungern zu, aber Anita ist in „Bloody Bones“ keine Sympathieträgerin – sie ist eine nervige, kontrollsüchtige, waffenschwingende Irre. Zum Glück weiß ich, dass diese Facetten lediglich einen Aspekt ihrer Persönlichkeit darstellen und bessere Zeiten nahen. Diese werden mich daran erinnern, warum ich sie trotz oder gerade aufgrund ihrer Fehler gernhabe, weshalb ich nicht einmal ansatzweise darüber nachdenke, die Reihe abzubrechen. Einfach durchhalten und diesen durchschnittlich überzeugenden Band erneut vergessen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/11/15/laurell-k-hamilton-bloody-bones
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