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review 2019-11-13 10:41
Ziehen Sie nach Stepford - vergessen Sie Feminismus!
The Stepford Wives - Ira Levin

„The Stepford Wives“ von Ira Levin erschien 1972. Damit fiel die Veröffentlichung zufällig (?) in das Jahr, in dem das Equal Rights Amendment vom US-Senat angenommen wurde. Dieser Verfassungszusatz sollte die Gleichstellung der Geschlechter in den USA vorantreiben und Frauen weitreichende Rechte zusichern, stieß in den Bundesstaaten jedoch auf erbitterten Widerstand. Gegner_innen des ERA beriefen sich auf traditionelle Geschlechterrollen, prophezeiten, dass Frauen zum Militärdienst gezwungen und schützende Gesetze, die zum Beispiel Unterhaltsansprüche regelten, null und nichtig würden. Phyllis Schlafly, eine der Schlüsselfiguren der Oppositionsbewegung, behauptete, der Zusatz sei lediglich ein Vorteil für junge Karrierefrauen, der die Sicherheit von Hausfrauen im mittleren Alter, die keinen Beruf erlernt hatten, hingegen bedrohte. In diesem Kontext war „The Stepford Wives“ beinahe prophetisch, denn darin geht es um eben jene Hausfrauen, die Schlafly gefährdet sah.

 

Als Joanna und Walter Eberhart mit ihren Kindern nach Stepford zogen, hofften sie, ein neues Leben fernab vom Trubel der großen Stadt beginnen zu können. Stepford ist ein malerisches Idyll ruhiger Straßen und freundlicher Nachbarn, ein Paradies des gehobenen Mittelstandes. Doch während sich die Kinder schnell einleben und Walter Anschluss in der exklusiven Men’s Association findet, wird Joanna das Gefühl nicht los, dass sich hinter der lächelnden Fassade des Örtchens ein schmutziges Geheimnis verbirgt. Es sind die Frauen. Sie sind nett und höflich, aber sie scheinen neben der obsessiven Erfüllung ihrer Haushaltspflichten keine Interessen zu haben. Sie sind zu perfekt. Irgendetwas stimmt nicht in Stepford und Joanna muss herausfinden, was vor sich geht – bevor es zu spät ist.

 

„The Stepford Wives“ ist ein feines Kleinod feministischer Literatur, das vermutlich viel zu oft übersehen, vergessen oder missverstanden wird. Es ist ein knackiger, pointierter Klassiker der Science-Fiction, der vollkommen auf das Wesentliche destilliert ist und demzufolge darauf schließen lässt, dass Ira Levin unglaublich selbstkritisch gewesen sein muss. Ich bestaune die Ökonomie dieses Buches, das sicher zahllose Überarbeitungen durchlief, um kein einziges überflüssiges Wort zu enthalten. Jede Szene ist bewusst integriert, schmückendes Beiwerk sucht man vergeblich. Dennoch liest es sich leicht, flüssig und keineswegs konstruiert, weshalb man beinahe Gefahr läuft, es als belanglos abzustempeln. Beinahe. Denn oh, hinter Levins präzisem Schreibstil verbirgt sich eine beklemmende Geschichte, die lupenreine feministische Kritik an den traditionellen Genderrollen übt. Die Protagonistin Joanna Eberhart ist eine ganz normale Hausfrau und Mutter. Sie führt eine glückliche Ehe, pflegt ein paar Hobbys und erfüllt ihre Pflichten zuverlässig. Doch kaum, dass sie mit ihrer Familie in der US-amerikanischen Vorstadtidylle Stepfords angekommen ist, muss sie feststellen, dass sie ungenügend ist. Ihre überdurchschnittlich attraktiven Nachbarinnen leben ein Maß an Perfektion vor, mit dem sie nicht konkurrieren kann: sie absolvieren Haushaltsaufgaben mit unmenschlicher, pedantischer Disziplin und zeigen keinerlei Interesse an sozialen Kontakten oder einer individuellen Freizeitgestaltung, wodurch sich bei Joanna und den Leser_innen schnell das Bewusstsein einschleicht, dass es in Stepford nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Diese Ahnung entwickelt sich bald zur Gewissheit; Levin verband geschickt diskrete Hinweise und drastische Vorkommnisse, um seine Leserschaft zu befähigen, eigene Schlüsse zu ziehen und zu erkennen, dass Joanna in Gefahr schwebt. Das leise Ticken einer Uhr, eines Countdowns für die Protagonistin begleitet die Geschichte von „The Stepford Wives“ unaufdringlich, sodass beispielsweise die subtile, graduelle Verschiebung in Joannas Beziehung zu ihrem Ehemann Walter zuerst gar nicht auffällt. Langsam verbringt er immer mehr Zeit in der nebulösen „Men’s Association“ und strahlt zunehmend eine vage Unzufriedenheit aus, die er niemals konkret benennt. Wieder ist es den Leser_innen überlassen, sich den Einfluss dieses „Männer-Clubs“ auszumalen. Spannung entsteht in „The Stepford Wives“ durch die eigene Fantasie, durch Andeutungen und Vermutungen, nicht durch klare Aussagen des Autors. Dennoch lässt Levins Inszenierung keine Zweifel daran aufkommen, dass alle verdächtigen Anhaltspunkte in der „Men’s Association“ zusammenlaufen. Ohne den Fokus von den unnatürlich agierenden Hausfrauen abzulenken, offenbarte er auf diese Weise unmissverständlich, wer das wahre Ziel seiner überspitzten Satire ist: ihre Ehemänner. Die Idee einer Stadt voller perfekter Gattinnen, die überholten, sexistischen und stereotypen Männerfantasien entsprechen, ist wohl kaum einem weiblichen Hirn entsprungen.

 

1972 griff „The Stepford Wives“ den Zeitgeist auf. Ob Ira Levin ahnte, dass sein Roman bis heute relevant sein würde, bleibt Spekulation. Das Buch wird niemals an Aktualität einbüßen, solange traditionelle Genderrollen verteidigt und unterstützt werden. Es ist brillant. Levin erzielte mit minimalen Mitteln maximale Wirkung, weil er Implikationen konkreten Erklärungen vorzog. Indem er die Handlung absichtlich auf blinden Flecken und wohlplatzierten Anspielungen aufbaute, erhöhte er das unheimliche Potential seiner Geschichte. Diese akkurate, kontrollierte Konstruktion erforderte Disziplin und ein exaktes Gespür für subtile Manipulationen, aber auch den Mut, sich auf die Vorstellungskraft der Leser_innen zu verlassen. Dafür bewundere ich Levin zutiefst. Schade ist lediglich, dass „The Stepford Wives“ bei Verfechter_innen klassischer Geschlechterrollen vermutlich nicht auf fruchtbaren Boden fallen wird. Nur, wer Emanzipation offen gegenübersteht, wird erkennen, dass Stepford kein Paradies ist, sondern ein Albtraum.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/11/13/ira-levin-the-stepford-wives
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review 2019-04-17 10:11
Wie, ihr mochtet es nicht? O.O
A Crown for Cold Silver - Alex Marshall

Ich bin ein bisschen irritiert, dass so viele Rezensent_innen von „A Crown for Cold Silver“ davon sprechen, dass der Autor unbekannt sei, weil Alex Marshall ein Pseudonym ist. Es ist zwar korrekt, dass Alex Marshall nicht der wahre Name des Schriftstellers ist, aber es handelt sich um ein weiches Pseudonym. Es ist kein Geheimnis, wer sich dahinter verbirgt: Jesse Bullington. Bevor er die Low Fantasy – Trilogie „The Crimson Empire“ schrieb, veröffentlichte Bullington drei übernatürliche historische Romane. Es ist nicht ungewöhnlich, anlässlich eines Genrewechsels ein Pseudonym zu implementieren. Rätselraten ist also nicht nötig. Alias oder nicht, für mich war der Autor ohnehin nicht ausschlaggebend, als ich entschied, „A Crown for Cold Silver“ zu kaufen. Es war das Rachemotiv.

 

Alt werden stinkt. Von der Frau, die Zosia einst war, ist nicht mehr viel übrig. Fort ist ihre Jugend, dahin ihr kobaltblaues Haar, das ihr den Namen verlieh, unter dem sie jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Stern kannte. Aber an der Seite ihres Ehemannes Leib war all das in Ordnung. Mit Leib konnte sie ihre düstere Vergangenheit hinter sich lassen – die Rebellion, die Kobalt-Kompanie, ihre Fünf Schurken, sogar die Krone. Sie inszenierte ihren Tod und verschwand in die Anonymität eines kleinen Bergdorfes am Rande des Karmesinroten Königreichs. 20 Jahre ist das nun her. Sie glaubte, Leib und sie wären sicher. Ein furchtbarer Irrtum. Eines Morgens reitet eine Kavallerieeinheit in ihr Dorf und metzelt die gesamte Bevölkerung nieder. Zosia kann als einzige entkommen. Sieht aus, als wäre sie doch noch nicht so ganz vergessen. Fest entschlossen, herauszufinden, wer ihr ans Leder will und für das Massaker verantwortlich ist, sinnt Zosia auf Rache. Es wird Zeit, dass Cold Cobalt von den Toten aufersteht.

 

Abgesehen von der Ratlosigkeit bezüglich der wahren Identität des Autors Alex Marshall irritierten mich die Rezensionen zu „A Crown for Cold Silver“ aus einem weiteren Grund: der Trilogieauftakt kam bei anderen Leser_innen weniger gut an, als ich erwartet hatte. Ich mochte das Buch sehr und war völlig von den Socken, als ich herausfand, dass ich die Geschichte und besonders die Charaktere komplett anders wahrgenommen hatte. Ich verstehe gar nicht, wie es möglich ist, dass unsere Meinungen so weit auseinandergehen. Ich kann ihnen lediglich darin zustimmen, dass sich „A Crown for Cold Silver“ zieht. Ja, es ist langatmig und erfordert Geduld, aber da es sich um den Beginn eines Dreiteilers handelt, kann ich Alex Marshall das gemächliche Tempo verzeihen. Dadurch erhielt ich viel Zeit, um eine Bindung zu den zahlreichen Figuren aufzubauen, was mir im Gegensatz zu anderen Rezensent_innen mühelos gelang. Ich fand sie glaubhaft, faszinierend und liebenswürdig, von den prominenten Akteuren bis zum letzten Statisten. Die zentrale Antiheldin Zosia eroberte mein Herz im Sturm. Ich verfiel ihrem spröden Charme im Handumdrehen und konnte mir problemlos vorstellen, dass diese eindrucksvolle Frau 20 Jahre zuvor eine Revolutionsarmee anführte. Es gefiel mir, dass so viele Figuren nicht mehr jung sind, weil ich mich an der latenten Altersdiskriminierung in der Fantasy störe. Ebenso freute mich, dass Alex Marshall ein beeindruckend emanzipiertes Frauenbild vermittelt. Starke weibliche Charaktere sind in „A Crown for Cold Silver“ die Regel, nicht die Ausnahme und ein Geschlechterkonflikt war für mich überhaupt nicht erkennbar. Zosia ist in den mittleren Jahren und blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Unterstützt von der Kobalt-Kompanie und ihren fünf engsten Gefährten, den Fünf Schurken, putschte sie sich auf den Thron des Karmesinroten Königreichs. Der Realität des Regierens hielten ihre Träume von einer gerechten Zukunft jedoch leider nicht stand. Enttäuscht gab sie auf, fingierte ihren eigenen Tod und lief davon. Ich fand diese Hintergrundgeschichte sehr originell, weil Revolutionen in High und Low Fantasy meist positiv konnotiert sind. Selten wird illustriert, wie schwierig der Weg zur Gerechtigkeit ist und noch seltener ist Scheitern eine reelle Option. Als Zosia nach dem Massaker ihr Dorf verlässt, muss sie feststellen, dass sich die Lage im Königreich seit ihrem „Tod“ nicht verbessert hat. Die aktuelle Königin Indsorith und die Kirche der Burnished Chain konkurrieren erbittert miteinander, worunter das einfache Volk natürlich zu leiden hat. Dieser Konflikt bildet die Basis der Trilogie. Es geht allerdings um deutlich mehr als politisches Gerangel und Zosias privaten Rachefeldzug, denn die Chain entpuppt sich als gefährlich fanatische Institution, die mit dunklen Mächten kokettiert, um eine Neuordnung der Welt zu erzwingen. Dennoch eignet sich selbstverständlich niemand besser, sie aufzuhalten, als die in die Jahre gekommene Ex-Generalin auf mörderischer Mission.

 

Es tut mir leid, dass „A Crown for Cold Silver” einige Leser_innen nicht begeistern konnte. Ich verstehe ihre Kritik, kann mich dieser aber nur begrenzt anschließen. Ich fand den Trilogieauftakt toll. Die Geschichte hat es in sich, nichts ist, wie es scheint und alle Figuren verfolgen eigene Ziele und Pläne, was ich als äußerst spannend empfand. Außerdem ist das Buch einfach witzig. Alex Marshall beweist einen beiläufigen, subtilen Sinn für Humor, der immer wieder hervorblitzt, ohne die Ernsthaftigkeit der Handlung zu untergraben oder sie ins Lächerliche zu ziehen. Low Fantasy muss nicht zwangsläufig grimmig oder düster sein, sie darf die Leser_innen durchaus zum Lachen bringen. Mir hat die Lektüre deshalb viel Spaß bereitet und ich freue mich auf die Folgebände. Es gibt noch so viel, was ich wissen möchte! Warum gründete Zosia einst die Kobalt-Kompanie? Wie lernte sie ihre Fünf Schurken kennen? Wie genau soll die neue Weltordnung der Burnished Chain aussehen? Ich fand „A Crown for Cold Silver“ wirklich vielversprechend – schade, dass es nicht allen anderen Leser_innen ebenso erging.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/04/17/alex-marshall-a-crown-for-cold-silver
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review 2018-12-12 10:04
Ein manischer Wirbel aus Schuld, Reue und Scham
Allerliebste Schwester - Wiebke Lorenz

Mit ihrer Schwester Frauke Scheunemann verbindet die Autorin Wiebke Lorenz eine sehr innige Beziehung. Die Schwestern wurden im Rheinland geboren und zogen 1996 gemeinsam in ein altes Pfarrhaus in Hamburg. Seit 2006 teilen sie eine berufliche Laufbahn; damals erschien ihr erster Roman „Glückskekse“ unter dem Sammelpseudonym Anne Hertz. Während die Schwestern professionell durchstarteten, mussten sie privat harsche Rückschläge wegstecken. Scheunemann bekam vier Kinder – Lorenz durchlitt vier Fehlgeburten und konnte das Familienglück unter ihrem Dach bald nicht mehr ertragen. 2009 ließ sie sich in die Psychiatrie einweisen, weil sie Gewaltfantasien quälten. Die Diagnose lautete Zwangsstörung. Sie ließ sich behandeln und krempelte ihr Leben um, trennte sich von ihrem Mann und zog aus dem Pfarrhaus in eine WG. Dort begann sie, den Thriller „Allerliebste Schwester“ zu schreiben. Dieses Ventil half ihr, sich mit ihrer Schwester auszusöhnen. Das Buch hat demzufolge eine bewegte Entstehungsgeschichte, die ich vielleicht besser vor Lektüre recherchiert hätte.

 

Eva liebte ihre Schwester. Ihre langweilige, brave Zwillingsschwester Marlene, die vor drei Jahren unter mysteriösen Umständen Selbstmord beging. Niemand verstand, wie Eva Marlenes Witwer Tobias heiraten und ihren Platz einnehmen konnte. Sie begriffen nicht, dass sie es ihr schuldig war. Eine Zeit lang hoffte Eva sogar, glücklich zu werden. Die Schwangerschaft erfüllte sie. Doch die Todgeburt ihres Sohnes Lukas reißt alte Wunden auf. Die Erinnerung an Marlene ist präsenter denn je. Immer häufiger erscheint sie Eva in ihren Tagträumen. Sie fürchtet, den Verstand zu verlieren. Langsam schleichen sich Zweifel in ihr Herz. Tötete sich Marlene wirklich selbst? Oder ist die Wahrheit viel schrecklicher? Ist Eva für den Tod ihrer Zwillingsschwester verantwortlich?

 

Es ist nie gut, ein Buch mit einem Stirnrunzeln zu beginnen. Falls ihr Schwierigkeiten habt, euch vorzustellen, dass eine Frau aus Schuldgefühlen heraus den Ehemann ihrer verstorbenen Zwillingsschwester heiratet, in ihr Haus zieht und mit besagtem Ehemann, ihrem ehemaligen Schwager, ein Kind zeugt, versteht ihr wahrscheinlich, wieso ich keinen Spaß mit „Allerliebste Schwester“ von Wiebke Lorenz hatte. Auf einer abstrakten Ebene ist mir bewusst, dass Menschen in Trauer ganz erstaunliche Bewältigungsmechanismen entwickeln und Schuld, real oder eingebildet, ein starker Motivator ist. Ich respektiere Lorenz‘ persönlichen Bezug zu diesem Thema. Dennoch erschien mir das Szenario, das sie in diesem Roman darlegt, abwegig und übertrieben. Die Protagonistin Eva verschwindet im Leben ihrer toten Schwester Marlene, weil sie von Schuldgefühlen paralysiert ist und glaubt, sie müsse sich selbst zur Märtyrerin stilisieren, indem sie mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht liebt und die Lüge eines Lebens aufrechterhält, das sie niemals wollte. Es wunderte mich nicht, dass sie nach der Todgeburt ihres Sohnes nahezu implodiert. Sie ist so offensichtlich unglücklich, dass es meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit war, bis sie überschnappt. Es übersteigt mein Verständnis, wie jemand so unreflektiert sein kann. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob ihr denn nicht klar ist, was sie da treibt. In Evas Kopf manifestierte sich die Idee, Tobias und sie würden einander verdienen und müssten diese Ehe durchziehen, weil sie Marlene auf dem Gewissen haben. Es ist ihre Form der Selbstbestrafung und Tobias erfüllt in dieser verdrehten Geißelung die Rolle des Gefängniswärters. Er fühlt sich ebenfalls schuldig und klammert sich deshalb mit Gewalt an die Illusion einer glücklichen Ehe, die er einfach von Marlene auf Eva projiziert. Er ist unerträglich, übergriffig und bevormundend. Ich misstraute ihm von Anfang an und verdächtigte ihn schnell, etwas mit Marlenes angeblichem Selbstmord zu tun zu haben. Eva erschienen die rätselhaften Umstände des Suizids ihrer Schwester immer seltsam, doch erneut hinderten sie ihre Schuldgefühle daran, die Wahrheit aufzudecken. Die Lektüre von „Allerliebste Schwester“ scheiterte für mich hauptsächlich ihretwegen. Ich war permanent genervt von ihr, weil ich ihren Umgang mit ihren Gefühlen unverzeihlich schwach fand. Sie stellte sich ihnen nicht, verkroch sich lieber in der Ehe mit Tobias, lief weg und leugnete, was das Zeug hielt. Daher konnte ich nicht einmal Mitleid für sie aufbringen, denn meiner Ansicht nach manövrierte sie sich selbst in ihre Lage. All ihre negativen Emotionen verursachte sie ganz allein. Sie hätte einen gesunden Weg finden können, zu trauern – dann wäre der ganze Mist mit Tobias niemals passiert. Sie hätte sich nicht auf eine Beziehung eingelassen, die ihr jegliche Energie aussaugte, es hätte keine Notwendigkeit bestanden, sich zu befreien und ich hätte nicht Zeugin eines wirren, psychotischen Zusammenbruchs werden müssen, der in das unpassendste, fragwürdigste Happy End aller Zeiten mündete.

 

Das wahre Ich zu verleugnen, kann krank machen. Eigentlich ist das keine weltbewegende Erkenntnis, die in „Allerliebste Schwester“ jedoch in einem manischen Wirbel aus Schuld, Reue und Scham als revolutionäre Neuheit verkauft wird. Ich weiß nicht, inwieweit Wiebke Lorenz in diesem Thriller ihre persönlichen Erfahrungen verarbeitete, aber ich hoffe für sie, dass sie deutlich reflektierter ist, als sie die Protagonistin Eva porträtierte. Ich bin ratlos, warum sie mir Evas Geschichte erzählte und was sie damit in mir zu bewirken plante. „Allerliebste Schwester“ ist für mich weder Fisch noch Fleisch. Es ist kein Kriminalthriller, denn die kriminalistischen Elemente sind viel zu unbedeutend, um sie als handlungstragend zu bezeichnen. Es ist aus meiner Sicht auch kein Psychothriller, weil sich keine Diskrepanz zwischen Realität und wahnhafter Einbildung entfaltet. Ich weiß nicht, was „Allerliebste Schwester“ ist. Ein gutes Buch ist es meiner Meinung nach jedenfalls nicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/12/12/wiebke-lorenz-allerliebste-schwester
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text 2017-12-06 20:11
Zwei Geister, eine Hochzeit und ein Todesfall
The Ghost Bride: A Novel - Yangsze Choo

Yangsze Choo ist in meinem Bücherregal eine Exotin, weil sie aus Malaysia stammt. Ich besitze nicht viele Bücher asiatischer Autor_innen und als Abkömmling einer malaysischen Familie chinesischer Vorfahren in vierter Generation ist sie ein echtes Unikat. Choo lebte als Kind in vielen Ländern, graduierte in Harvard und ließ sich mit ihrem Mann und ihren Kindern in Kalifornien nieder. „The Ghost Bride“ ist ihr erster und bisher einziger Roman, den ich kaufte, weil mich neben dem Klappentext auch die Aussicht auf einen Einblick in die Kultur des kolonialen Malaysia lockte.

 

Der Glaube an das Jenseits ist in der malaysischen Kultur des späten 19. Jahrhunderts fest verankert. Die 17-jährige Li Lan ehrte die Vorfahren stets angemessen. Sie verbrannte Bestattungsopfer. Doch einen Geist zu heiraten – das geht zu weit. Obwohl das ungewöhnliche Angebot der wohlhabenden Familie Lim die gravierenden Geldsorgen ihres Vaters beenden würde, möchte Li Lan keinesfalls die Ehefrau ihres überraschend verstorbenen Sohnes Tian Ching werden. Leider akzeptieren die Lims ein Nein nicht. Li Lan wird von seltsamen Träumen heimgesucht, die die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten verwischen. Nacht für Nacht erscheint ihr Tian Ching. Sein Werben wird jedes Mal nachdrücklicher, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwacht. Plötzlich selbst ein Geist muss Li Lan im Jenseits einen Weg finden, die zerrissenen Bande zwischen ihrer Seele und ihrem Körper wiederherzustellen. Ihre einzige Chance besteht darin, die rätselhaften Umstände von Tian Chings Tod und die Geheimnisse der Familie Lim aufzudecken, bevor es zu spät ist und sie auf ewig in der Geisterwelt gefangen bleibt.

 

Stellte sich euch während des Lesens der Inhaltsangabe zufällig die Frage, inwiefern Li Lans Zustand als Geist mit der Familie Lim verknüpft ist? Dummerweise kann ich euch den Zusammenhang nicht erklären, weil es meiner Meinung nach keinen Zusammenhang gibt. „The Ghost Bride“ erzählt gefühlt zwei Geschichten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Yangsze Choo bemühte sich, Verbindungen vorzugaukeln, die nicht existieren. Bildlich gesprochen ist dieses Buch ein Weg, der sich vor einem dichten Waldstück gabelt. Ein Trampelpfad führt links am Wald vorbei, zu Li Lans unfreiwilliger Abspaltung ihrer Seele von ihrem Körper, der andere rechts, zu den Geheimnissen der Familie Lim und Tian Chings mysteriösem Tod. Statt sich für einen Pfad zu entscheiden, beschritt Choo beide. Sie wollte sowohl eine Geister- als auch eine Kriminalgeschichte schreiben, stellte sich dabei allerdings bedauernswert ungeschickt an. Es ergibt keinen Sinn, dass Li Lan im Jenseits in der schmutzigen Wäsche der Lims wühlt, weil ihr ihre schmalen Erkenntnisse überhaupt nicht helfen, sich wieder mit ihrem Körper zu verbinden. Tragischerweise hätte Choo diesen Stolperstein durch eine simple Verschiebung von Li Lans Motivation beseitigen können. Hätte Li Lan die Geisterwelt freiwillig aufgesucht, um den übergriffigen Tian Ching loszuwerden, hätte Choo beide Trampelpfade problemlos logisch miteinander verbinden und dem einen oder anderen Stirnrunzeln vorbeugen können. Leider fehlt ihr offenbar grundsätzlich das Gespür für inhaltliche Kohärenz, denn „The Ghost Bride“ fällt wiederholt durch kleinere wie größere Inkonsistenzen auf, die sich in meinem Fall negativ auf den Lesefluss auswirkten. Ich stutze immer wieder über Passagen, die nicht mit meinem bisherigen Wissensstand vereinbar waren. Beispielsweise sorgt sich Li Lan ständig um die finanzielle Situation ihres Vaters, beschließt aber später, ihn zu bitten, ihr ein Pferd zu kaufen. Entweder ist die Lage weniger prekär, als Choo darstellte oder Li Lan ist weit egoistischer, als ich sie eingeschätzt hatte. Die 17-Jährige ist keine unsympathische Protagonistin. Sie ist unscheinbar. Obwohl der kulturelle Mehrwert dieses Romans marginal ist und ich weder viel über Malaysia im 19. Jahrhundert, noch über die komplizierten lokalen Totenbräuche lernte, ist es im historischen Kontext sicherlich korrekt, dass Li Lan eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legt. Trotz dessen hätte mir ein wenig mehr Persönlichkeit geholfen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Ich behalte sie als den größten Tollpatsch der Literaturgeschichte in Erinnerung. Betritt Li Lan eine Szene, geht alles schief, was nur schiefgehen kann. Versteckt sie sich hinter einem Paravent, kann man sicher sein, dass sie diesen versehentlich mit viel Getöse umschubst. Sie ist das Gegenteil von Anmut, was mir auf Dauer ziemlich auf die Nerven ging. Ebenso anstrengend fand ich das erzwungene, wenig überzeugende Liebesdreieck und ihre zwanghafte Fixierung auf eine mögliche Hochzeit. Mir ist klar, dass malaysische Mädchen zu dieser Zeit selten höhere Ambitionen verfolgten, aber meiner Ansicht nach hat Li Lan weit drängendere Probleme als die Auswahl eines Ehemannes. Reicht es nicht, dass sie verhindern muss, die Gattin eines toten Widerlings zu werden?

 

„The Ghost Bride“ ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass ein einziges unmotiviertes Detail ein ganzes Buch ad absurdum führen kann. Die Kausalkette der Geschichte ist instabil. Diese Instabilität wirkt sich auf alle folgenden Ereignisse aus, sodass das gesamte Konstrukt krängt und schlingert. Ich möchte nicht behaupten, dass „The Ghost Bride“ ein guter Roman geworden wäre, hätte Yangsze Choo ihre Protagonistin die Geisterwelt freiwillig besuchen lassen, aber alle weiteren Mängel wären definitiv weniger ins Gewicht gefallen. Außerdem ist es einfach schade, dass sie die Chance versäumte, ihren Leser_innen die faszinierende Kultur ihrer malaysischen Vorfahren näherzubringen. Ich fand die Lektüre enttäuschend und meist stinklangweilig, weil das Buch neben Li Lans Drama kaum Substanz aufweist, trotz des erkennbaren Potentials. Man kann nur hoffen, dass sie nie auf die Idee kommt, eine unnötige Fortsetzung zu schreiben.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/12/06/yangsze-choo-the-ghost-bride
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review 2017-12-05 09:15
Ein Autor, der Worten Taten folgen ließ
Tausend strahlende Sonnen - Michael Windgassen,Khaled Hosseini

Khaled Hosseini wurde 1965 in Kabul als Sohn eines Diplomaten geboren und wuchs als Asylant in Kalifornien auf, da seine Familie nach einigen Jahren in Paris aufgrund der politischen Lage nicht nach Afghanistan zurückkehren konnte. 2001 begann er, „Drachenläufer“ zu schreiben, das 2003 veröffentlicht wurde und die weltweiten Bestsellerlisten im Sturm eroberte. 2007 folgte sein ebenso erfolgreiches zweites Werk „Tausend Strahlende Sonnen“. Hosseini schreibt über die Menschen Afghanistans, öffnet den Blick der Welt für ihr unfassbares Leid. Seine Stiftung The Khaled Hosseini Foundation unterstützt afghanische Frauen, Kinder und Flüchtlinge mit Bildung und Wohnungsbau. Kaum zu glauben, dass ich „Tausend Strahlende Sonnen“ auf der Straße fand.

 

Mariams Welt zerbricht 1974, als sie 15 wird. Gezwungen, den 30 Jahre älteren Raschid zu heiraten und in die afghanische Hauptstadt Kabul umzuziehen, beginnt für sie ein Leben voller Leid und Schmerz. Raschid betrachtet sie als sein Eigentum. Er schlägt sie, demütigt sie bei jeder Gelegenheit. Die Zeit vergeht für Mariam hinter dem Schleier einer Burka, ungesehen und stumm. Die politischen Erschütterungen in Afghanistan – blutige, furchtbare Kriege – haben wenig Einfluss auf ihre persönliche Hölle. Erst nach 18 Jahren einer lieblosen, gewalttätigen Ehe tritt Laila in ihr Leben. Lailas gesamte Familie wurde bei einem Bombenanschlag ausgelöscht. Sie hat keine andere Wahl, als Raschids Ehefrau zu werden. Anfangs betrachtet Mariam Laila als unerwünschten Eindringling. Doch schon bald erkennt sie, dass das junge Mädchen ebenso eine Gefangene ist wie sie. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Gemeinsam trotzen sie allen Grausamkeiten, die ihnen ihr Ehemann und der Krieg entgegenschleudern.

 

Ich kann nicht verstehen, wie jemand ein wundervolles Buch wie „Tausend Strahlende Sonnen“ auf der Straße aussetzen konnte. Hat dieser Mensch denn kein Herz? Ich bin sehr froh, dass ich Khaled Hosseinis zweiten Roman retten und ihm ein neues Zuhause geben konnte, weil mich die Lektüre wirklich berührte. Das Buch ist ein feinfühliges, ehrliches, liebevolles Portrait eines kriegsversehrten Landes und seines Volkes. In Afghanistan herrscht seit 40 Jahren Krieg. 40 Jahre. Europäer_innen können sich vermutlich gar nicht vorstellen, was das bedeutet. Ich kann es nicht. Aber dank Khaled Hosseini, der sich überzeugend in seine weiblichen Protagonistinnen hineinversetzt, sie glaubwürdig charakterisiert und Mariams und Lailas Schicksal fest mit der Geschichte des Landes verschweißt, habe ich zumindest eine Ahnung davon, wie sehr die Bevölkerung seit Jahrzehnten leidet, speziell Frauen und Kinder. Teile der politischen Historie Afghanistans waren mir bereits bekannt; ich wusste von der sowjetischen Besatzung und den Bemühungen, den Kommunismus zu etablieren. Ich wusste jedoch nicht, dass mit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 erst recht Chaos ausbrach. Rivalisierende Mudschaheddin-Gruppen bekämpften sich bis aufs Blut, natürlich auf dem Rücken des Volkes. Die Situation wurde so schlimm, dass die Taliban, die Kabul 1996 eroberten, als größte Hoffnung auf Frieden verstanden wurden. Es ist traurig, wie schnell sich diese Hoffnung ins Gegenteil verkehrte. Die radikal-islamischen Taliban erließen Gesetze, die jegliche Kreativität unterdrückten, strenge religiöse Vorschriften diktierten und die Rechte der Frauen massiv beschnitten. Hosseini zeigt diese hässliche Seite des Islams, die aus westlicher Sicht oft paradox, ungerecht und schlicht grausam ist, authentisch und eindringlich. Es ist schwer zu begreifen, wie viel Elend Mariam und Laila aushalten, ohne zu zerbrechen. Weder ihr Ehemann, noch die Mudschaheddin, noch die Taliban vermögen, ihre Stärke, die sich aus ihrer kostbaren, tiefen Beziehung zueinander nährt, zu verkümmern. Bevor sie sich kennenlernen, werden beide Frauen ausführlich vorgestellt, sodass die Leser_innen nachvollziehen können, dass sie sich aufgrund ihrer Unterschiede ergänzen. Mariam, die ältere der beiden, wurde als uneheliches Kind geboren. Ihr wurde stets vermittelt, wertlos zu sein, weshalb sie sich zu einer stillen, introvertierten und unsicheren Frau entwickelte. Es erschütterte mich, dass sie trotz all der Jahre unter Raschids Misshandlungen, der den Albtraum eines muslimischen Ehemanns verkörpert, keinen Funken Bitterkeit in sich trägt. Ihre sanfte Persönlichkeit steht in krassem Kontrast zu Lailas mutigem Selbstbewusstsein, die aus einem liebenden, progressiven Elternhaus stammt und fortwährend gefördert wurde. Sie besitzt ein Feuer, das nicht einmal Raschid ersticken kann. Ich fand es nicht überraschend, dass Laila am Ende des Buches eine von einer Million Afghanen ist, die 2003 den Wiederaufbau ihrer Heimat vorantrieben. Es brach mir das Herz, zu wissen, dass all das Leid und die Gewalt bis heute kein Ende gefunden haben.

 

„Tausend Strahlende Sonnen“ ist ein ergreifendes, bestürzendes Buch, das die tiefe Liebe des Autors Khaled Hosseini zu seinem Geburtsland intensiv abbildet. Tragischerweise ist die fiktive Geschichte von Mariam und Laila vermutlich kein außergewöhnliches Schicksal. Zwangsehen, brutale häusliche Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen sind noch immer Realität in Afghanistan. Umso wichtiger ist es, dass sich Menschen wie Khaled Hosseini für Aufklärung und humanitäre Hilfe einsetzen. Es ist bewundernswert, dass er seinen Worten Taten folgen ließ und seine Stiftung gründete. Tatsächlich beeindruckt mich seine Konsequenz sogar ein wenig mehr als „Tausend Strahlende Sonnen“, dem meinem Empfinden nach das gewisse Etwas zu einer 5-Sterne-Bewertung fehlt. Es ist zweifellos aufwühlend, doch es brachte mich widererwartend nicht zum Weinen. Trotz dessen kann ich euch das Buch wärmstens empfehlen. Das Leid des afghanischen Volkes muss gehört und gesehen werden.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/12/05/khaled-hosseini-tausend-strahlende-sonnen
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