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review 2018-09-18 10:21
Wie viel Sympathie ist erlaubt?
Der goldene Handschuh - Heinz Strunk

„Der goldene Handschuh“ ist ein Tatsachenroman des Autors Heinz Strunk, der den Serienmörder Fritz Honka in den Mittelpunkt stellt. Honka war in den 1970er Jahren in Hamburg aktiv und ermordete mindestens vier Frauen, deren Leichen durch Zufall entdeckt wurden. Seine Opfer waren gescheiterte Existenzen ohne soziales Netz, weshalb niemand sie als vermisst meldete. Honka gabelte sie in den übelsten Kneipen im Bezirk St. Pauli auf, darunter auch das Lokal „Zum goldenen Handschuh“. Er wurde im Juli 1975 verhaftet und im Dezember 1976 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Das Gericht ordnete eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik aufgrund verminderter Schuldfähigkeit an. Er starb 1998. Zu Recherchezwecken erhielt Strunk Einsicht in Honkas Prozessakten, die bis dahin verschlossen im Hamburger Staatsarchiv lagerten. Der daraus entstandene Roman ist eine von Kritikern gelobte Milieustudie, die mir von einem Kollegen empfohlen und ausgeborgt wurde.

 

Fritz Honka ist ein Frauenmörder. Innerlich verkommen und äußerlich entstellt, findet er seine Opfer am untersten Bodensatz der Gesellschaft. Er ist ein Verlierer, der von einem besseren Leben träumt und seinen verstörenden Fantasien nicht entkommen kann. Er weiß, er ist ein Säufer, ein bedauernswerter Tropf, eine Niete. Doch Frauen lassen sich selbst für einen wie ihn auftreiben. Die Verlorenen. Die Verzweifelten. Diejenigen, die längst nicht mehr auf bessere Tage hoffen. In der Hamburger Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ geht Honka auf die Jagd. Dort kreuzen sich die Wege aller sozialen Klassen. Arm und Reich trinken Schulter an Schulter, Jung und Alt begegnen sich in den ranzigen Schatten der schäbigen Kaschemme. Im „Handschuh“ ist das Elend zu Hause. Und es ist kein Privileg der Unterschicht.

 

„Der goldene Handschuh“ ist ein literarisches Experiment, dessen zweifelhafter Reiz meiner Meinung nach in der starken, unerwarteten Bindung an den tragischen, grenzwertigen Protagonisten liegt. Heinz Strunk porträtiert Fritz Honka, genannt Fiete, als ganz und gar abstoßenden Mann mit widerlichen Neigungen und Fantasien, der von Beginn an zu Grausamkeiten gegenüber Frauen tendiert. Er ist Alkoholiker und ein Sozialversager, wie er im Buche steht. Sein Umfeld ist ebenso degeneriert wie er selbst, seine Stammkneipe „Zum goldenen Handschuh“ ein Moloch menschlichen Elends und Scheiterns. Der Vorhof zur Hölle. Dort ist mal jemand auf einem Barhocker gestorben und niemand hat es gemerkt. So weit, so scheußlich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie entsetzt ich war, als ich beobachtete, dass Fritz Honka an meinem Herzen zupfte. Ich hatte Mitleid mit ihm! Heinz Strunk nötigte mir Mitgefühl für einen brutalen, ekelhaften Frauenmörder auf! Ich musste feststellen, dass mich die Charakterisierung seines Protagonisten als jämmerliches Würstchen keineswegs kaltließ. Schriftstellerisch ist das ein beeindruckender Geniestreich. Ich drückte Honka während seines Versuchs, vom Alkohol loszukommen, die Daumen und als das nicht funktionierte, erwischte ich mich dabei, auf irgendein Erfolgserlebnis für ihn zu hoffen, sei es nun eine heiße Nacht mit der Putzfrau seiner Arbeitsstelle oder die Verwirklichung seiner abartigen Fantasie von zwei Frauen. Ich wünschte ihm Glück, ich wünschte ihm Befriedigung, obwohl er es nicht verdiente. Ich erforschte meine Emotionen und fand eine erschreckende Bereitschaft, mich auf Honka einzulassen. „Der goldene Handschuh“ ist ein provokantes Buch, weil Heinz Strunk darin die Beziehung zwischen Leser_in und Protagonist ungeniert in Frage stellt. Wie weit darf Sympathie gehen? Für mich ergab die Lektüre, dass meine persönliche Schmerzgrenze sehr hoch angesetzt ist. Ich habe durch diesen Roman etwas über mich selbst gelernt: meine Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, wird durch drastische, schockierende Schilderungen nicht beeinträchtigt. Die Hauptfigur kann abscheulich wie Fritz Honka sein, drückt der Autor oder die Autorin geschickt meine Knöpfe, kann ich trotzdem mit ihr fühlen. Heinz Strunk gelang dieses Kunststück, weil er sich auf jeder Seite des Romans um Authentizität bemüht. Ich fühlte mich nicht manipuliert, ich sah der ehrlichen Realität der Hamburger Kneipenszene der 70er Jahre ins Auge, die Strunk durch einen direkten, unzensierten Schreibstil illustriert. Der „Handschuh“ ist ein Schmelztiegel, ein Knotenpunkt, den man vielleicht als deprimierendes Wartezimmer für Suchende beschreiben kann. Was die einzelnen Akteure in der Kaschemme suchen, ist natürlich sehr unterschiedlich: Ablenkung, Zuflucht, ein Bett für die Nacht, ein wenig Gesellschaft. Daher überraschte es mich nicht, dass fast alle auftretenden Figuren, auch diejenigen, die standesgemäß weit über so einer Kneipe rangieren, irgendwann dort aufschlagen. Am Rande der Gesellschaft ist eben immer Platz. Um es mit Tolstoi zu sagen: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“.

 

„Der goldene Handschuh“ ist ohne Zweifel ein interessantes Buch, weil es Leser_innen herausfordert und sie vor die Frage stellt, wie viel Zuneigung sie sich für einen verabscheuungswürdigen Protagonisten erlauben. Es ist eine ungeschminkte Milieustudie, die den Mikrokosmos der Hamburger Kneipen im Dunstkreis der Reeperbahn in all seiner Hässlichkeit abbildet. Nicht schön anzuschauen, aber ehrlich und echt. Intellektuell schätze ich sehr, was Heinz Strunk mit diesem Roman zu demonstrieren versucht, ich kann jedoch nicht behaupten, dass mir die Lektüre Freude bereitet hätte. Obwohl sich beim Lesen eine gewisse Faszination des Grauens einstellte, empfand ich das Buch insgesamt als zu trostlos. Daher empfehle ich „Der goldene Handschuh“ an experimentierfreudige Leser_innen, die sich gern selbst beobachten und nicht allzu zart besaitet sind. Betrachtet es als mentale Übung, um eure eigenen Grenzen auszuloten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/09/18/heinz-strunk-der-goldene-handschuh
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review 2017-07-11 09:06
Stoff für die Leinwand
Artificial - Jadah McCoy

„Artificial“ von Jadah McCoy fand seinen Weg über den Newsletter des Verlages Curiosity Quills Press zu mir. Ich erhalte schon seit letztem Jahr regelmäßig Informationen über zur Verfügung stehende Rezensionsexemplare – seit mich „Don’t Eat the Glowing Bananas“ von David D. Hammons begeisterte. Meinem Gefühl nach konzentriert sich der Verlag auf ungewöhnliche, fantasievolle Geschichten, die immer ein bisschen abseits des sogenannten Mainstreams liegen. Ich hoffte, dass „Artificial“ ähnlich unkonventionell sein würde.

 

Der Planet Kepler ist eine Einöde, das beschämende Zeugnis des verheerenden Konflikts zwischen Menschen und Maschinen. Die Menschheit ist beinahe ausgerottet; zur Beute degradiert von den Cull – riesige, an Insekten erinnernde Prädatoren, das Ergebnis der genetischen Kriegsführung der Androiden, bevor diese spurlos verschwanden. Die Cull jagen Menschen. Sie fressen Menschen. In dieser feindseligen Welt kämpft die junge Syl ums Überleben. Als sie auf einem Streifzug entführt wird, bringt man sie an einen Ort, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: ein Labor in einer Stadt voller Androide. Dort erfährt sie am eigenen Leib, dass die Roboter skrupellos mit Menschen experimentieren. Sie muss fliehen, aber wie sie soll sie aus einer Stadt entkommen, in der sie auffällt wie ein bunter Hund? Ihre einzige Hoffnung ist der Android Bastion, der zu einer Untergrundbewegung gehört, die Menschen über die Stadtgrenze schmuggelt. Ohne zu wissen, ob sie Bastion trauen kann, lässt sie sich auf ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel ein, während sie eine Frage quält: ist sie nach den Experimenten überhaupt noch ein Mensch?

 

Obwohl ich „Artificial“ von Jadah McCoy insgesamt nicht unbedingt als unkonventionell bezeichnen würde, enthält dieser Reihenauftakt einige interessante, ausgefallene Ideen. Die Ausgangssituation des Krieges zwischen Menschen und Maschinen ist zwar nicht neu, doch die Gründe für diesen Krieg empfand ich als angenehm originell. Als die Erde starb, beschloss die Menschheit, den Planeten Kepler zu besiedeln. Für die Reise dorthin erfanden sie Androiden, die über die Körper der vermutlich in Kryostase versetzten Menschen wachen sollten. Doch während des langen Fluges geschah etwas mit den Androiden: sie entwickelten Gefühle. Auf Kepler angekommen, hatten die Androiden ihren Zweck erfüllt und wurden durch Menschen ersetzt. Niemand erwartete, dass dieses Verhalten die Roboter verletzen oder erzürnen könnte. Ihre Ignoranz war verhängnisvoll – die Androiden begannen den Krieg, der Kepler in das Schlachtfeld verwandelte, das er heute, im Jahr 2256, noch immer ist. Sie erschufen die Cull erfolgreich als ultimative Waffe gegen ihre ehemaligen Herren. Diese Insektoiden sind wirklich zum Fürchten. Richtig gruselig. Die Vorstellung, von diesen Wesen gejagt zu werden, verursachte mir eine Gänsehaut. Jadah McCoy bebildert ihre Geschichte heftig und extrem; sie zeigt Situationen, die mir das Gefühl vermittelten, es mit einem literarischen Horrorfilm zu tun zu haben. Deshalb weigere ich mich, das Buch als Young Adult zu kategorisieren. McCoy will schockieren. Leider konnten die blutigen, brutalen Szenen nicht verschleiern, dass „Artificial“ gravierende Defizite aufweist. Meiner Ansicht nach ist das Worldbuilding des ersten Bandes der „Kepler Chronicles“ dermaßen lückenhaft, dass es sich auf die Handlung auswirkt. McCoys futuristisches Universum erschloss sich mir nicht, wodurch ich viele inhaltliche Entwicklungen nicht verstand. Gigantische Fragezeichen schwirrten durch meinen Kopf. Wieso wussten die Menschen nichts von New Elite, der Stadt der Androiden? In welcher Beziehung stehen die Androiden und die Cull heute? Warum experimentieren sie mit Menschen? Wie kann es sein, dass moderne Androide die Fähigkeit ihrer Vorfahren, Emotionen zu empfinden, verurteilen und sogar unter Strafe stellen? Wichtige Informationen fielen unbeachtet unter den Tisch; zu viel musste ich mir selbst zusammenreimen und konnte daher kein Vertrauen zur Autorin aufbauen. Wiederholt stolperte ich über ihre Inkonsequenz und war folglich nicht in der Lage, mich an den Figuren zu orientieren, trotz der wechselnden Ich-Perspektive der menschlichen Protagonistin Syl und des Androiden Bastion. Mit Bastion kam ich ganz gut zurecht, ich fand ihn liebenswürdig und nahbar, aber Syl… Furchtbar. Es ist keine Seltenheit, dass vermeintlich taffe Hauptdarstellerinnen gemein und übertrieben aggressiv dargestellt werden, doch Syl erreicht einen neuen, traurigen Tiefpunkt. So eine rotzig unsympathische „Heldin“ habe ich selten erlebt. Wie sie mit anderen Charakteren umspringt, ist ekelhaft. Keine Ahnung, wie Bastion es schafft, Syl zu mögen. Ich konnte es nicht und halte ihre seltsame Freundschaft für unmotiviert und künstlich erzwungen. Ich hätte das Miststück ihrem Schicksal überlassen.

 

„Artificial“ bietet hervorragenden Stoff für einen actionreichen SciFi-Horrorfilm. All die logischen, inhaltlichen und strukturellen Löcher würden auf der Leinwand vielleicht gar nicht groß auffallen, wenn Spezialeffekte davon ablenken, dass die Geschichte mäßig Sinn ergibt. Als Buch funktioniert sie für mich bedauerlicherweise nicht, weshalb ich die Reihe auch nicht weiterverfolgen werde. Ich vermute, dass Jadah McCoy ihre Inspiration für „Artificial“ durch Bilder erhielt, die vor ihrem inneren Auge auftauchten, nicht durch Handlungssequenzen, die sich in ihrem Geist abspulten. Wobei ich wirklich nicht in ihrer Haut stecken möchte, sollten diese gewalttätigen Bilder sie tatsächlich mental überfallen haben. Wer möchte schon sehen, wie jemandem in einer bizarren Operation bei Bewusstsein der komplette Torso aufgeschlitzt und auseinander geklappt wird oder einer jungen Frau bei lebendigem Leib die Beine von einem insektenartigen Monster weggefressen werden? Nein, danke, mein Hirn produziert schon von allein genug Material für schillernde Albträume.

 

Vielen Dank an den Verlag Curiosity Quills Press für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/07/11/jadah-mccoy-artificial
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