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review 2019-08-14 09:50
Mut zur Simplizität
Verräter der Magie - Rebecca Wild

Rechtfertigt die Arbeit an einem neuen Buch die Vernachlässigung des medialen Auftritts? Diese Frage stelle ich mir anlässlich meiner Recherchen zur Salzburger Autorin Rebecca Wild. Seit etwa zwei Jahren herrscht bei ihr beinahe Funkstille. Ihr letztes Buch erschien 2017. Ihre Website ist veraltet und nicht voll funktionstüchtig. Es finden sich keine aktuellen Interviews. Im Mai 2019 erklärte sie auf Facebook, was bei ihr los ist. Sie arbeitet an der Veröffentlichung eines Thrillers. Ein bedeutender Genrewechsel, denn bisher war sie in der Fantasy- und Young Adult – Ecke zu finden, zu der auch ihr 2012er Debüt „Verräter der Magie“ zählt. Ich verstehe, dass sie dieses Projekt beschäftigt, trotzdem finde ich, dass eine gepflegte Website heutzutage die Mindestanforderung ist, sucht eine Person die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Frau Wild, viel Erfolg mit dem Thriller, aber ich empfehle, an dieser Stelle nachzubessern.

 

Ein kühler Hauch im Nacken, explodierende Kopfschmerzen, Ohnmacht – und plötzlich ist Kira nicht mehr allein in ihrem Körper. Sie ist geschockt, als sie begreift, dass ihr ungebetener Gast ausgerechnet Cian Kingsley ist, die einzige Person, die sie aufrichtig hasst. Cian ist ein mächtiger, einflussreicher Magier, dessen hartherzige Gesetze alle nicht-menschlichen Spezies in abgeriegelte Reservate sperren, einschließlich Kira. Sie muss die arrogante Nervensäge so schnell wie möglich loswerden. Leider ist das nicht so einfach, denn Cian wurde ermordet. In der Verzweiflung seiner letzten Augenblicke spaltete er seine Seele ab und schlüpfte in Kiras Kopf. Ihre einzige Chance besteht darin, ihm zu helfen, herauszufinden, wer ihn tötete und warum. Doch je mehr Zeit sie mit Cian verbringt, desto weniger stört sie seine Anwesenheit. Sie beginnt sogar, ihn zu mögen und Kira muss sich fragen, ob sie überhaupt noch will, dass er sie verlässt …

 

„Verräter der Magie“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie viel man mit simplen Mitteln erreichen kann, wenn sie gut durchdacht und konsequent ausgearbeitet sind. Dieser YA-Fantasy-Roman ist das Gegenteil von anspruchsvoller Literatur und war dennoch unterhaltsam. Wie ihr wisst, schätze ich gelungene Bescheidenheit mehr als misslungene Komplexität. Ich hatte während der Lektüre das Gefühl, dass sich Rebecca Wild ihrer Stärken bewusst war und sich gezielt auf diese konzentrierte. Ich finde das toll, denn es gehört viel dazu, die eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. „Verräter der Magie“ funktioniert nach sehr einfachen Regeln, deren Schlichtheit die inhärente Glaubwürdigkeit und Plausibilität der alternativen Wirklichkeit fördert. In dieser sind alle mythologischen Wesen aus Folklore, Legenden und Märchen real. Es gibt Werwölfe, Vampire und Feen, aber auch exotischere Spezies wie Trolle oder Nymphen. Sie alle müssen in Reservaten leben, weil Magier die Menschheit überzeugten, sie zu fürchten. Natürlich nicht aus uneigennütziger Sorge, sondern um Zugriff auf zentral erreichbare Machtquellen zu haben. Magiebegabte stellen in Rebecca Wilds Universum ein interessantes Paradoxon dar, da sie selbst über keinerlei Magie verfügen. Ihr Talent besteht darin, Magie aus ihrer Umgebung zu beziehen; aus der Natur, aber auch aus eben jenen Wesen, die sie einsperren lassen. Ich finde dieses Verhältnis und die politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen, die daraus resultieren, originell und vorstellbar. Durch Angst gerechtfertigte Internierungen, die in Wahrheit einen völlig anderen Zweck erfüllen, sind in der Historie ja genügend belegt. Kein Wunder, dass Magier in den Reservaten leidenschaftlich gehasst werden und die Protagonistin Kira keine Luftsprünge macht, als sie herausfindet, dass sie ihren Körper mit einem hochrangigen Exemplar teilen muss. Ich mochte Kira auf Anhieb, fand sie zu Beginn von „Verräter der Magie“ allerdings etwas zu passiv. Sie lässt sich von Cian herumschubsen, statt eigene Pläne zu schmieden, um ihn wieder loszuwerden. Glücklicherweise bessert sich ihre Anteilnahme an ihrer verzwickten Situation im Verlauf der Geschichte, sie ergreift zunehmend die Initiative und beteiligt sich aktiv am Geschehen. Cian hingegen kann ich schwerer einschätzen, weil meine Beziehung zu ihm genau die Entwicklung durchlief, die die Autorin vorsah und die auch Kira erlebt: Abneigung verwandelte sich in Zuneigung. Selbstverständlich ist es vorhersehbar, dass sich Kira und Cian näherkommen. Da Wild das Konfliktpotential ihrer Romanze jedoch präsent thematisiert, störte mich deren Berechenbarkeit kaum. Es ist nicht plötzlich alles gut, weil sie sich ineinander verlieben. Sie kommen noch immer aus unterschiedlichen Welten und müssen trotzdem eine Mordermittlung organisieren. Diese ließ ich über mich hinwegplätschern, statt mir die Mühe zu machen, bewusst mitzurätseln. „Verräter der Magie“ lädt dazu ein, den Kopf auszuschalten und sich Antworten ausnahmsweise einmal servieren zu lassen. Ich habe es genossen.

 

Für ein Debüt ist „Verräter der Magie“ erstaunlich fokussiert und gradlinig. Rebecca Wild entwarf eine unkomplizierte, überzeugende alternative Realität, deren Richtlinien sie ohne unnötige Kompromisse einhalten konnte und nutzte, um eine Handlung zu konzipieren, die meine Nerven nun zwar nicht strapazierte, aber meine Neugier angenehm lebendig hielt. Es ist ein leichtes, bequemes Buch, das luftig über mich hinwegstrich; eine schöne Lektüre für Zwischendurch, die gar nicht erst den Anspruch verfolgt, Leser_innen zu fordern. Es freut mich, dass es immer noch Autor_innen gibt, die Mut zur Simplizität beweisen. Eine Geschichte schlicht zu halten, sie nicht zu überfrachten und auf überflüssige Verwicklungen zu verzichten, ist nämlich gar nicht so einfach. Deshalb gratuliere ich Rebecca Wild zu diesem kurzweiligen Roman und werde auch die Fortsetzung „Gefangene der Magie“ bei mir einziehen lassen – für Tage, an denen mein Kopf mal Urlaub braucht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/08/14/rebecca-wild-verraeter-der-magie
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review 2019-07-16 09:40
Eines Tages werden sie sich gegenseitig umbringen
Obsidian Butterfly - Laurell K. Hamilton

Der Auftragskiller Edward ist meine absolute Lieblingsnebenfigur der „Anita Blake“-Reihe von Laurell K. Hamilton. Ich liebe seine Kompromisslosigkeit, seinen tödlichen Pragmatismus und seinen ganz speziellen Sinn für Humor. Vielleicht sollte es mir zu denken geben, wie sehr ich eine Figur, die mühelos als Soziopath durchgeht, mag, aber es beruhigt mich, dass ich mit meiner Sympathie nicht allein dastehe. Edward erfreut sich einer soliden Fanbasis, was die Autorin eingangs überraschte. Dank seiner großen Popularität erfuhr sie, dass ihre Leser_innen sich ebenso sehr für ihn interessieren wie sie selbst. Deshalb widmete sie „Obsidian Butterfly“ allen Edward-Fans, denn der neunte Band rückt ihn ins Rampenlicht.

 

Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, den Anita Blake fürchtet. Mit seinen babyblauen Augen wirkt Edward wie ein netter Typ, doch Anita kennt sein wahres Gesicht: er ist ein Kopfgeldjäger, ein eiskalter Killer und vielleicht der einzige, der gut genug ist, sie zu töten. Dennoch verbindet sie eine eigenwillige Freundschaft. Deshalb zögert sie nicht, als er sie bittet, ihm bei den Ermittlungen in einer besonders grausamen Mordserie in New Mexico zu helfen. Dort angekommen stößt Anita jedoch bald an ihre Grenzen. Nicht nur belasten sie die grausigen Details des Falls und ihre Ahnungslosigkeit, welches Wesen verantwortlich sein könnte, sie erhält auch unverhoffte, tiefe Einblicke in Edwards Leben, die sie auf eine harte Probe stellen. Kann sie akzeptieren, dass sogar Edward versucht, sich ein Stück Normalität zu bewahren? Vielleicht sind sie sich doch ähnlicher, als sie dachte…

 

Wer glaubt, Anitas Beziehung zu Richard und Jean-Claude sei kompliziert, hat sie noch nicht mit Edward erlebt. „Obsidian Butterfly“ beleuchtet ihre unkonventionelle Freundschaft, die stets am seidenen Faden hängt, in aller Detailschärfe. Es ist beeindruckend, wie gut Laurell K. Hamilton ihre Charaktere kennt. Natürlich sollten Autor_innen die Persönlichkeiten ihrer Figuren zuverlässig einschätzen können, aber dieses Maß analytischer Einfühlsamkeit ist definitiv außergewöhnlich. Anitas und Edwards Verhältnis ist haarsträubend komplex und häufig vollkommen widersprüchlich. Sie vertrauen einander, obwohl sie auf ein strenges Konstrukt unausgesprochener Regeln angewiesen sind, um sich nicht gegenseitig umzubringen. In professioneller Hinsicht sind sie ein tödlich effizientes Team, aber privat kollidieren ihre Ansichten ständig. Sie konfrontieren einander mit unangenehmen Wahrheiten, reflektieren sich gegenseitig und projizieren ihre eigenen Wünsche, Ängste und Erinnerungen auf das Gegenüber. Nichtsdestotrotz fürchte ich, Anitas Beziehung zu Edward ist die gesündeste, die sie zurzeit vorweisen kann, weil sie stets weiß, woran sie bei ihm ist, was sich von Jean-Claude und Richard ja nun nicht behaupten lässt. Zumindest wusste sie es bisher. Hamilton bietet in „Obsidian Butterfly“ erfreulich zahlreiche Informationen über Edward, die ihn in meinen Augen menschlicher erscheinen lassen. Ich dachte erstmals darüber nach, wie er überhaupt lebt, dass er über eine Biografie verfügt und seine Besuche bei Anita selbst für ihn nichtrepräsentative Extreme darstellen. Anita findet heraus, dass Edward in seinem eigenen Revier in New Mexico ein weitreichendes Doppelleben führt, was sie zutiefst schockiert. Ich glaube allerdings, ihre Entrüstung stammt nur zum Teil daher, dass er andere Menschen täuscht und gefährdet. Meiner Meinung nach ist sie verärgert, weil ihr klar wird, dass sie im Grunde nichts über ihn weiß und sie seine Farce eines Alltags daran erinnert, wie wenig alltagstauglich ihr eigenes Leben ist. Der Fall betont, wie weit sich Anita und Edward von der Normalität entfernt haben. Deshalb sehe ich die Ermittlung, die ausnehmend grausame und spektakuläre Details beinhaltet, eher als Katalysator für das unorthodoxe Duo, der die Entwicklung ihrer Persönlichkeiten vorantreibt, statt als eigenständiges Handlungselement. Wieder einmal fand ich den Kriminalfall unzureichend durchdacht. Hamilton involvierte viel zu viele Parteien, die die Situation unnötig verwirren und wenig zur endgültigen Auflösung beitragen. Besonders die lokalen Vampire empfand ich als kolossal überflüssig, weil ihre einzige Aufgabe darin besteht, einen Bezug zum antiken Volk der Azteken herzustellen, den die Autorin leider nicht befriedigend ausarbeitete. An ihrem Beispiel hätte „Obsidian Butterfly“ erhellende Einblicke in die aztekische Kultur und Mythologie liefern können, beide Aspekte werden jedoch lediglich oberflächlich angerissen. Wozu vampirische Zeitzeugen etablieren, wenn sie ihre Vergangenheit kaum teilen dürfen? Wozu einen Fall mühsam um eine untergegangene Kultur konstruieren, wenn der Täter dennoch aus dem Hut gezaubert wirkt? Erneut überzeugte mich Laurell K. Hamilton als Psychoanalytikerin, nicht aber als übernatürliche Kriminalistin.

 

Eines Tages werden Anita und Edward vermutlich ein für alle Mal klären, wer besser ist. Ich hoffe, dass bis zu diesem Tag noch viel Zeit vergeht, denn es gibt nur zwei mögliche Szenarien: entweder, die „Anita Blake“-Reihe endet mit ihrem Tod durch seine Hand oder Edward stirbt und ist für die Geschichte verloren. Ich weiß nicht, welche Option schlimmer ist. Dank all der intimen Details, die „Obsidian Butterfly“ über Edward bereitstellt, steigerte sich meine Sympathie für ihn ungemein. Mehr denn je nehme ich ihn als vollwertiges Individuum wahr. Edward ist nicht gefühllos. Er ist mehr als ein prototypischer Killer. Diese Erkenntnis wiegt für mich schwerer als der ungelenke Kriminalfall, den ich ohnehin als Mittel zum Zweck einschätze. Wie immer sind Erlebenswelten wichtiger als inhaltliche Entwicklungen. Dass ich die Chance erhielt, in Edwards Erlebenswelt herumzuschnüffeln, weiß ich wirklich zu schätzen. Er mag ein Soziopath sein – aber er bleibt meine liebste Nebenfigur der Reihe.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/07/16/laurell-k-hamilton-obsidian-butterfly
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review 2018-10-17 12:30
Das Mädchen, der Vampir und der Werwolf
Burnt Offerings - Laurell K. Hamilton

Kürzlich habe ich ein Interview mit Laurell K. Hamilton gelesen, indem sie erklärte, sie habe Richard in Anitas Leben gebracht, um es zu vereinfachen und sie vor Jean-Claude zu retten. Das hat ja wunderbar funktioniert. Spätere Versuche, Anita vom Chaos in ihrem Leben zu erlösen, scheiterten ebenfalls. Hamilton bemerkte selbstironisch, sie sollte aufhören, die Umstände für Anita verbessern zu wollen, weil sie dabei alles nur noch schlimmer macht. Ihr ist bewusst, dass sie mit dem Liebesdreieck zwischen Anita, Richard und Jean-Claude viele ihrer Leser_innen verärgert, empfindet die Dreiecksromanze aber als Folge ihrer Entwicklung. Alle drei treffen ihre eigenen Entscheidungen, ob ihr diese nun gefallen oder nicht. Ich war gespannt auf die Entscheidungen, die mich im siebten Band der „Anita Blake“-Reihe, „Burnt Offerings“, erwarteten.

 

Anita Blake ist bereit, die Folgen ihres Handelns zu tragen. Sie kann Richards verletzten Zorn aushalten und ihre Pflichten als Lupa seines Werwolfsrudels dennoch erfüllen. Irgendwann müssen sie ihre Verbindung durch das Triumvirat erforschen, aber vorerst ist Anita mit etwas Abstand zufrieden. Schließlich muss sie den Babysitter für eine Gruppe Werleoparden spielen, die seit Gabriels Tod wehrlos sind. Die Katzen sind jedoch nicht die einzigen, die ihren Schutz benötigen. Der Vampirrat ist in der Stadt. Monster, die sogar Monster fürchten. Sie erwarten von Jean-Claude eine Rechtfertigung für den Mord an Mr. Oliver. Natürlich ist der Prozess nur die zivilisierte Fassade uralter Intrigen und kreativer Grausamkeiten, ersonnen von gelangweilten, übernatürlichen Sadisten. Schnell geraten alle, die Anita und Jean-Claude wichtig sind, in Gefahr. Hat der Rat vielleicht sogar mit den Brandanschlägen zu tun, die Vampiretablissements in ganz St. Louis treffen? Anita muss sie so schnell wie möglich loswerden. Verantwortung zu übernehmen, kann manchmal ziemlich nerven.

 

Man kann Laurell K. Hamilton vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie ihre Protagonistin Anita Blake ihre Suppe nicht selbst auslöffeln lassen würde. „Burnt Offerings“ ist sehr eng mit „The Killing Dance“ verknüpft und behandelt die Konsequenzen, die sich aus dem Vorgängerband ergeben. Trotz neuer Provokationen in Form des Vampirrats und der Brandanschläge in St. Louis stellen die Implikationen des Triumvirats, das Anita, Richard und Jean-Claude in einer Notlage eingehen mussten, meiner Meinung nach den Kern dieses siebten Bandes dar. Das Triumvirat ist eine potente magische Verbindung zwischen Gestaltwandler, Vampir und dessen menschlichen Diener. Dieser intensive mentale, emotionale und physische Bund verändert die Beziehung zwischen Anita, Richard und Jean-Claude in einem Ausmaß, das sie erst zu erfassen beginnen. Sie teilen Gefühle, Fähigkeiten und Macht und müssen lernen, mit den Vor- und Nachteilen dieser wenig erforschten Magie umzugehen. Folglich verkompliziert das Triumvirat das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den dreien. Man stelle sich vor, man wäre auf ewig zwischen Partner und Ex-Partner gefangen, an sie gekettet und könnte ihre Emotionen spüren. Brr. Anita ist nicht zu beneiden. Ich laste es ihr daher nicht an, dass ich am Anfang von „Burnt Offerings“ den Eindruck hatte, ihr kämen die sowohl die Ermittlungen bezüglich des Brandstifters als auch die Situation der Werleoparden sehr gelegen, um sich nicht mit den beiden Männern in ihrem Leben auseinandersetzen zu müssen. Ich empfand es als bemerkenswert, wie bereitwillig Anita Verantwortung für die Leoparden übernimmt. Sie ermordete Gabriel; für sie ist es selbstverständlich, sich um die Folgen seines Ablebens zu kümmern. Hierin zeigt sich ihre Charakterstärke, obwohl sie zunächst ignoriert, dass sie nur aufgrund des Einflusses des Triumvirats fähig ist, die Rolle der Nimir Ra (und der Lupa) auszufüllen. Der Auftritt des Vampirrats beendet ihre Verdrängungsstrategie schmerzhaft, denn gegen diese uralten Blutsauger ist sie auf die Macht ihrer Dreiecksverbindung angewiesen. Der Rat ist meiner Ansicht nach die nächste Stufe in Laurell K. Hamiltons Worldbuilding, durch die sie die Vampirwelt vielfältiger gestaltet und Jean-Claude in Relation setzt. Im Vergleich zu diesen unvorstellbar machtvollen Untoten mit ihren individuellen, beängstigenden Fähigkeiten wirkt er wie ein zahmes Schmusekätzchen. Ihr beiläufiger Sadismus zeigt Anita, wie umfangreich die Liste der Personen, für die sie töten würde, mittlerweile ist. Sie wird tiefer und tiefer in das paranormale Universum hineingezogen und verliert zusehends den Kontakt zu ihrer Menschlichkeit, was Hamilton anhand der Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Dolph und ihrer besten Freundin Ronnie elegant betont. Der einzige, der in ihrem Freundeskreis noch als einigermaßen normal durchgeht, ist Larry, der inzwischen glücklicherweise allein auf die Toilette darf.

 

„Burnt Offerings“ steht exemplarisch für den Aufbau der „Anita Blake“-Reihe, deren Bände eher durch Charakterentwicklung als durch inhaltliche Fortschritte verbunden sind. Laurell K. Hamilton untersucht primär die Frage, wie die Ereignisse ihre Protagonistin verändern, statt eine festgelegte Handlungslinie zu verfolgen. Sie konfrontiert Anita mit neuen Herausforderungen, um zu erforschen, wie sie reagiert, nicht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es geht weniger darum, was Anita erlebt, sondern vielmehr wie sie es erlebt. Deshalb ist die Reihe so lang. Dieser Ansatz ermöglicht Hamilton Konstanz und Flexibilität. Ich möchte mich noch nicht versteifen, ob ich diese Herangehensweise nun mag oder nicht, Fakt ist aber, dass ich „Burnt Offerings“ eher mittelmäßig fand. Die Brandanschläge kamen zu kurz und waren daher überflüssig. Meinetwegen braucht nicht jeder Band einen Fall als Aufhänger und Anita muss auch nicht auf Teufel komm raus ermitteln. Seien wir doch ehrlich: um ihre Polizeiarbeit geht es bereits jetzt nur noch sekundär.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/10/17/laurell-k-hamilton-burnt-offerings
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review 2018-10-03 10:58
Katzenbach ist zahm geworden
Der Psychiater: Psychothriller - John Ka... Der Psychiater: Psychothriller - John Katzenbach,Eberhard Kreutzer,Anke Kreutzer

John Katzenbach ist meine erste große Thriller-Liebe. Ich erinnere mich noch genau, wie sehr mich „Die Anstalt“ begeisterte, mein erster Roman aus seiner Feder und meiner Meinung nach der beste, den er je geschrieben hat. Nie zuvor war ich mit einem ähnlichen Level nervenzerfetzender, psychologischer Spannung konfrontiert worden. Katzenbach begründete mit diesem Buch meine ausgedehnte Thriller-Phase. In den folgenden Jahren las ich alles, was der Mann veröffentlichte. Leider verzeichnete ich einen graduellen Qualitätsverlust, gestand ihm jedoch stets eine neue Chance zu. Mein letzter Katzenbach war 2013 „Der Wolf“, den ich insgesamt ziemlich enttäuschend fand. 2017 entdeckte ich, dass er einen neuen Einzelband geschrieben hatte: „Der Psychiater“. Selbstverständlich wollte ich auch diesen lesen.

 

Ohne die Hilfe seines Sponsors, seines Onkels Ed, hätte es der 24-jährige Alkoholiker Timothy „Moth“ Warner niemals geschafft, trocken zu bleiben. Selbst jetzt, nach 100 Tagen der Abstinenz, ist er auf seine Unterstützung angewiesen. Deshalb ist Moth alarmiert, als Ed ein wichtiges Treffen der Anonymen Alkoholiker verpasst. Besorgt fährt er in Eds Praxis. Was er dort vorfindet, lässt das Blut in seinen Adern gefrieren: die Leiche seines Onkels. Alle Spuren deuten auf Suizid hin. Die Polizei schließt den Fall.
Eds Verlust wirft Moth völlig aus der Bahn. Er kann einfach nicht glauben, dass sich sein lebensbejahender, ausgeglichener Onkel selbst getötet haben soll. Schon bald beschleicht Moth ein furchtbarer Verdacht. War es vielleicht gar kein Selbstmord? Aber wer könnte den harmonieorientierten, hilfsbereiten Psychiater tot sehen wollen? Verärgerte er einen Patienten? Verstört und in tiefer Trauer begibt sich Moth auf einen gefährlichen Weg: er ist entschlossen, Eds Mörder zu finden. Unterstützt von seiner Jugendliebe Andy Candy und der Staatsanwältin Susan beginnt er, in Eds Vergangenheit zu graben und bemerkt nicht, dass er längst beobachtet wird…

 

John Katzenbach hat seinen Biss verloren. Ich weiß nicht, wo und wie, aber für mich ist es eindeutig, dass seinen Thrillern seit einigen Jahren der spezielle Nervenkitzel fehlt, den ich in „Die Anstalt“ liebte, der mich an die Seiten fesselte und mich veranlasste, mir die Nächte um die Ohren zu schlagen. Ich empfinde beim Lesen seiner Bücher schon lange keine Anspannung mehr. Katzenbach ist zahm geworden. „Der Psychiater“ ist ein psychologisch anspruchsvolles Katz-und-Maus-Spiel, das für mich leider schnell an Reiz einbüßte. Ich konnte dem Spannungsbogen des Buches einfach nicht folgen und fragte mich lange, was Katzenbach mit dieser Struktur erreichen wollte. Anfangs glaubte ich, es ginge darum, herauszufinden, ob Moth‘ Onkel Ed tatsächlich umgebracht wurde. Diese Frage klärte sich nach einigen Andeutungen endgültig mit dem ersten Kapitel aus der Sicht des Mörders. Danach mutmaßte ich, ich sollte Beweggründe und Identität des Killers erraten. Warum tötete er den liebenswerten Onkel Ed und welche Beziehung hatte er zu ihm? Das Motiv offenbart Katzenbach jedoch ebenfalls recht früh. Hm. Und jetzt? Letztendlich entpuppte sich „Der Psychiater“ als tödliches Wettrennen zwischen Moth und dem Killer. Diese Entwicklung war per se nicht schlecht, aber das Auf und Ab des Spannungsbogens und Katzenbachs Freigiebigkeit frustrierten mich, weil er mich mit jeder geschenkten Information ausschloss. Ich durfte nicht miträtseln, ich durfte nur zuschauen und ein Duell psychologischer Profile beobachten. Dieses Duell arrangierte Katzenbach allerdings vorzüglich. Die Kapitel aus der Perspektive des Mörders faszinierten mich, weil es sich um einen Profi handelt, dessen Disziplin, Kreativität und Präzision beeindrucken. Er ist ein Geist, der die Kunst, unsichtbar in der Gesellschaft zu verschwinden, perfektionierte. Es ist erschreckend, wie gründlich die Spuren einer Existenz sogar im Kommunikationszeitalter ausgelöscht werden können. Sein Kontrahent Moth verkörpert in vielerlei Hinsicht sein Gegenteil. Es war interessant, ihre Unterschiede und Parallelen zu ermitteln. Moth‘ Leben ist von seiner Suchtkrankheit geprägt; er kämpft täglich um Selbstkontrolle. Eds Verlust treibt ihn an den Rand eines Rückfalls und nur sein Entschluss, dessen Mörder aufzuspüren, bewahrt ihn davor. Daher stellte ich mir die spannende Frage, ob Moth fähig gewesen wäre, seine riskante Mission durchzuziehen, wäre er kein Alkoholiker. Ich denke nicht. Ich glaube, wäre er emotional und mental stabil, hätte er die Gefahr gescheut. Im englischen Original heißt das Buch „The Dead Student“, doch ich finde den deutschen Titel „Der Psychiater“ dennoch passend. Nicht nur, weil Ed Psychiater ist, sondern weil Katzenbach seine Leser_innen in die Position eines Psychiaters manövriert: er konfrontiert sie mit zwei erkrankten Persönlichkeiten, die durch Ed eine außergewöhnliche Verbindung teilen und überlässt es ihnen, sie zu analysieren und ihr Verhalten vorauszusagen. Deshalb sehe ich in diesem Roman eher ein psychologisches Spiel als einen mitreißenden Thriller: intellektuell stimulierend, aber leider nicht aufregend.

 

Ich weiß nicht so genau, worauf John Katzenbach mit „Der Psychiater“ hinauswollte. Das Kräftemessen zwischen Moth und dem Mörder seines Onkels erschien mir als handlungstragendes Element nicht ausreichend. Spannung oder gar Nervenkitzel wollten nicht recht aufkommen und da sich Katzenbach nicht bemühte, mich in das tödliche Duell einzubinden, fühlte ich mich zum passiven Zaungast degradiert. Auch über die Nebenfiguren fand ich keinen Zugang, weil ich ihre Rollen in der Geschichte nicht durchschaute. Das Buch spülte über mich hinweg, ohne emotionale Resonanz zu erzeugen. Theoretisch ist es eine ausgefeilte Studie psychischer Abgründe, doch praktisch erreichte es mich einfach nicht. Vielleicht ist es eine adäquate Lektüre für Psychologie-Nerds, für mich war es jedoch erneut eine Enttäuschung.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/10/03/john-katzenbach-der-psychiater
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review 2018-09-27 09:04
Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen
Without a Doubt - Marcia Clark

Ich begrüße euch herzlich zum dritten und letzten Teil unseres Rezensionsexperiments. In den letzten zwei Tagen haben wir uns mit den Fakten des Falls O.J. Simpson vertraut gemacht. Ich habe euch „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson” von Jeffrey Toobin und „If I Did It: Confessions of the Killer” von O.J. Simpson vorgestellt und meine Eindrücke mit euch geteilt. Heute kehren wir noch einmal zum Strafprozess gegen Simpson in den Jahren 1994 und 1995 zurück. Seit Beginn meiner Recherchemission war es mir wichtig, ausgeglichenen und umfassend vorzugehen. Deshalb möchte ich heute ein Buch rezensieren, das einen weiteren, einzigartigen Blickwinkel auf den Mordprozess vermittelt. Wir beschäftigen uns mit „Without A Doubt“ von der Chefanklägerin Marcia Clark.


Der Medienrummel in den USA um den Fall O.J. Simpson war gewaltig. Bereits vor Prozessbeginn mutierte die Presse zum 13. Jurymitglied – und manch ein Reporter schwang sich zum Richter und Henker auf. Seriosität und Qualität der Berichterstattung variierten enorm. Die Causa Simpson lockte eine ganze Armee von Schmierfinken aus ihren Löchern, die nicht davor zurückschreckten, Falschinformationen zu verbreiten, Beweismaterial öffentlich zu machen und Zeug_innen stolze Summen für Interviews zu zahlen. Dieser ausufernde Zirkus beeinflusste den Strafprozess maßgeblich. Die Verhandlung wurde live auf dem Fernsehsender Court TV übertragen. Die Juryauswahl wurde durch die flächendeckende Berichterstattung massiv erschwert, weil sich kaum eine Person in Los Angeles finden ließ, die nicht bereits von den Morden an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman gehört oder gelesen hatte. O.J. Simpsons Verteidiger, das „Dreamteam“, nutzten die Presse aktiv, um den Prozess zu ihren Gunsten zu manipulieren. Zeitgleiche, inoffizielle Pressekonferenzen aus dem Stegreif von Robert Shapiro und Johnnie Cochran am Ende eines Prozesstages waren keine Seltenheit.

 

Die Staatsanwaltschaft musste auf diese Tricks natürlich verzichten. Selbst wenn sie die Medien für sich hätten einspannen wollen – sie durften es nicht. Vielleicht schoss sich die Presse deshalb auf das Team der Anklage ein. Alle Mitglieder sahen sich scharfen Angriffen ausgesetzt, wurden als unerfahren, arrogant und schlicht inkompetent dargestellt. Doch niemand von ihnen erntete so viel Spott, Häme, Bosheit und Kritik wie Marcia Clark.

 

Marcia Clark war von Anfang an in die Ermittlungen gegen O.J. Simpson involviert. Tage bevor Haftbefehl erlassen wurde, beriet sie die Ermittler, ob die Indizien ausreichten, um eine Hausdurchsuchung zu rechtfertigen. Zu Prozessbeginn war sie 40 Jahre alt (Jahrgang 1953) und arbeitete seit 13 Jahren als Staatsanwältin. Sie konnte eine beinahe perfekte Bilanz in Mordverfahren aufweisen. In 20 Prozessen erwirkte sie 19 Verurteilungen und hatte profunde Kenntnisse der wissenschaftlichen Aspekte von DNA-Analysen von Beweismaterial. Sie galt als ehrgeizig, forsch und bezeichnet sich selbst als Prozessjunkie, hatte sogar eine Beförderung in die Verwaltung aufheben lassen, um wieder im Gerichtssaal stehen zu können. Demzufolge war sie durchaus geeignet, die Staatsanwaltschaft gegen O.J. Simpson zu vertreten. Trotz dessen wollte ihr Boss, Gil Garcetti, sie nicht allein die Leitung des Falls übernehmen lassen, weil es Spannungen mit der Führungsebene des L.A.P.D. gab und er Bedenken hatte, dass Clarks brüske Art diese zusätzlich verschärfen könnte. Außerdem war im Büro der Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie gerade die Scheidung ihrer zweiten Ehe erstritt und ihre beiden Söhne allein erzog, was sich selbstverständlich auf ihre zeitliche Verfügbarkeit auswirke. Ihr wurde Bill Hodgman als nominell gleichberechtigter Partner zugeteilt. Später, als Hodgman mit gravierenden gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, stieß Christopher Darden hinzu.

 

Marcia Clark hatte niemals Zweifel an O.J. Simpsons Schuld. Die Beweislage war eindeutig und verdichtete sich mit Fortschreiten des Prozesses kontinuierlich. In Jeffrey Toobins literarischer Dokumentation „The Run of His Life: The People V. O.J. Simpson” gewann ich den Eindruck, dass es eben diese überwältigende Beweislast war, die die Staatsanwaltschaft in trügerischer Sicherheit wiegte, sie zu Arroganz verleitete und letztendlich zum Freispruch durch die Jury führte. Obwohl ich verstand, dass Clarks Team es nicht leicht hatte und durch die medienwirksame Strategie der Verteidigung sowie durch fragwürdige Entscheidungen des Richters Lance Ito behindert wurde, sah ich sie definitiv mitverantwortlich für das Scheitern des Prozesses. Ich vertraute Toobins Einschätzung, der Fehler der Anklage live im Gerichtssaal erlebt hatte. Nun, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, besonders wenn das Thema dermaßen kontrovers ist und einen gewissen Interpretationsspielraum bietet. Deshalb wollte ich Marcia Clarks eigene Wahrnehmung des Prozesses kennenlernen. Ich wollte wissen, wie sie von ihrer Rolle in der Verhandlung berichtet und ob sie fähig ist, Fehler einzugestehen. Glücklicherweise schrieb Clark – wie so viele Beteiligte des Sensationsprozesses – ein Buch, wodurch ich nicht gezwungen war, mir selbstständig ein Bild ihrer Person zusammenzubasteln. „Without A Doubt“ ist ihr Manifest, für das sie angeblich ein Honorar von über 4 Millionen Dollar einstrich.

 

Eines habe ich während der Lektüre von „Without A Doubt“ gelernt: Marcia Clark weiß VIEL mehr über das US-amerikanische Rechtssystem als ich. Das ist nun nicht überraschend und war zu erwarten, aber ihre Kompetenz und ihre intimen Kenntnisse der Gesetze und rechtlichen Statuten der USA beeindruckten mich sehr. Sie ist eine intelligente, ehrgeizige Powerfrau, die kein Blatt vor den Mund nimmt und die Dinge beim Namen nennt. Ich fand ihren direkten, ruppigen Charakter erfrischend und kann mir ohne Schwierigkeiten vorstellen, dass sie in der (damals) männerdominierten Staatsanwaltschaft aneckte. Es fühlten sich sicherlich einige Herren auf den Schlips getreten.

 

Mit diesem Buch macht sie sich vermutlich ebenfalls wenig Freunde, denn sie geizt nicht mit Kritik. Alle kriegen ihr Fett weg: der Richter Lance Ito, die Presse und natürlich die Verteidigung, allen voran Johnnie Cochran. Clark beschreibt eindringlich, dass die Anklage unter nahezu unmenschlichen Bedingungen arbeitete. Das „Dreamteam“ bestand auf ein beschleunigtes Verfahren für O.J. Simpson, wodurch der Staatsanwaltschaft sehr wenig Zeit für die Vorbereitung blieb. Die Fülle des Beweismaterials war Fluch und Segen zugleich, da sie all die Spuren, die am Tatort gesammelt worden waren und Indizienbeweise, wie zum Beispiel der zeitliche Ablauf der Mordnacht oder Simpsons Vorgeschichte von häuslicher Gewalt, nachvollziehbar aufarbeiten mussten, um sie der Jury schlüssig präsentieren zu können. Die Verteidigung funkte immer wieder dazwischen, indem sie jeden ihrer Schritte in Frage stellte. Eine denkwürdige, lächerliche Anhörung beschäftigte sich mit der Frage, wie viele Haare Simpson für eine Analyse abzugeben hatte. Jede Kleinigkeit musste erbittert erkämpft werden.

 

Parallel musste das Team der Anklage die Hoffnung auf ein gesundes Privatleben aufgeben. Nicht nur arbeiteten sie Tag und Nacht, um den Unmengen an Beweismaterial Herr zu werden und auf jede neue Perfidität der Verteidigung angemessen reagieren zu können – sie wurden permanent von den Medien verfolgt. Die Presse beobachtete sie mit Argusaugen. Selbst die kleinste Unbedachtheit konnte zu gehässigen, verletzenden Artikeln, wilden, absurden Theorien und Falschinformationen führen, die der Gesellschaft als bare Münze verkauft wurden. Als Chefanklägerin traf es Marcia Clark besonders hart. Ihre Vergangenheit, ihr Familienleben, selbst ihre äußere Erscheinung sezierte die Presse genüsslich bis ins Detail. Sie analysierten ihre Kleidung. Eine Veränderung ihrer Frisur während des Prozesses mutierte beinahe zum Skandal. Man versuchte, anhand der Tiefe ihrer Augenringe Rückschlüsse auf die Fortschritte der Staatsanwaltschaft zu ziehen. Eine Zeitung veröffentlichte sogar alte Fotos von ihr, auf denen sie im Urlaub in Europa oben ohne zu sehen war. Sie konnte nicht einmal mehr unbehelligt über die Straße gehen. Die Medien trieben sie wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf. Es ist bewundernswert, dass sie unter diesem enormen Druck nicht zusammenbrach, obwohl sie mehrfach kurz davorstand.

 

Unterschwellig spielte in der medialen Berichterstattung über Marcia Clark stets die Tatsache eine Rolle, dass sie eine Frau ist. Sowohl außerhalb als auch innerhalb des Gerichtssaals war Sexismus an der Tagesordnung. Keiner ihrer männlichen Kollegen musste sich für die Wahl seiner Anzüge rechtfertigen und niemand fragte, ob Robert Shapiro ausreichend Zeit für seine Kinder hatte. Scheinbar bereitete es Kopfschmerzen, dass Gil Garcettis bester Mann für den Job „O.J. Simpson“ ein Mädchen war. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Clarks Kompetenz von Anfang an durch ihr Geschlecht in Frage gestellt. Der Aspekt der häuslichen Gewalt, deren Opfer Nicole Brown Simpson durch ihren Ex-Ehemann geworden war, lenkte den Fall in eine ähnliche Richtung, trotz Clarks ursprünglichem Unwillen, diesen in ihre Strategie aufzunehmen. Ich war überrascht, zu erfahren, dass sie anfangs zögerte, diese heikle Thematik zu integrieren und erst von Mitgliedern ihres Teams davon überzeugt wurde. Jeffrey Toobin hatte in „The Run of His Life“ vermittelt, Clark sei diejenige gewesen, die die Gewalt zwischen O.J. und Nicole unbedingt als integralen Bestandteil präsentieren wollte, da sie in der Vergangenheit bereits derartige Fälle verhandelt hatte. Laut „Without A Doubt“ ist das nicht wahr. Es stimmt, dass Clark Erfahrung mit dem Vorwurf von häuslicher Gewalt gesammelt hatte, aber ihr war vollkommen bewusst, dass es sich dabei um ein zweischneidiges Schwert handelte, weil viele potentielle Jurymitglieder Gewalt innerhalb einer Ehe nicht als Verbrechen, sondern als Privatsache betrachteten. Sie wusste, dass es schwierig sein würde, sie vom Gegenteil zu überzeugen und anhand der Vorfälle ein Motiv zu suggerieren, ebenso, wie sie wusste, dass O.J. Simpsons Popularität und seine Hautfarbe entscheidend sein würden.

 

Ich war verblüfft, wie realistisch die Anklage ihre Chancen auf eine Verurteilung einordnete. Vor „Without A Doubt“ dachte ich, sie hätten die exorbitanten Dimensionen des Falls kolossal unterschätzt. Ich dachte, sie seien sich zu sicher gewesen und hätten sich zu sehr auf die physische Beweislage verlassen. Marcia Clarks Ausführungen korrigierten diesen Eindruck. Sie waren sich darüber im Klaren, dass alles gegen sie sprach und ein Freispruch eine reelle Möglichkeit war. Clark wusste von Anfang an, was mir erst durch ihr Buch bewusst wurde. Der Prozess gegen O.J. Simpson touchierte alle drei großen gesellschaftlichen Konflikte, mit denen die Menschheit seit Jahrhunderten weltweit konfrontiert ist: Rasse, Klasse und Geschlecht (bzw. Gender). Ich denke, dass der Fall deshalb dieses außerordentliche öffentliche Interesse erfuhr. Natürlich wurde dieses auch durch Simpsons Prominentenstatus und die grauenvollen Details der Morde ausgelöst, aber meiner Ansicht nach lag der Hauptgrund darin, dass sich jeder Mensch mit mindestens einer Facette des Falls identifizieren konnte und eine eindeutige Meinung dazu hatte. Deshalb war die Zusammenstellung der Jury, für die Marcia Clark und ihr Team scharf kritisiert wurden, so mühsam. Jede einzelne Person, die potentiell für den Geschworenendienst in Frage kam, war bereits lange vor Prozessbeginn voreingenommen, selbst wenn sie das Gegenteil behauptete. Da die Verhandlung in Downtown L.A. stattfand, war die Auswahl begrenzt und führte automatisch zu einer überwiegend afroamerikanischen Gruppe. Zu dem Vorwurf, sie habe gezielt einen hohen Anteil schwarzer Frauen in der Jury akzeptiert, weil sie ihrem Bauchgefühl vertraute, äußert sich Clark allerdings nicht. Sie impliziert lediglich, dass der Bildungsstand der Juror_innen einen größeren Einfluss als das Geschlecht hatte.

 

O.J. Simpson wegen zweifachen Mordes ersten Grades anzuklagen, also vorsätzlichen Mordes, wurde gemeinschaftlich von der Staatsanwaltschaft beschlossen. Es war Marcia Clark, die diese Vorgehensweise anstieß. Juristisch betrachtet war diese Entscheidung weit weniger riskant, als es den Anschein hat. Die Staatsanwaltschaft ist zwar verpflichtet, zu beweisen, dass der/die Beschuldigte den Vorsatz hatte, das Opfer zu töten, aber nicht, wann dieser Vorsatz gefasst wurde. Selbst wenn der Täter oder die Täterin nur Sekunden vor dem Mord entscheidet, diesen zu begehen, ist eine Anklage wegen Mord ersten Grades gerechtfertigt. Entscheidend ist die bewusste Absicht, nicht die Zeitspanne zwischen Entschluss und Tat. Leider gehört diese juristische Definition nicht zum Allgemeinwissen, weshalb in der Presse der Eindruck erweckt wurde, Marcia Clark führe einen persönlichen Feldzug gegen O.J. Simpson. Diese Wahrnehmung ist nicht korrekt. Tatsächlich wusste die an Sport desinteressierte Staatsanwältin vor den Morden nicht einmal, wer Simpson ist und hegte demzufolge auch keinen privaten Groll gegen den ehemaligen Footballspieler. Ich fand, dass sie sich in „Without A Doubt“ recht professionell gibt. Ihr Urteil über ihn ist ausschließlich auf den Fall bezogen, zu spekulativen Analysen seiner Persönlichkeit lässt sie sich nicht hinreißen. Sie spricht über ihn als Mörder und gewalttätigen Ehemann und findet ihrer Art entsprechend teilweise harsche Worte für ihn, aber ich konnte keinen Hass darin erkennen. Ich hatte das Gefühl, sie betrachtet ihn mit beruflicher Distanz und empfand während des Prozesses das Gleiche, das sie für alle Angeklagten empfand, die sie für schuldig hielt.

 

Trotz dessen traut Marcia Clark O.J. Simpson meiner Ansicht nach zu viel zu. Sie glaubt daran, dass er den Mord an Nicole plante und mit dem festen Vorsatz zu ihrem Haus fuhr, sie zu töten. Das glaube ich nicht, besonders nicht nach der Lektüre von „If I Did It: Confessions of the Killer“. Mir erschien die Tat eher impulsiv. Ich bin nicht überzeugt, dass Simpson die Frage, warum er am Abend des 12. Juni 1994 zu Nicoles Haus fuhr, wahrheitsgetreu beantworten könnte. Ich glaube nicht, dass er es weiß. Ich denke, er hatte das diffuse Bedürfnis, Nicole, den Störfaktor in seinem Leben, zu konfrontieren. Dass ihr Aufeinandertreffen dermaßen eskalieren könnte, erwartete er meiner Meinung nach selbst nicht. Clark hingegen war bereit, alle Indizien zu Simpsons Nachteil zu interpretieren. Sie ließ dadurch in ihrer Strategie vor Gericht sehr wenig Spielraum für alternative Szenarien und schränkte sich selbst ein.

 

Insgesamt fand ich, dass sich Marcia Clark in „Without A Doubt” kaum hinterfragt. Sie gesteht nur ein einziges Mal wirklich einen Fehler ihrerseits ein: sie hätte Lance Itos Entscheidung, das beleidigende, verletzende und rassistische N-Wort (auch ich möchte es nicht ausschreiben) im Prozess zuzulassen, anfechten müssen. Ich stimme ihr diesbezüglich zu, denn dieses Urteil öffnete der „Rassenkarte“ Tür und Tor, die mit der Frage, ob O.J. Simpson ein Mörder ist, nicht das Geringste zu tun hatte. Vielleicht hätte sie den Freispruch auf diese Weise verhindern können. Es erscheint mir allerdings unwahrscheinlich, dass sie ihr Verhalten im Nachhinein offenbar weitgehend als makellos und fehlerfrei einschätzt. Ich bin fest überzeugt, dass sie damals völlig nach bestem Wissen und Gewissen handelte und ihre Erläuterungen, inwiefern der Staatsanwaltschaft die Hände gebunden waren bzw. wurden, sind durchaus glaubhaft. Doch betrachten wir ihre Situation. Während des Prozesses war sie krank, übermüdet, gestresst und häufig überlastet. Das mörderische Tempo, das die Verteidigung diktierte, forderte seinen Tribut. Sie musste das Arbeitspensum des Falls, die Erziehung ihrer beiden Söhne, ihre Scheidung, die Presse und später sogar einen Sorgerechtsstreit managen. Und bei all diesen Anforderungen will sie nur einen einzigen Fehler gemacht haben?

 

Ich weiß nicht, ob Marcia Clark im Stillen härter mit sich ins Gericht geht – in ihrem Buch erwähnt sie jedenfalls nur diesen einen Fehler explizit. Dadurch wirkt sie defensiv, trotzig, stur, uneinsichtig, unreflektiert und arrogant. Sie hat einen latent aggressiven Zug an sich, der nicht sehr sympathisch ist. Auch schien sie mir eine gewisse Verbitterung über den Ausgang des Prozesses zu empfinden, speziell angesichts der Verurteilung im späteren Zivilprozess. Ich kann verstehen, dass die Erfahrung, den Jahrhundertprozess zu verlieren, frustrierend für sie war, doch beinahe ausschließlich andere dafür verantwortlich zu machen, ist kindisch und zu einseitig. Ich denke, ihre eigenen Entscheidungen trugen ebenfalls zum Freispruch bei.
Letztendlich kann ich aber natürlich nicht beurteilen, ob die Staatsanwaltschaft irgendetwas hätte anders handhaben können. Meine juristischen Kenntnisse sind maximal rudimentär. Fakt ist, Clark begründet ihr Vorgehen meist nachvollziehbar und autoritär, sodass kaum Zweifel über andere Optionen aufkommen.

 

Für mich war während der Lektüre vor allem interessant, wie unterschiedlich bestimmte Szenen der Verhandlung von Marcia Clark und Jeffrey Toobin erlebt wurden. Die Juryauswahl, die Affäre Mark Fuhrman, das Verhör der Zeug_innen der Verteidigung und Clarks Festlegung auf ein Zeitfenster für die Morde schildern Journalist und Anwältin gänzlich verschieden. Gemeinsam illustrieren „Without A Doubt“ und „The Run of His Life“ daher die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des Mordprozesses und der Wahrnehmung der Anklage hervorragend. Marcia Clarks Erinnerungen boten mir noch einmal eine ganz neue Perspektive auf diesen Fall. Ich empfand die Lektüre definitiv als lohnend und bin ihr dankbar, dass sie sich nicht scheute, Details zu offenbaren, die unter anderem ihr Privatleben betreffen und einen einzigartigen Kontext schufen. Sie vermittelt einen lebhaften, intimen Eindruck dessen, wie schmerzhaft, erschöpfend und frustrierend der Prozess für ihr Team und sie selbst war. Ich vermute, sie wollte mit diesem Buch auch ihr öffentliches Bild korrigieren. Nach all dem Schmutz, mit dem sie beworfen wurde, sei es ihr gegönnt.
Sie kehrte nach dem Prozess nicht mehr zur Staatsanwaltschaft zurück. Sie hängte ihren Job an den Nagel und ist heute Krimi-Autorin.

 

Drei Bücher habe ich nun zum Fall O.J. Simpson gelesen und für euch besprochen. Nach diesen drei Auslegungen der Fakten glaube ich, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Für mich ist es mittlerweile nicht mehr wichtig, was genau damals in der Nacht vom 12. Juni 1994 geschah. Ich bin überzeugt, dass O.J. Simpson ein Mörder ist. Das einzige, was zählt, ist, dass Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman seinetwegen nicht mehr am Leben sind. Was ihnen angetan wurde, war Unrecht und es ist beschämend, dass die US-amerikanische Justiz im Strafprozess nicht fähig war, Gerechtigkeit für sie zu erwirken. Mir ist egal, wer dafür verantwortlich ist, denn Schuldzuweisungen lindern weder den Schmerz ihrer Familien noch bringen sie diese beiden Leben zurück oder berühren O.J. Simpson. Aus meiner Sicht wird dieser Justizirrtum für immer ein hässlicher Fleck in der Geschichte der USA sein. Ich wünsche mir, dass sich darin zumindest eine Lehre für zukünftige Generationen verbirgt.


Meine Recherchemission war äußerst erfolgreich, wenn auch anstrengend und aufwühlend. Meine Neugier ist befriedigt. Jetzt kann ich mit der Akte O.J. Simpson endlich abschließen. Ich hoffe, dass ich euch wenigstens ein bisschen unterhalten konnte, obwohl das Thema sicherlich sehr speziell ist. Lasst mich wissen, wie euch das dreiteilige Rezensionsexperiment gefallen hat. Hiermit kehren wir jetzt offiziell zur gewohnten Tagesordnung zurück.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/09/27/marcia-clark-without-a-doubt
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