Sir Terry Pratchett verstarb mit 66 Jahren am 12. März 2015. Sein Vermächtnis ist die „Scheibenwelt“, die ihm schwindelerregende Popularität als Fantasy-Autor verlieh. Das Gesamtwerk umfasst 41 Romane, die in verschiedene Zyklen kategorisiert werden können. Pratchett erwartete von seinen Leser_innen allerdings nie, seine Bücher in einer festgelegten Reihenfolge zu lesen. Die meisten Geschichten sind in sich abgeschlossen und verlangen kein Vorwissen. Deshalb habe ich bereits vor Jahren beschlossen, mich bei der Lektüre der „Scheibenwelt“ nicht an eine spezifische Chronologie zu halten, sondern frei nach Bauchgefühl zu lesen. „Die volle Wahrheit“ ist offiziell der 25. Band, der in meinem Bücherregal zu Hause ist, weil es darin um Pressefreiheit und Journalismus geht.
Ein Gerücht hält sich hartnäckig in Ankh-Morpork. Es heißt, die Zwerge könnten Blei in Gold verwandeln. Die neue Innovation der Druckerpresse ermöglicht es ihnen, auf fast magische Weise schnell beliebig viele Kopien eines Schriftstücks anzufertigen. Zufällig landet der junge William de Worde in ihrer Werkstatt, der sein Geld damit verdient, Adlige per Post mit Neuigkeiten aus der Stadt zu versorgen. Aus Versehen stellt er bei einem seiner Besuche die erste Tageszeitung der Scheibenwelt auf die Beine. Kaum gegründet, erhält die Ankh-Morpork-Times auch schon ihre erste Schlagzeile: der Patrizier wird des Mordes angeklagt! William und sein Team ziehen los, um Fragen zu stellen und finden rasch heraus, dass die Fakten nicht zusammenpassen. Es sieht ganz so aus, als wäre der Regent Opfer einer böswilligen Verschwörung geworden. Aber wieso? Wem könnte daran gelegen sein, ihn abzusetzen? Und was noch viel wichtiger ist: wird die Wahrheit überhaupt jemanden interessieren?
Ich vergesse oft, dass es sich bei „Scheibenwelt“-Romanen um lupenreine High Fantasy handelt. Irgendwie hat sich Terry Pratchett in meinem Bücherhirn seine eigene Nische geschaffen, weil sich die Geschichten aus der Scheibenwelt einfach nicht wie epische Fantasy anfühlen. Das liegt hauptsächlich daran, dass Pratchett sein kurioses, fantastisches Setting fröhlich nutzte, um Themen unserer Realität satirisch zu diskutieren. „Die volle Wahrheit“ ist seine Analyse der Frage nach Macht und Verantwortung der Medien. Da Ankh-Morpork zum Zeitpunkt der Handlung erst am Beginn der industriellen Revolution steht und die Druckerpresse der Zwerge unter Gunilla Gutenhügel (Gutenhügel, Gutenberg – kapiert?) folglich eine sensationelle Neuheit darstellt, richtete er seinen Fokus ausschließlich auf das Medium Tageszeitung. Eine vollständige Betrachtung hätte sowohl den Rahmen des Buches gesprengt, als auch den Gegebenheiten des Stadtstaates widersprochen. Ich bin aber sicher, dass es als ganzheitliche kritische Auseinandersetzung mit der Medienlandschaft interpretiert werden kann. Die Gründung der Ankh-Morpork-Times ist ein absurder Zufall, ihre Entwicklung ein rasanter, spaßiger Höllenritt, der mich unzählige Male zum Lachen brachte. Ich liebe es, dass Pratchett seine Kritik grundsätzlich in Humor verpackte, sodass sie niemals mahnend, wütend oder bevormundend wirkt, sondern stets ironisch amüsiert. Trotz der unterhaltsamen, schelmischen Mischung dummer und intelligenter Witze bildete er das zwiespältige Verhältnis der Presse mit Politik, Öffentlichkeit, Verwaltungs- und Ordnungsinstanzen sehr realistisch ab. Einerseits sind die Reporter der Times ungeliebte Störenfriede, die unbequeme Fragen stellen; andererseits bieten sie eine willkommene Plattform zur Selbstinszenierung. Pratchett arbeitete glasklar heraus, dass die Wahrheit in der medialen Berichterstattung häufig eher von Meinungen als von Faken geprägt ist, was den Protagonisten und Chefredakteur William de Worde beinahe verzweifeln lässt. Die Figuren in „Die volle Wahrheit“ sind gewohnt skurril und liebenswert, punkten meiner Ansicht nach jedoch besonders durch ihren Wiedererkennungswert aus dem Alltag. Wer kennt sie nicht, den ehrgeizigen Konzernchef, die rasende Reporterin, den eigenwilligen, exzentrischen Politiker oder das sensationslüsterne Konkurrenzblatt, das es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt? Viele Charaktere entsprechen Personenmodellen, die dank Pratchetts gekonnter, persiflierender Abstraktion allerdings keinesfalls austauschbar oder stereotyp erscheinen, stattdessen hervorragend nach Ankh-Morpork passen und somit den für seine Bücher typischen, individuellen Charme entfalten. Etwas ungewöhnlich in „Die volle Wahrheit“ ist hingegen der sparsame Einsatz von Fußnoten. Pratchett ist für seine ausufernden Zwischenbemerkungen berühmt, doch in diesem Roman hielt er sich erstaunlicherweise zurück. Das ist möglicherweise darin begründet, dass ich diesen Band zu einem seiner leichteren Werke zählen würde. Statt abstrakte philosophische oder theologische Theorien beleuchtet er gesellschaftliche Prozesse, die wunderbar für sich selbst sprechen. Eventuell empfand er umfangreiche Kommentare deshalb als überflüssig, was die Aussagekraft der Geschichte jedoch nicht im Geringsten schmälert. „Die volle Wahrheit“ ist ein großartiges Buch, mit dem ich unheimlich viel Freude hatte.
Terry Pratchett war ein genialer Autor, dessen satirische Geschichten immer voll ins Schwarze treffen. Er war mehr als ein Witzbold; er war eine Institution, eine Koryphäe im Bereich der humoristischen Fantasy und ein begnadeter Schriftsteller. Ich bedauere zutiefst, dass ihm die Chance genommen wurde, uns weitere Geschichten zu schenken und TOD ihn so früh abholen musste. Er wird schmerzlich vermisst. Glücklicherweise lebt sein brillanter Geist in Büchern wie „Die volle Wahrheit“ weiter. Ich werde nie müde, mit ihm über die Absurditäten unserer Rundwelt zu lachen, die er für seine „Scheibenwelt“ meisterhaft karikierte. Terry Pratchett ist unsterblich. Das ist die volle Wahrheit.