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review 2019-12-10 07:03
Magnitude des Kriminellen
Das Böse - Reinhard Haller

Da ich eine begeisterte Krimileserin bin, interessiert es mich auch sehr stark, mich ab und an intensiver mit fachlichem Hintergrundmaterial zur Materie und zu den Motiven von Kriminellen zu beschäftigen, insofern habe ich mich auf das Buch des forensischen Psychiaters Reinhard Haller außerordentlich gefreut. Bedauerlicherweise bin ich mit einigen Vorgehensweisen des Autors vor allem zur Tiefe der angebotenen Information, zur Skalierung, zur Struktur und zur punktgenauen Zuordnung der Criminal-Cases nicht wirklich zufrieden.

 

Der Titel des Sachbuchs heißt schlicht, ergreifend und kurz das Böse – wobei natürlich nicht der Begriff aus Mythos, Religion und Ethik vom Autor thematisiert und dargestellt, sondern in diesem Fall Wissenschaft an solchen Schnittstellen zu den drei Bereichen mit ganz pragmatischen Forschungsansätzen vorgestellt wird. Damit ist die Leserschaft, die sich tatsächlich mit empirischen Forschungen zu kriminellen Handlungen, Motiven, Auslösern und Milderungsgründen beschäftigen möchte, prinzipiell punktgenau beim richtigen Werk. Ich finde es sehr gut und innovativ, dass mehrere Wissenschaftler versuchen, einen Begriff aus Religion und Philosophie zu messen, zu kategorisieren, zu skalieren und systematisch zu strukturieren, zumal solche Skalen ja durchaus einen realen, praktischen Einfluss auf das Strafmaß der Täter haben. Dr. Michael Wellner meint sogar, dass die gesellschaftliche Einstellung zu bösen Taten dem Wandel der Zeit unterzogen ist und versucht, durch Langzeitstudien und Bevölkerungsbefragung diesen auch noch miteinzubeziehen. Das finde ich ein extrem neues, sehr spannendes Forschungsgebiet.

 

Bereits in den Einführungskapiteln entstanden aber meine ersten Irritationen bezüglich Informationstiefe und Struktur. Da wird einfach wie mit Puderzucker oberflächlich über das Thema, die einzelnen Theorien der Wissenschaftler drübergestreuselt. Skalierungen basierend auf empirischen Forschungen und Einteilungen werden zwar erwähnt, aber nicht behandelt. Die 22-stufige Skala des Bösen (die Anzahl und Bezeichnung der Skalenausprägungen wurde nie erwähnt) von Prof. Michael Stone weist bei der Präsentation von Herrn Haller nur die Extremwerte von Notwehr und geplantem Mord mit Quälung auf, der Rest dazwischen ist nur ein allgemeines Blaba von Minderungsgründen. Mich hat aber die exakte Skalierung und Einteilung dazwischen interessiert, die ich nicht im Werk und nicht im Glossar fand, sondern extra recherchieren musste. Warum will man die Leser in populärwissenschaftlichen Sachbüchern immer so unterfordern und dumm sterben lassen? So eine Vorgehensweise erschließt sich mir nicht. *kopfschüttel*

 

Weiters versucht der Autor dann in einem Rundumschlag alles, was es zu diesem Thema zu sagen gibt, an der Oberfläche kratzend, gleichzeitig anzusprechen. Die gesellschaftlichen und moralischen Implikationen, das Bestrafungssystem, das daraus resultiert, im Wandel der Zeit, die Anlage–Umwelt- Problematik und die Zwillingsforschung dazu zu diesem Thema … und so weiter und so fort. In diesem Eintopf an lose präsentierten Argumenten ist alles vermantscht, von einer Struktur ist in der Einführung in das Thema einfach nichts zu sehen. Dabei gäbe es zu allen angesprochenen Themen weitaus ausführlicher sehr interessante Forschungsansätze zu berichten, die einfach auch inhaltlich massiv fehlen, um das Fachgebiet umfassend betrachten zu können, weil sie bedauerlicherweise nie wieder angesprochen werden.

 

Ab Seite 45 führt der Autor seine eigenen Thesen ein, und dann wird die Struktur übersichtlicher. Im Kapitel das Böse und die Normalität beweist er der Leserschaft, dass fast jeder Mensch durch äußere Umstände und Situationen zu kriminellen Handlungen getrieben werden kann. Dies untermauert er mit dem allseits bekannten Milgram und Stanford Experiment, aber auch mit weniger bekannten oder auch aktuelleren Belegen wie Erfahrungsberichten aus S21 (Vernichtungsgefängnis in Phnom Penh, Kambodscha – dort war ich schon) und Srebrenica 1995. Im Rahmen der Abgabe von Verantwortung an eine höhere Autorität lehnen sich ca. 66,6% nicht gegen Tötungsbefehle von Vorgesetzten auf. Die Anlage zum Bösen ist in uns allen verankert, so etwas könnte fast jedem passieren.

 

Von der bösen Idee über böse Gefühle, böse Lust und bösem Ruhm legt er in einer selbst erstellten Kategorisierung den Stand der forensischen Motivforschung dar. Warum das Kapitel Amok, Terror und Massaker als böse Trias nicht im Kapitel der böse Ruhm angesiedelt ist, zum Beispiel Schoolshootings unter bösen Ruhm fallen und nicht unter Amok, erschließt sich mir einfach nicht. Weiters arbeitet der heutige Terror ja massiv mit Öffentlichkeit, Ruhm und Social Media und würde somit auch in ein Gesamtkapitel böser Ruhm fallen. Hier sind sowohl die Klassifizierung unlogisch als auch die Zuordnung der Crime Cases. Auch einige Kriminalfälle im Bereich böser Idee gehörten eigentlich in das Kapitel Terror. So ein Durcheinander in der Zuteilung stört mich als Wissenschaftlerin, die öfters empirische Forschung in der Praxis – insbesondere Faktorenanalyse – betreibt, enorm.

 

Auch in den Folgekapiteln das böse Schweigen, der böse Vater, die böse Mutter und die böse Partnerschaft sind die Fallbeispiele nicht immer richtig zugeordnet und sorgen somit für ein Chaos und Irritationen in der Struktur.

 

Leider wird in den Kapiteln die bösen Gene so gut wie nicht auf die Anlage-Umweltproblematik und die Zwillingsforschung dazu eingegangen. Im Kapitel die bösen Hirnzellen werden die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung zwar wieder mal angesprochen, aber viel zu wenig tief thematisiert, was die neueste Forschung durch die Computertomographie im Detail in letzter Zeit herausgefunden hat. Ganze sieben Seiten zu diesem Fachgebiet, ohne Grafik und Tomografiebilder für die Leserschaft, um die einzelnen unterschiedlichen Gehirnregionen auch zu identifizieren, sind einfach zu wenig.

E

inen weiteren Kritikpunkt, der mich übrigens nicht betrifft, habe ich auf Lovelybooks vernommen. Das Sachbuch ist ein Relaunch des Werkes Das ganz normale Böse“ (Ecowin 2009) des Autors Haller. Angeblich wurde nur der Buchtitel geändert, das Cover psychologisch angehaucht, adaptiert, der Inhalt ist zum überwiegenden Teil gleichgeblieben. Lediglich Verbrechen, die zwischen 2009 und der Drucklegung von 2019 begangen wurden, hat man ergänzt. Bedauerlicherweise ist der Hinweis auf den Umstand, dass die aktualisierte Neuausgabe nicht viele Änderungen enthält, gelinde gesagt etwas unprominent – beziehungsweise gar nicht – platziert. Wenn meine Informationen stimmen, ist von einer erweiterten Neuauflage, wie im Sticker kommuniziert, auf jeden Fall nicht zu sprechen, sondern nur von einer aktualisierten.

 

Ach ja noch ein Hinweis an den Verlag. Auf Seite 42 ist im ersten Satz ein ganz grauslicher Orthografiefehler, der meinen inneren Monk komplett durchdrehen ließ. „Der Täter sagt: „Das wahr ich nicht, […]““

 

Fazit: Das Buch ist nicht schlecht und versucht, dem Leser einen umfassenden Überblick über das Thema zu geben, hat aber Schwächen in Struktur, Klassifizierung und Tiefe des zugeben guten Inhaltes – was eine Lovelybooks-Rezensentin als „recht schwammig“ bezeichnete. Ich kann diesem Ausdruck vollinhaltlich zustimmen. Es gibt eine große Anzahl an viel schlechteren Werken zu diesem Thema, es gibt aber auch ein paar bessere. Einsteiger in die Materie werden wesentlich begeisterter sein als Leute, die schon einiges in diesem Fachbereich gelesen haben.

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review 2019-01-08 14:34
Sa-Tierische Schreibversuche
Menschen, Tiere und andere Dramen: Warum wir Lämmer lieben und Asseln hassen - Peter Iwaniewicz

Der Autor Peter Iwaniewicz hat es schon schwer mit mir, denn ich habe im August hier im Blog bereits Helmut Höges Werk Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung sehr begeistert rezensiert und der Stil wie auch die Intention beider Sachbücher ist sehr ähnlich: nämlich dem Leser populärwissenschaftlich, humorvoll und über den Tellerrand der Biologie hinausgehend, die Welt der Tiere nahezubringen. Ein Leser auf lovelybooks nannte dieses Konzept Sa-Tiere, was eigentlich kurz, knackig und in einem Wort punktgenau beschreibt, worum es sich handelt.

 

Nun ist bei einer ähnlichen Idee der erste Vertreter und Vorreiter nicht immer der bessere, aber in diesem Fall gilt bedauerlicherweise diese Regel, wobei ich mich tatsächlich sehr bemüht habe, die beiden Werke sehr fair und objektiv miteinander zu vergleichen und den Neuigkeitsbonus von Höge nicht in die Beurteilung einfließen ließ.

 

Menschen, Tiere und andere Dramen beginnt schon mal sehr vielversprechend. Der Einstieg von Iwaniewicz bezüglich seines Werdegangs als Biologe war sehr gut, aber ab dem Zeitpunkt, als er zu den eigentlichen Tieren kommt, flacht das Geschriebene ganz schön ab. Auch wenn es vom Stil her sehr ähnlich wie Helmut Höges Tierwelt daherkommt, ist dieses Sachbuch aber bei weitem nicht so brillant und witzig geschrieben.

 

Der Autor verliert bei seinem humoristischen fächerübergreifenden Rundumschlag, den ich als populärwissenschaftlichen Stil im Prinzip immer sehr schätze, da er die Kernmaterie aufpeppt, bedauerlicherweise total den Fokus auf sein eigentliches Thema Tier. Da geht es zwei Seiten lang um die weibliche menschliche Brust, dann auch noch um die humanoiden männlichen Penisvarianten und anschließend kapitelweise um Kunst, in der das Tier nur die Rolle des dargestellten Opfers einnimmt – das ist nur mäßig spannend aus der Sicht der tierischen Biologie. In der Intention witzig zu sein und sukzessive fächerübergreifend von Kalauer zu Kalauer zu galoppieren, hat der Autor sich verirrt und seinen eigentlichen Weg, seine Kernkompetenz und seinen Bezug zum Thema Tier ganz schön verloren.

 

Zudem leidet natürlich auch noch die konsistente Struktur durch die Sprünge in Siebenmeilenstiefeln von Witz zu Witz und durch die Fächer . Er hat sich zu Beginn kein Gerüst gebaut, wie er methodisch vorgehen will, sondern plaudert nur ganz unstrukturiert dahin. Somit bleibt erstens beim Leser sehr wenig hängen, bis auf die störenden Ärgerfaktoren, und wenn man nochmals etwas nachschlagen will, findet man es einfach nicht mehr in dieser sequentiellen Wurst von witzigen Fakten. Auch da hat sich Höge mehr überlegt, denn zusätzlich zum Umstand, dass er immer wieder zum Fokus Tier zurückkehrt, hat er sein Sachbuch thematisch auch noch in Form eines alphabetischen Registers strukturiert, was vor allem dem Leser sehr viele Ankerpunkte bietet.

 

Fazit: So bleibt noch zu sagen, dass dieses Werk über die Oberflächlichkeit, Unstrukturiertheit und Zerrissenheit wahllos aneinandergereihter Zeitungskolumnen (die der Autor ja tatsächlich schreibt) nicht hinauszugehen vermag und das ist mir für ein Sachbuch, das mich begeistern soll, einfach zu wenig.

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review 2018-08-19 10:50
Don't bogart that Kugelfisch my friend
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung - Helmut Höge

Das ganze Jahr 2018 warte ich nun schon auf ein Sachbuch, das mich so richtig zu begeistern vermag, et voilá – hier ist es.

 

Der Autor Helmut Höge erzählt Geschichtln und kuriose biologische Fakten rund um die Tierwelt von A wie Ameisen bis zu Z wie Zitteraale. Dabei holt er auch durchaus recht weit aus, über den Tellerrand des biologischen Fachgebiets übermäßig hinausgehend, gleich einem grandiosen Reihumschlag in Politik, Soziologie, Psychologie, Technik, Feminismus, Film, Fernsehen … . Dieser sehr breite Zugang zur Biologie ist kurios, kurzweilig und total wundervoll! So geht Bio! Meine Güte, hätte ich jemals einen Biologielehrer von der Qualität und dem Witz des Autors gehabt und nicht so langweilige Schnarchnasen, dann wäre das wahrscheinlich mein Lieblingsfach geworden.

 

Er schildert zum Beispiel, dass die Ameisen- und Termitenforschung seit jeher Gegenstand politischer Vereinnahmung war, sowohl in der nationalsozialistischen, kommunistischen als auch kapitalistischen Welt. Je nachdem welches System gerade herrschte, wurde das Sozialverhalten der Insekten mit dem politischen System verglichen.

Die Mathematiker entwickelten inzwischen ANT-Algorithmen, die in der Logistik, der Kriegsführung und so weiter zum Einsatz kommen. Wenn Amazon Bücher mit der Bemerkung empfiehlt, „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben … kauften auch …“, dann war da so ein Ameisen-Algorithmus am Werk, den der Konzern so weiterentwickeln will, dass er Waren auswählt, die einem derart gut gefallen könnten, dass Amazon sie sogleich zustellt – ohne dass man sie bestellt hat.

Kommt Euch das nicht von irgendwoher bekannt vor? Aus Marc-Uwe Klings dystopischem Roman Qualityland, den ich heuer hier auf dem Blog schon besprochen habe.

 

Aber nicht nur die Viecherl werden alphabetisch abgearbeitet, sondern auch ein paar Verhaltensweisen quer durch alle Tiergattungen. Im Kapitel Berauschen wird man sehr vergnüglich mit den Drogenproblemen von ganzen Arten konfrontiert. So brechen Kängurus, Wallabys und Schafherden in Australien in Mohnplantagen ein, in Indien fallen die opiumsüchtigen Papageien und Antilopen über die Schlafmohnfelder her, schwedische Elche haben schwere Alkoholprobleme, Rentiere lieben psychedelische Pilze und die Igel sind nach mit Bier getränkten Nacktschnecken süchtig, da Hobbygärtner mit Bierfallen ihr Gemüse biologisch gegen die Schnecken schützen. Den Vogel schießen aber sowieso die Delfine ab. Diese nehmen, um sich zu berauschen, einen Kugelfisch, den sie so lange quälen, bis er sein Gift – Tetrodotoxin – absondert. In einer Fernsehsendung in Österreich Was gibt es Neues (so ähnlich wie Genial daneben) habe ich sogar gehört, dass sie diesen Kugelfisch reihum gehen lassen. Da bekommt das Lied „Don‘t bogart that joint (Kugelfisch), my friend“ eine ganz neue tierische Bedeutung.

 

Die vom Autor beschriebenen Kuriositäten reißen einfach nicht ab. In Ägypten gibt es tatsächlich schon länger die Sitte, einen lebenden Skarabäus, der mit Edelsteinen verschönert ist, an einer Kette als Schmuck zu tragen. Das Tier wird vom Besitzer gehegt und gefüttert. Ich habe sowas bisher nur einmal in einem Castle-Krimi mit Kakerlaken gesehen und dachte, das sei so eine degenerierte New Yorker Idee und Mode. So, jetzt höre ich aber auf zu schwärmen und zu spoilern, es gibt noch genug zu entdecken in diesem Buch.

 

Letztendlich kommen wir aber zum einzigen Wermutstropfen dieses Sachbuchs: Es hat nur knapp 160 Seiten und ist vom Format her total winzig, ergo ist man bedauerlicherweise in einem Nachmittag locker durch.

 

Fazit: Wundervoll, geistreich, humorvoll, großartig, bewusstseinserweiternd … aber zu kurz, zu kurz, zu kurz. Lieber Helmut Höge! Bitte setzen Sie sich hin und schreiben noch viel mehr dazu. Ich will mehr!!! Am besten gleich im Umfang, Gewicht und Format von Brehms Tierleben.

 

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review 2017-10-18 11:41
Nimm das, Mars!
The Martian - Andy Weir

Andy Weirs Karriere ist ein Märchen der Schriftstellerei. Sein Debütroman „The Martian“ wurde ursprünglich von allen Verlagen abgelehnt, weshalb Weir das Buch 2011 als Selfpublisher veröffentlichte. Er bot es kostenlos auf seiner Website an. Als Fans ihn baten, eine Kindle-Version zu erstellen, verlangte er auf Amazon 99 Cent, der niedrigste mögliche Preis. Die Verkaufszahlen schossen durch die Decke. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. 2013 verkaufte er die Buchrechte für einen sechsstelligen Betrag. Ich finde, in dieser Anekdote steckt eine inspirierende Botschaft an allen jungen Autor_innen: gib nicht auf und glaub an dein Werk. Andy Weir beweist, dass der Erfolg manchmal bloß etwas länger braucht, um sich einzustellen. Nachdem das Buch zwei Jahre auf meinem SuB versauerte, wollte ich 2017 endlich wissen, ob es wirklich so gut ist, wie alle behaupteten.

 

Werde Astronaut, haben sie gesagt. Geh zur NASA, haben sie gesagt. Flieg zum Mars, haben sie gesagt. Schönen Dank auch. Was sie Mark Watney nicht gesagt haben, ist, wie er auf dem Mars überleben soll, falls ihn ein schrecklicher Unfall von seinem Team trennt und sie gezwungen sind, ihn allein zurückzulassen. Nun ist er der einzige Bewohner eines Planeten, der sich redlich bemüht, Mark umzubringen. Alle Kommunikationswege sind zerstört. Seine Vorräte sind begrenzt. Er ist auf hochsensible Technik angewiesen, die stetig ausfallen könnte. Er könnte ersticken, verhungern, verdursten, erfrieren oder in der hauchdünnen Atmosphäre explodieren. Die nächste Mission wird in 1425 Tagen eintreffen. Bis dahin muss sich Mark auf seinen Einfallsreichtum, seine Fähigkeiten und seine sture Weigerung zu sterben verlassen, um dem angriffslustigen Planeten ein Schnippchen zu schlagen. Es ist Zeit, ein für alle Mal herauszufinden, ob menschliches Überleben auf dem Mars tatsächlich unmöglich ist.

 

Unter extremen Bedingungen sind Menschen zu erstaunlichen Leistungen fähig. Wir alle kennen die Geschichte der Mutter, die einen Kleinwagen mit bloßen Händen stemmt, weil ihr Baby darunter eingeklemmt ist. Mark Watneys Überlebenskampf auf dem Mars ist ein hervorragendes Beispiel für diese wundersame Leistungsfähigkeit. Ja, werdet ihr sagen, der ist ja auch nur fiktiv. Ich antworte: das spielt überhaupt keine Rolle, weil er nicht fiktiv wirkt. Er wirkt so real wie ihr und ich. Ich habe während der Lektüre von „The Martian“ vergessen, dass Mark Watney eine Romanfigur ist, die der Fantasie des Autors Andy Weir entspringt. Von der ersten Seite an entwickelte ich enorme Sympathie für den Biologen, Ingenieur und Astronauten, denn er ist ein extrem zugänglicher Charakter, der mit selbstironischem Witz überzeugt. Ich hätte ihn gern auf ein Bier eingeladen. Er neigt überhaupt nicht zum Selbstmitleid, obwohl seine Lage beängstigend aussichtslos erscheint und eine gewisse Verzweiflung absolut verzeihlich gewesen wäre. Es zeugt von einer beeindruckenden Geisteshaltung, allein auf dem Mars nicht alle Hoffnung fahren zu lassen. Stattdessen treibt ihn sein außergewöhnlich starker Lebenswille zu Höchstleistungen an, die sein analytischer Verstand in praktikable und für die Leser_innen gut nachvollziehbare Überlebensstrategien verwandelt. In Logbuch-Einträgen beweist er sein bemerkenswertes Talent zum Problemlösen und ließ mich an all seinen Gedankengängen teilhaben. Dadurch fungiert das Logbuch zusätzlich als Marks Absicherung gegen den Wahnsinn; indem er den Leser_innen erklärt, welche Herausforderungen er wie meistern muss, bewahrt er sich selbst vorm Durchdrehen. Demzufolge enthält „The Martian“ viele äußerst spezifische Beschreibungen aus der Physik, Chemie, Biologie und allgemein den Naturwissenschaften, die zwar anspruchsvoll sind, mich aber niemals überforderten, was an sich bereits ein schriftstellerisches Kunststück darstellt. Ich habe unfassbar viel über den Mars gelernt und konnte gravierende Wissenslücken schließen. Ich musste jedoch ziemlich aufmerksam lesen, was sich in meinem Fall auf das Lesetempo auswirkte. Ich kam langsamer voran als in einem Durchschnittsbuch, störte mich allerdings kaum daran, weil „The Martian“ trotz dessen unglaublich spannend ist. Angesichts dessen, dass auf dem Mars nichts ist und Mark die Handlung fast ausschließlich durch seine Persönlichkeit vorantreiben muss, da Weir seine strikte Ich-Perspektive lediglich in recht großen Abständen aufbricht und die Leser_innen seine Unternehmungen niemals direkt erleben, ist diese konsequente Spannungskurve verblüffend. Ich fieberte auf jeder Seite mit und feuerte Mark in Gedanken lautstark an, nicht aufzugeben und dem blöden Planeten zu zeigen, wer der Boss ist. Ich hätte nicht gedacht, dass er tatsächlich eine Überlebenschance hat und war überrascht, wie viel Hoffnung er mir vermittelte, wie sehr ich daran glauben wollte, dass er es schafft, obwohl die Lage alles andere als rosig aussieht. Nimm das, Mars, Mark Watney is in da hooooouuuuse!

 

„The Martian“ ist die glaubhafte Chronik eines außerordentlichen Überlebenskampfes. Es ist eine irrwitzige Mischung aus „Apollo 11“, „Cast away – Verschollen“ und „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel. Ich freue mich über den gerechtfertigten Erfolg dieser Geschichte und gratuliere Andy Weir dazu, dass sich all seine Arbeit auszahlte, vom reinen Schreiben bis hin zu seinen erschöpfenden Recherchen. Er verdient es.
Meiner Meinung nach ist „The Martian“ ein Science-Fiction-Roman, der selbst Genreskeptikern wie mir gefallen kann, weil er sich sehr dicht an der Realität bewegt und mit einem Protagonisten aufwartet, der kaum menschlicher sein könnte. Mark Watney ist der nette Typ von Nebenan, mit dem man sich ein Footballspiel ansieht. Er ist der Typ, mit dem man einen trinken geht. Und zufällig ist er auch der Typ, der unverhofft den Mars kolonisiert, in MacGyver-Manier mit Kleber, Spucke und vielen kreativen Ideen – eben ein echter Weltraumpirat.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/10/18/andy-weir-the-martian
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review 2017-04-07 07:46
Versuchskaninchen Mensch
Das merkwürdige Verhalten von Schimpansen in Kinderkleidung: und andere sozialpsychologische Experimente - Felicitas Auersperg

Felicitas Auerspergs populärwissenschaftliches Sachbuch beschreibt die wichtigsten sozialpsychologischen Experimente, ihre Entstehung, den wissenschaftlichen Background, die genaue Versuchsanordnung und den Alltagsnutzen, den die Ergebnisse der Forschung implizieren.

Na? Bei meiner Inhaltsbeschreibung bereits ins Koma gefallen, weil das Buch so langweilig ist? Oh wie irrt Ihr Euch und seid gewaltig auf dem Holzweg! :-)
Selten hat Psychologie derart viel Spaß gemacht, und ich habe gleichzeitig so nebenbei noch ein paar Sachen gelernt (dass es nicht ganz so viel war, liegt daran, dass ich in meinem Studium als Wahlfach Organisationspsychologie belegt habe).

Die beschriebenen Experimente sind unter anderem das weithin bekannten Milgram- und das Stanford Experiment, aber auch mir relativ unbekannte Versuchsanordnungen wie die titelgebende „Das merkwürdige Verhalten von Schimpansen in Kinderkleidung“, in der ein Wissenschaftler-Ehepaar beschloss, sein eigenes Kind zusammen mit einem Affen wie Geschwister aufwachsen zu lassen. Zuerst ging alles gut, solange die Entwicklung von Affe und Baby parallel verlief. Erst als der Affe in seinem Lernfortschritt auf Grund der Genetik hinter dem Sohn stark zurückfiel und dieser, anstatt die gelernte Sprache zu vertiefen, aus Altruismus nur noch genauso gut klettern lernen wollte wie sein Affenbruder, musste das Experiment erfolglos abgebrochen werden.

Auch die genaue Untersuchung menschlicher Phänomene wie kognitive Dissonanz, oder der Umstand, dass Menschen Personengruppen, mit denen sie noch nie in Interaktionen traten, mit einer signifikanten Tendenz negativ bewerten, sind aktueller denn je, wenn man die heutige Flüchtlingssituation und die daraus resultierenden Intoleranz-Probleme der ansässigen Bevölkerung bewertet. Die Leute müssten sich einfach nur persönlich kennenlernen. Das Harlowe-Experiment hat beispielsweise den früheren Behaviorismus in der Kindererziehung widerlegt, heute würde kaum noch ein vernünftiger Mensch ein Baby unentwegt schreien lassen, in der Generation unserer Eltern war diese Methode jedoch anerkannt – fast schon verpflichtend, um aus seinen Kindern keine Weicheier zu machen. Am spannendsten fand ich das Loftus-Experiment, das die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen und unser Gedächtnis unter die Lupe nimmt und den Bystander-Effekt, warum und unter welchen Umständen genau viele Menschen in der Stadt wegschauen, wenn ein Verbrechen geschieht. So wird Psychologie zum reinen Vergnügen – mit extrem viel Praxisrelevanz.

    "In allen vier Experimenten zeigte sich, dass Menschen eher dazu geneigt sind zu helfen, wenn sie allein einen Notfall beobachten. Sobald sie sich in Gesellschaft befinden, teilen sie die Verantwortung und reagieren, insbesondere, wenn die anderen Augenzeugen unbekannt sind, langsamer oder gar nicht. Paradoxerweise bedeutet das, dass einem in Gefahr eher geholfen wird, wenn es nur wenige Beobachter gibt.“[…] Eine einfache, aber wirkungsvolle Strategie, um den Bystander-Effekt zu unterbrechen, ist, abwartende Zuschauer direkt anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Damit erleichtern sie ihnen den kognitiven Prozess, in dem sie sich gerade verheddern, und kürzen die Entscheidungsfindung für Bystander erheblich ab.

Fazit: So sollte Wissenschaft immer vermittelt werden! Liest sich wie ein spannender Roman. Großartig!

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