Da ich eine begeisterte Krimileserin bin, interessiert es mich auch sehr stark, mich ab und an intensiver mit fachlichem Hintergrundmaterial zur Materie und zu den Motiven von Kriminellen zu beschäftigen, insofern habe ich mich auf das Buch des forensischen Psychiaters Reinhard Haller außerordentlich gefreut. Bedauerlicherweise bin ich mit einigen Vorgehensweisen des Autors vor allem zur Tiefe der angebotenen Information, zur Skalierung, zur Struktur und zur punktgenauen Zuordnung der Criminal-Cases nicht wirklich zufrieden.
Der Titel des Sachbuchs heißt schlicht, ergreifend und kurz das Böse – wobei natürlich nicht der Begriff aus Mythos, Religion und Ethik vom Autor thematisiert und dargestellt, sondern in diesem Fall Wissenschaft an solchen Schnittstellen zu den drei Bereichen mit ganz pragmatischen Forschungsansätzen vorgestellt wird. Damit ist die Leserschaft, die sich tatsächlich mit empirischen Forschungen zu kriminellen Handlungen, Motiven, Auslösern und Milderungsgründen beschäftigen möchte, prinzipiell punktgenau beim richtigen Werk. Ich finde es sehr gut und innovativ, dass mehrere Wissenschaftler versuchen, einen Begriff aus Religion und Philosophie zu messen, zu kategorisieren, zu skalieren und systematisch zu strukturieren, zumal solche Skalen ja durchaus einen realen, praktischen Einfluss auf das Strafmaß der Täter haben. Dr. Michael Wellner meint sogar, dass die gesellschaftliche Einstellung zu bösen Taten dem Wandel der Zeit unterzogen ist und versucht, durch Langzeitstudien und Bevölkerungsbefragung diesen auch noch miteinzubeziehen. Das finde ich ein extrem neues, sehr spannendes Forschungsgebiet.
Bereits in den Einführungskapiteln entstanden aber meine ersten Irritationen bezüglich Informationstiefe und Struktur. Da wird einfach wie mit Puderzucker oberflächlich über das Thema, die einzelnen Theorien der Wissenschaftler drübergestreuselt. Skalierungen basierend auf empirischen Forschungen und Einteilungen werden zwar erwähnt, aber nicht behandelt. Die 22-stufige Skala des Bösen (die Anzahl und Bezeichnung der Skalenausprägungen wurde nie erwähnt) von Prof. Michael Stone weist bei der Präsentation von Herrn Haller nur die Extremwerte von Notwehr und geplantem Mord mit Quälung auf, der Rest dazwischen ist nur ein allgemeines Blaba von Minderungsgründen. Mich hat aber die exakte Skalierung und Einteilung dazwischen interessiert, die ich nicht im Werk und nicht im Glossar fand, sondern extra recherchieren musste. Warum will man die Leser in populärwissenschaftlichen Sachbüchern immer so unterfordern und dumm sterben lassen? So eine Vorgehensweise erschließt sich mir nicht. *kopfschüttel*
Weiters versucht der Autor dann in einem Rundumschlag alles, was es zu diesem Thema zu sagen gibt, an der Oberfläche kratzend, gleichzeitig anzusprechen. Die gesellschaftlichen und moralischen Implikationen, das Bestrafungssystem, das daraus resultiert, im Wandel der Zeit, die Anlage–Umwelt- Problematik und die Zwillingsforschung dazu zu diesem Thema … und so weiter und so fort. In diesem Eintopf an lose präsentierten Argumenten ist alles vermantscht, von einer Struktur ist in der Einführung in das Thema einfach nichts zu sehen. Dabei gäbe es zu allen angesprochenen Themen weitaus ausführlicher sehr interessante Forschungsansätze zu berichten, die einfach auch inhaltlich massiv fehlen, um das Fachgebiet umfassend betrachten zu können, weil sie bedauerlicherweise nie wieder angesprochen werden.
Ab Seite 45 führt der Autor seine eigenen Thesen ein, und dann wird die Struktur übersichtlicher. Im Kapitel das Böse und die Normalität beweist er der Leserschaft, dass fast jeder Mensch durch äußere Umstände und Situationen zu kriminellen Handlungen getrieben werden kann. Dies untermauert er mit dem allseits bekannten Milgram und Stanford Experiment, aber auch mit weniger bekannten oder auch aktuelleren Belegen wie Erfahrungsberichten aus S21 (Vernichtungsgefängnis in Phnom Penh, Kambodscha – dort war ich schon) und Srebrenica 1995. Im Rahmen der Abgabe von Verantwortung an eine höhere Autorität lehnen sich ca. 66,6% nicht gegen Tötungsbefehle von Vorgesetzten auf. Die Anlage zum Bösen ist in uns allen verankert, so etwas könnte fast jedem passieren.
Von der bösen Idee über böse Gefühle, böse Lust und bösem Ruhm legt er in einer selbst erstellten Kategorisierung den Stand der forensischen Motivforschung dar. Warum das Kapitel Amok, Terror und Massaker als böse Trias nicht im Kapitel der böse Ruhm angesiedelt ist, zum Beispiel Schoolshootings unter bösen Ruhm fallen und nicht unter Amok, erschließt sich mir einfach nicht. Weiters arbeitet der heutige Terror ja massiv mit Öffentlichkeit, Ruhm und Social Media und würde somit auch in ein Gesamtkapitel böser Ruhm fallen. Hier sind sowohl die Klassifizierung unlogisch als auch die Zuordnung der Crime Cases. Auch einige Kriminalfälle im Bereich böser Idee gehörten eigentlich in das Kapitel Terror. So ein Durcheinander in der Zuteilung stört mich als Wissenschaftlerin, die öfters empirische Forschung in der Praxis – insbesondere Faktorenanalyse – betreibt, enorm.
Auch in den Folgekapiteln das böse Schweigen, der böse Vater, die böse Mutter und die böse Partnerschaft sind die Fallbeispiele nicht immer richtig zugeordnet und sorgen somit für ein Chaos und Irritationen in der Struktur.
Leider wird in den Kapiteln die bösen Gene so gut wie nicht auf die Anlage-Umweltproblematik und die Zwillingsforschung dazu eingegangen. Im Kapitel die bösen Hirnzellen werden die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung zwar wieder mal angesprochen, aber viel zu wenig tief thematisiert, was die neueste Forschung durch die Computertomographie im Detail in letzter Zeit herausgefunden hat. Ganze sieben Seiten zu diesem Fachgebiet, ohne Grafik und Tomografiebilder für die Leserschaft, um die einzelnen unterschiedlichen Gehirnregionen auch zu identifizieren, sind einfach zu wenig.
E
inen weiteren Kritikpunkt, der mich übrigens nicht betrifft, habe ich auf Lovelybooks vernommen. Das Sachbuch ist ein Relaunch des Werkes Das ganz normale Böse“ (Ecowin 2009) des Autors Haller. Angeblich wurde nur der Buchtitel geändert, das Cover psychologisch angehaucht, adaptiert, der Inhalt ist zum überwiegenden Teil gleichgeblieben. Lediglich Verbrechen, die zwischen 2009 und der Drucklegung von 2019 begangen wurden, hat man ergänzt. Bedauerlicherweise ist der Hinweis auf den Umstand, dass die aktualisierte Neuausgabe nicht viele Änderungen enthält, gelinde gesagt etwas unprominent – beziehungsweise gar nicht – platziert. Wenn meine Informationen stimmen, ist von einer erweiterten Neuauflage, wie im Sticker kommuniziert, auf jeden Fall nicht zu sprechen, sondern nur von einer aktualisierten.
Ach ja noch ein Hinweis an den Verlag. Auf Seite 42 ist im ersten Satz ein ganz grauslicher Orthografiefehler, der meinen inneren Monk komplett durchdrehen ließ. „Der Täter sagt: „Das wahr ich nicht, […]““
Fazit: Das Buch ist nicht schlecht und versucht, dem Leser einen umfassenden Überblick über das Thema zu geben, hat aber Schwächen in Struktur, Klassifizierung und Tiefe des zugeben guten Inhaltes – was eine Lovelybooks-Rezensentin als „recht schwammig“ bezeichnete. Ich kann diesem Ausdruck vollinhaltlich zustimmen. Es gibt eine große Anzahl an viel schlechteren Werken zu diesem Thema, es gibt aber auch ein paar bessere. Einsteiger in die Materie werden wesentlich begeisterter sein als Leute, die schon einiges in diesem Fachbereich gelesen haben.