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review 2019-10-30 11:23
Kein 0815-Thriller
Argus (C.J. Townsend #3) - Jilliane Hoffman

2001 traf Jilliane Hoffman eine folgenreiche Entscheidung. Nach 10 Jahren, in denen sie als stellvertretende Staatsanwältin und juristische Beraterin des Florida Department of Law Enforcement arbeitete, beschloss sie, ihren aufregenden Job in der Strafverfolgung aufzugeben, um Autorin zu werden. Während eines Prozesses gegen einen Vergewaltiger beobachtete sie, wie eine Betroffene „zitternd vor Angst mit der eigenen Aussage haderte“. Sie fragte sich, wie dieses Mädchen reagieren würde, stünde sie an ihrer Stelle und könnte ihren Angreifer zur Rechenschaft ziehen. Sie begann, aus dieser Idee eine Romanhandlung zu entwickeln. Leider konnte sie die Herausforderungen ihres Berufs nicht mit ihrem Privatleben und dem Traum vom Schreiben vereinbaren. Deshalb kündigte sie – ein mutiger Schritt, der belohnt wurde, denn ihr Debüt „Cupido“ wurde ein internationaler Erfolg und der Auftakt einer Reihe von Thrillern um die Staatsanwältin C.J. Townsend. „Argus“ ist der dritte Band.

 

Eine grausame Serie sadistischer Frauenmorde versetzt Miami in Angst und Schrecken. Die Opfer werden vor laufender Kamera brutal gefoltert – und viele Augen sehen zu. Staatsanwältin Daria DeBianchi ist sicher, dass der Tatverdächtige Talbot Lunders nicht allein handelt. Hinter ihm steht ein skrupelloses Netzwerk wohlhabender und einflussreicher Personen, ein elitärer Club, der die Morde als Attraktion vermarktet. Leider schweigt Lunders. Der einzige, der bereit ist, mit Daria zu reden, sitzt im Todestrakt des Staatsgefängnisses von Florida ein. Es handelt sich um William Bantling, der 10 Jahre zuvor für die Cupido-Morde verurteilt wurde. Er behauptet, die Identitäten der Clubmitglieder zu kennen und bietet Daria seine Mithilfe an, verlangt dafür jedoch einen hohen Preis. Daria ist lange genug dabei, um zu wissen, dass sie sich Idealismus in ihrem Job nicht leisten kann. Doch rechtfertigt der Fall einen Pakt mit dem Teufel?

 

Es ist wirklich sehr lange her, dass ich die ersten beiden Bände der „C.J. Townsend“-Reihe, „Cupido“ und „Morpheus“, gelesen habe. Daher war ich positiv verblüfft, als ich meine Nase in „Argus“ steckte und feststellte, dass ich überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, in die Handlung zu finden. Das lag nicht nur daran, dass die Vorgänger mächtig Eindruck bei mir hinterlassen hatten, sondern vor allem an der speziellen Struktur der Geschichte. „C.J. Townsend“ ist keine 0815-Thrillerserie. Die einzelnen Bände erzählen keine abgeschlossenen Fälle, der Fokus liegt nicht auf der Polizei oder auf Behörden wie der CIA oder dem FBI. Seit „Cupido“ dreht sich diese Reihe unmissverständlich um einen einzigen, gigantischen, komplexen Fall, der wächst, mutiert und sich mit jedem Band weiterentwickelt. Es geht nicht um stereotype Ermittler_innen, es geht um das Böse in gewissen Menschen, das sich in spektakulären Auswüchsen krimineller Energie Bahn bricht und um den nachhaltigen Einfluss, den ihre Taten für die Betroffenen bedeuten. Dadurch ergeben sich andere Ansprüche an die Ausarbeitung der Figuren, was mir persönlich sehr entgegenkommt. Jilliane Hoffman war, wie erwähnt, selbst Staatsanwältin. Ich vermute, dass sie in ihren Romanen deshalb tiefgreifende, kritische Fragen aufzuwerfen vermag, die das grundlegende Täter-Opfer-Verhältnis reflektieren und die Fallstricke des US-amerikanischen Rechtssystems illustrieren. In „Argus“ besteht nie ein Zweifel daran, dass Talbot Lunders schuldig ist. Unsere wackere Heldin Daria DeBianchi muss allerdings vor Gericht beweisen, dass er schuldig ist. Anhand der Steine, die ihr durch frustrierende Verfahrensrichtlinien in den Weg gelegt werden, bespricht Hoffman subtil die Grenzen des Rechtsstaats, die Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit und stellt außerdem eine Verbindung zu den bisherigen Ereignissen her. Die Vergangenheit ist in „Argus“ durch den Auftritt von William Bantling aka Cupido äußerst präsent, so präsent, dass es unmöglich ist, den Fall in der Gegenwart von seiner Verurteilung zu trennen. Meinem Empfinden nach ist Bantling sogar deutlich prominenter inszeniert als Lunders, der lediglich als Stellvertreter für die Mitglieder des ominösen Snuff-Clubs fungiert, von dem Bantling bereits Jahre zuvor berichtete. Seine Involvierung verleiht der Handlung das, was mir an den Hoffmans Büchern am besten gefällt: Unberechenbarkeit. Nichts ist sicher oder garantiert, sie behandelt die Wahrheit fließend und konfrontiert ihre Leser_innen mit neuen Wendungen, die diese zwingen, bestimmte Aspekte komplett neu zu bewerten. Für mich war „Argus“ demzufolge herrlich spannend; es hat mir grenzenlosen Spaß bereitet, mal wieder in einen sensationell aufregenden Thriller einzutauchen, mich schockieren und überraschen zu lassen und mich endlich mal nicht darüber ärgern zu müssen, dass sich die Figuren wie wandelnde Klischees verhalten.

 

„Argus“ war eine rundum befriedigende Lektüre. Es stimmt mich optimistisch, dass es noch Thriller-Autor_innen gibt, die mehr aus einem Ermittlungsszenario herausholen als ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mörder_in und Fahnder_innen. Jilliane Hoffman beleuchtet ihren beeindruckend facettenreichen Fall, der die gesamte „C.J. Townsend“-Reihe begleitet, aus verschiedenen Perspektiven und erreicht dadurch sein maximales Potential. Sie schreckt nicht davor zurück, unangenehme Tatsachen wie die Lücken des US-amerikanischen Rechtssystems anzusprechen und nach den ideologischen Grenzen von Gerechtigkeit zu fragen. Bevor ich mich nun verabschiede, möchte ich noch ein potenzielles Missverständnis aufklären. Im Klappentext meiner Ausgabe von „Argus“ steht „Der dritte Band der großen Cupido-Trilogie“, was impliziert, dass die Reihe nach diesem abgeschlossen wäre. Das ist sie nicht. Der nächste Band heißt „Nemesis“. Der deutsche Verlag hatte seine Gründe, diesen Satz abzudrucken – welche das sind, verrate ich aber natürlich nicht. ;-)

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/10/30/jilliane-hoffman-argus
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review 2019-10-22 09:38
Die Anmut von Anpassungsfähigkeit
The Reapers are the Angels - Alden Bell

Werden Autor_innen postapokalyptischer Literatur nach dem Reiz des Genres gefragt, geben sie oft unspezifische Antworten, die sich auf die Faszination der Angst und der Abgründe des menschlichen Wesens beziehen. Deshalb war ich positiv überrascht, als ich Alden Bells Antwort auf diese Frage in einem Interview las. Er glaubt, dass hinter der Leidenschaft für düstere Zukunftsvisionen eine konkrete Freiheitssehnsucht steckt. Seiner Meinung nach werden moderne Menschen im Alltag von so vielen Zwängen beherrscht, dass ihnen die Idee einer zerstörten Welt, in der keine Regeln mehr existieren und in der sie zu den wenigen Überlebenden zählen, die Hoffnung vermittelt, sich selbst neuerfinden zu können. Ich finde, das ist ein interessanter Ansatz, der viel Wahrheit enthält. Auch ich frage mich während der Lektüre von Postapokalypsen häufig, wie ich mich verhalten würde. Ob ich wohl ebenso mutig wäre wie Temple, die Protagonistin in Bells Roman „The Reapers are the Angels“?

 

Temple wurde in eine Welt geboren, die dem Untergang geweiht ist. Sie weiß nichts von der Zivilisation, wie sie einst war. Sie kann weder lesen noch schreiben. Aber sie versteht sich darauf, zu überleben. Allein streift sie durch das Land, ohne Herkunft und ohne Ziel. Die Untoten schrecken sie nicht. Vielmehr muss sie sich vor den Menschen in Acht nehmen. Ein Killer ist ihr auf den Fersen, weil Temple ihm etwas nahm, das ihm viel bedeutete. Sie muss fliehen, doch auf ihrer Flucht begegnet ihr der schutzlose Maury. Ihm zu helfen könnte Temples Weg zur Erlösung sein, um all das Schlechte wiedergutzumachen, das sie getan hat. Denn eines ist gewiss: in dieser neuen Welt sind nicht die Untoten die Monster.

 

„The Reapers are the Angels“ gefiel mir viel besser, als ich erwartet hatte. Ich habe das Buch 2016 gekauft, als ich Dystopien und Postapokalypsen in rauen Massen verschlang. Drei Jahre später hat sich mein Geschmack verfeinert, sodass mich längst nicht mehr jede zombiebevölkerte Zukunftsvision in Begeisterungsstürme versetzt. Ich erkannte, dass dieses Genre, wie jedes andere auch, permanent von Durchschnittlichkeit bedroht ist. „The Reapers are the Angels“ ist keinesfalls durchschnittlich und das liegt meiner Meinung nach maßgeblich an der Protagonistin Temple, deren Perspektive zu den spannendsten zählt, die ich je in der postapokalyptischen Literatur einnehmen durfte. Ich habe bisher wenige Hauptfiguren getroffen, die so sehr im Hier und Jetzt ihrer Gegenwart leben wie Temple. Anfangs erschien sie mir sehr jung, unschuldig und naiv, denn das Buch beginnt auf einer kleinen Insel, auf der Temple sich in einem alten Leuchtturm ein Heim einrichtete. Leider kann sie dort nicht bleiben. Sobald sie gezwungen ist, mit ihrer postapokalyptischen Umwelt zu interagieren, offenbarte sich ihr harter Charakter. Ich möchte betonen, dass ich „hart“ völlig wertungsfrei verwende. Temple muss hart sein. Sie ist brutal unabhängig, beinahe schmerzhaft selbstständig und das alles im zarten Alter von etwa 15 Jahren. Sie nimmt die verwüstete Welt, wie sie ist, erkennt ihre Schönheit, vermisst oder betrauert nichts und reagiert pragmatisch auf jede Herausforderung, die ihr begegnet. Schlagartig wirkte sie deutlich älter, taff und abgebrüht. Nachträglich glaube ich, dass diese Diskrepanz darauf zurückzuführen ist, dass Temple im Schutz der Isolation ihrer Insel den Luxus genoss, nicht erwachsen sein zu müssen und sich deshalb einer Kindheit annäherte, die sie eigentlich nie hatte. Zurück in den Überresten der Zivilisation verkörpert sie eine neue Generation – Menschen, geformt von der Zombie-Apokalypse, die alles tun würden, um zu überleben und sich dessen nicht schämen, weil sie nichts anderes kennen. Bell konfrontiert seine Protagonistin immer wieder mit den Grenzen des Akzeptablen und erforscht, wie weit sie zu gehen bereit ist. Folglich ist die Handlung von „The Reapers are the Angels“ zwar sehr blutig und gewaltgeprägt, vermittelt aber trotzdem eine tiefsinnige, feinfühlige und fast sanfte Ausstrahlung, fern von reißerischer Hysterie. Leise, reflektierte Momente wiegen schwerer als wilde Action und selbst die Zombies spielen nur eine untergeordnete Rolle. In Temples Wahrnehmung sind Zombies gefährliche Tiere, denen sie wann immer möglich einfach aus dem Weg geht. Sie verteidigt sich ausschließlich, wenn ihr keine andere Wahl bleibt und empfindet keine Freude daran, Zombies zu töten. Mich überraschte es dementsprechend nicht, dass Ursache und Auslöser der Zombieplage nie geklärt werden. Bell erläutert nur, was für Temple von Bedeutung ist und das ist tatsächlich nicht viel: das Verhalten der Zombies, ihre Fähigkeiten und wie die Infektion übertragen wird. Alles andere kümmert sie nicht. Braucht es auch nicht, denn schließlich sind die Zombies nicht diejenigen, die sie fürchten muss.

 

Mit „The Reapers are the Angels” verfolgte Alden Bell meiner Ansicht nach das Ziel, das Potential der Zerstörung zu untersuchen. Er konzipierte einen Neuanfang für die Welt und erkundete, welches Leben aus der Asche einer glorreichen Vergangenheit hervorgehen könnte. Dazu bediente er sich einer Protagonistin, die in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist und sich hervorragend dazu eignet, die Erwartungshaltung seiner Leser_innen durcheinanderzuwirbeln. Temple ist keine stereotype Heldin, sondern ein echtes Unikat. Ich bin ein riesiger Fan von ihr, weil sie zahlreiche paradoxe Eigenschaften vereint und dennoch glaubwürdig erscheint. Ihre Geschichte berührte und begeisterte mich, denn für mich personifiziert sie die Anmut von Anpassungsfähigkeit. Temple ist, wer sie ist – ein Kind der Postapokalypse, die Zukunft der Menschheit. Ihre bloße Existenz stellt ein literarisches Ausrufezeichen dar. Die lose Fortsetzung „Exit Kingdom“ ist meinem Empfinden nach daher überflüssig. Ich glaube nicht, dass ich sie lesen werde. Manche Geschichten sollten einfach so stehen bleiben, wie sie sind.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/10/22/alden-bell-the-reapers-are-the-angels
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review 2019-09-17 10:52
Der zauberhafte Abschluss eines modernen Märchens
Winter - Marissa Meyer

„Winter“ ist der finale Band der „Lunar Chronicles“ und eine Adaption von „Schneewittchen“. Dabei war Prinzessin Winter, Marissa Meyers dunkelhäutige Version des Schneewittchens, ursprünglich nur als Nebenrolle gedacht. Meyer wollte sich eigentlich auf Levana als böse Königin und Jacin als Jäger konzentrieren. Doch je weiter die Reihe voranschritt, desto nachdrücklicher verlangte Winters außergewöhnlicher Charakter die Aufmerksamkeit der Autorin. Sie wuchs mit der Geschichte, bis sie zu faszinierend war, um sie zu ignorieren. So ergatterte die junge, bildschöne Prinzessin noch im letzten Band eine Hauptrolle – neben Cinder, Scarlet und Cress.

 

Königin Levana muss fallen. Niemals wird sie ihre Pläne, die Herrschaft über die Erde an sich zu reißen, aufgeben. Niemals wird sie Lunas Volk aus ihrem eisernen Griff entlassen. Cinder und ihre Freunde müssen sie aufhalten, bevor sie ihre skrupellosen Absichten in die Tat umsetzen kann. Ihnen bleibt nur eine Option: sie müssen nach Luna gelangen, um dort Cinders wahre Identität als rechtmäßige Thronerbin zu offenbaren. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt Artemisia werden sie von den Thaumaturgen der Königin entdeckt. Im anschließenden Chaos wird die Crew der Rampion getrennt. Während Cinder, Thorne, Wolf und Iko in die Außenbezirke fliehen können, muss sich Cress im Palast mitten unter Feinden verstecken. Gerade, als sie glaubt, alles sei verloren, erhält sie unerwartet Hilfe. Levanas ungeliebte Stieftochter Prinzessin Winter und ihr Leibwächter Jacin verbergen sie vor den Augen der Königin und ihrer Schergen. Winters Schönheit, ihre Großzügigkeit und Freundlichkeit sind legendär. Aber man erzählt sich auch, dass Winter verrückt ist. Kann sie Cinder und ihre Freunde dennoch dabei unterstützen, eine Revolution auszulösen, die Levana endgültig zu stürzen vermag?

 

Ich glühe. Aus meinem Herzen strahlen Wärme und aufrichtige Liebe. Ich wusste ja, dass Marissa Meyer Talent besitzt, aber mit der emotionalen Wirkung, die „Winter“ auf mich hatte, hätte ich trotz dessen niemals gerechnet. Sie hat sich selbst übertroffen. Das Buch ist wundervoll und enthält alles, das ich mir unbewusst für das Finale der „Lunar Chronicles“ wünschte: eine aufregende, spannende Handlung, die alle Elemente plausibel vollendet und eine ansteckende Revolution fokussiert; Herausforderungen für die Charaktere, die diese überzeugend und mitreißend bewältigen und die respektvolle Adaption eines alten Märchens, die den Spagat zwischen Moderne und Klassik meistert, ohne die Originalität der Geschichte zu behindern. Es ist garantiert nicht einfach, im letzten Band einer Reihe eine neue Protagonistin vorzustellen und sie als gleichwertig zu etablieren, wenn alle anderen Figuren längst einen Vorsprung haben. Es sollte mich eigentlich nicht überraschen, dass es Meyer in „Winter“ dennoch gelang, Prinzessin Winter homogen in die Handlung der „Lunar Chronicles“ einzuarbeiten, schließlich lobe ich die Autorin seit drei Bänden dafür, dass sie ihr Universum ständig erweitert und ausbaut, aber meine uneingeschränkte Bereitschaft, Winter in meine Arme zu schließen, erstaunte mich. Natürlich half es, dass mir der Zwischenband „Fairest“, den ich nun umso mehr als wertvolle Ergänzung betrachte, bereits eine Ahnung von der komplexen, belasteten Beziehung zwischen Winter und Königin Levana vermittelte, doch ich war überwältigt davon, wie leicht es ist, die bildschöne Prinzessin trotz ihrer mentalen Instabilität und ihren daraus resultierenden Verrücktheiten zu mögen. Winter verkörpert den Geist von „Schneewittchen“ hervorragend, die Unschuld, Naivität und Liebeswürdigkeit des Märchens, wirkt durch ihre persönliche, tragische Biografie allerdings nicht austauschbar oder stereotyp. Sie ist lebendig und ich liebte es, ihre unkonventionellen Gedankengänge zu beobachten. Meyers Idee, sie im Verlauf von „Winter“ außerdem mit Scarlet zusammenzustecken, die zu Beginn des Buches noch immer in Artemisia gefangen ist, verdient Applaus. Ich kann mir kein passenderes Duo vorstellen, weil sie einander bemerkenswert ergänzen. Grundsätzlich ist die Dynamik der Figuren dieser Reihe eine Sensation, die in diesem Finale ihren Höhepunkt erreicht. In Märchen ist die Liebesgeschichte zwischen Prinz und Prinzessin oft zentral – ich schätze es unheimlich, dass dieser Aspekt in den „Lunar Chronicles“ zwar ebenfalls wichtig ist und sogar die verkümmerte kleine Romantikerin in mir ansprach, aber die Handlung selten essenziell beeinflusst. Unsere Heldinnen treffen stets vernünftige Entscheidungen, die auf der vorliegenden Sachlage basieren. Sie sind nicht verblendet oder schwächer aufgrund ihrer Gefühle, sie schöpfen Stärke aus ihnen. Ich empfinde das als empowering und freue mich über das emanzipierte, realistische Frauenbild, das Meyer ihren Leser_innen bietet. Könnte nur jeder Young Adult – Roman so sein.

 

„Winter“ ist ein Finale, das diese Bezeichnung wirklich verdient. Es ist nicht einfach eine weitere Geschichte im Universum der „Lunar Chronicles“, sondern die Summe aller vorangegangenen Bände, ihre Fortsetzung und logische Konsequenz. Ich bin sehr glücklich, dass Marissa Meyer das moderne Märchen, das in „Cinder“ begann, mit diesem Abschluss ordentlich ausklingen lässt. Ein abrupter Abbruch hätte alles, was sie bis dahin leistete und ihren Figuren abverlangte, geschmälert. Sie behandelt ihre Held_innen anständig und fair und gesteht ihnen die Chance zu, wahrhaft über sich hinauszuwachsen. Deshalb fand ich „Winter“ fabelhaft und rührend. Es ist ein zauberhaftes Ende, das mir den Abschied ungemein erleichterte, weil es mich sowohl emotional als auch intellektuell befriedigte. Ich bin sonst sehr geizig mit 5-Sterne-Bewertungen, aber in diesem Fall musste ich die Höchstwertung auspacken. Marissa Meyer verdient diese Ehrung und darüber hinaus einen festen, dauerhaften Platz in meinem Bücherregal.

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review 2019-07-24 09:55
Kamera, Licht, Tod
Dark Wood: Horrorthriller - Thomas Finn

Es ist erstaunlich, wie viele deutsche Fantastik-Autor_innen ihre Wurzeln in dem populären Pen-&-Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge sehen. Thomas Finn ist einer von ihnen. Seit 1984 ist er ein begeisterter Fan und arbeitete nach einigen beruflichen Umwegen sogar als Redakteur für den Herausgeber, den Schmidt-Spiele Verlag. Bis heute bemüht er sich, sich einmal die Woche mit Freunden zu einem Rollenspielabend zu treffen. DSA hatte erheblichen Einfluss auf seine literarische Laufbahn, weil ihn die Position als Spielleiter „das komplette Handwerkszeug der Dramaturgie“ lehrte, ihm beibrachte, wie man eine Zielgruppe spannend unterhält und ihn auf Auftritte vor Publikum (z.B. bei Lesungen) vorbereitete. Außerdem ist ein fantastisches Rollenspiel selbstverständlich hervorragender Nährboden für Romanideen. So basiert auch sein Horror-Thriller „Dark Wood“ auf einem Rollenspiel-Abenteuer.

 

Worauf haben sie sich da nur eingelassen? Drei Tage in der norwegischen Wildnis, allzeit umgeben von Kameras. Riskante Aufgaben, die ihre Teamfähigkeit unter Beweis stellen sollen. Eine Produktionsfirma, die von ihnen publikumswirksames Drama sehen will. Stünde die Hamburger Werbefirma STUDIO Alsterblick nicht am Rande des Bankrotts, hätten sich die sechs Angestellten Dagmar, Gunnar, Sören, Lars, Bernd und Katja niemals dazu überreden lassen, an der TV-Reality-Show SURVIVE teilzunehmen. Das Preisgeld von 500.000 Euro kann das Fortbestehen der Firma sichern – und demzufolge auch ihre Jobs. Fest entschlossen, das Geld einzustreichen, ohne sich manipulieren zu lassen, treten die sechs die Reise in die düsteren, einsamen Wälder Norwegens an. Doch kaum sind sie dort angekommen, beginnt die Situation außer Kontrolle zu geraten. Nicht alle sind an der Rettung der Agentur interessiert. Streit, Lügen und Geheimnisse vergiften die Stimmung, sodass das Team zu spät bemerkt, dass sie nicht allein sind. Sie werden beobachtet – und schon bald müssen sie tatsächlich um ihr Überleben kämpfen…

 

Wie bringt man sechs Menschen dazu, sich so richtig schön an die Gurgel zu gehen? Man setzt sie in der norwegischen Wildnis aus, richtet Kameras auf sie, zerrt ihre dunkelsten Geheimnisse ans Licht und konfrontiert sie mit einer unheimlichen Bedrohung. „Dark Wood“ war eine atemlos aufregende Lektüre, die mich auf verschiedenen Ebenen äußerst gut unterhielt. Wir mögen das Reality-TV belächeln und als geschmacklos kritisieren, aber niemand kann angesichts der Einschaltquoten leugnen, dass das Prinzip funktioniert. Dieses erfolgreiche Prinzip macht sich Thomas Finn für seinen Thriller hervorragend zu Nutze. „Dark Wood“ ist eine mitreißende Mischung aus voyeuristischer Reality-Show und unheimlichem Horrorstreifen. Sechs Angestellte sollen in Norwegens Wäldern ihre Hamburger Werbeagentur vor dem finanziellen Ruin bewahren und sich dabei im Fernsehen möglichst effektvoll zum Affen machen. Anfangs schwören sie alle, die psychologischen Mechanismen der Show durchschaut zu haben und keinesfalls auf die Manipulationen der Produktionsfirma hereinzufallen. Sie geloben Zusammenhalt für den guten Zweck – nur um dann in „vertraulichen“ Einzelinterviews bei der kleinsten Provokation vor laufenden Kameras pikante Firmeninterna und ernste Anschuldigungen auszuplaudern. So weit her ist es mit der Harmonie zwischen ihnen nämlich nicht und die Zukunft der Firma kümmert sie maximal sekundär. Sie alle bringen ihre persönliche Agenda mit, was ihre Gruppendynamik maßgeblich beeinträchtigt. Dadurch entstand von Beginn an eine reizbare Atmosphäre von Misstrauen und Unfrieden, die sich verhängnisvoll mit der finsteren, überzeugenden Ausstrahlung des Settings verband und der ich mich nicht entziehen konnte. Ich fragte mich ständig, was an den gegenseitigen Vorwürfen dran ist und fieberte mit einer gehörigen Portion Sensationslust neuen Enthüllungen entgegen. Tatsächlich empfand ich die allzu menschliche Tendenz des Teams, unter Stress schmutzige Wäsche zu waschen, prickelnder als die äußeren Gefahrenquellen, die ihnen Finn zusätzlich aufhalst. „Dark Wood“ verfügt sowohl über historische als auch über paranormale Aspekte, die der Autor glaubwürdig und selbstbewusst händelt. Bizarre Wesen, Wikingerartefakte und Überbleibsel aus der NS-Zeit sorgen für abwechslungsreichen Nervenkitzel, meine Angstfantasien sprachen sie aber leider nicht an. Ich gruselte mich nicht, möchte dies jedoch als rein subjektiven Kritikpunkt festhalten. Horror ist stets sehr individuell und intim und es ist nicht Thomas Finn anzukreiden, dass er bei mir daneben lag. Dennoch fand ich, dass er seinen Leser_innen sehr früh verrät, welche Kreaturen dort im Wald lauern. Mir hätte es besser gefallen, wenn er meine Fantasie etwas länger sich selbst überlassen hätte, denn nichts ist schauriger als die eigene Vorstellungskraft. Trotz dessen gebe ich gern zu, dass er mich am Ende noch mal gewaltig überraschte. Ich muss ziemlich verdattert dreingeschaut haben – mit dieser Wendung hatte ich absolut nicht gerechnet!

 

„Dark Wood“ bescherte mir packende Lesestunden. Es ist ein guter, fesselnder mystischer Thriller, der sich erfrischend leicht liest. Mir gefiel vor allem die Analogie zu TV-Reality-Shows. Ich beobachtete fasziniert, wie die gleichen Abläufe, die ich in bestimmten Fernsehformaten ohne zu zögern verteufeln würde, in diesem Buch bei mir griffen und mich gierig Seite um Seite verschlingen ließen. Doch auch abgesehen vom bissigen Kleinkrieg der Figuren fand ich „Dark Wood“ wirklich unterhaltsam und souverän konzipiert. Obwohl sich die Geschichte aus recht vielen Komponenten zusammensetzt, wirkt sie nicht überfrachtet, denn Thomas Finn balanciert sie mühelos aus. Ich schätze das Buch als die perfekte Urlaubslektüre für Leser_innen ein, die es in den Ferien nervenaufreibend und kurzweilig mögen. Nur wer Urlaub in Norwegen macht, sollte vielleicht lieber darauf verzichten. ;-)

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/07/24/thomas-finn-dark-wood
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review 2019-07-23 09:17
Vornehmes Understatement
The Core (Demon Cycle #5) - Peter V. Brett

Peter V. Bretts Demon Cycle“ wurde im Verlauf von neun Jahren veröffentlicht. Insgesamt arbeitete der Autor jedoch deutlich länger an dem Fünfteiler, nämlich seit 1999. 18 Jahre verbrachte er mit der Geschichte und wusste von Anfang an, wie sie enden würde. Sein bestgehütetes Geheimnis. Deshalb war das Erscheinen des Finales „The Core“ 2017 für ihn emotional weniger aufreibend als für seine Fans, denn er hatte wesentlich mehr Zeit, sich konkret auf den Abschied vorzubereiten. Dennoch gesteht er, dass ihn der Abschluss der Saga sehr stolz macht – vollkommen zurecht, schließlich verdiente er sich mit dem Demon Cycle“ einen Platz in der A-Liga der High Fantasy.

 

„Der Schwarm wird kommen“. Zuerst halten Arlen, Renna und Jardir die düstere Prophezeiung des dämonischen Prinzgemahls Alagai Ka für eine Lüge. Doch seine lustvolle Genugtuung, als er ihnen erklärt, welche Folgen seine Gefangenschaft haben wird, kann keine Täuschung sein. Genüsslich berichtet er, dass die Dämonenkönigin bald Eier legen wird, aus denen weitere, junge Königinnen schlüpfen werden. Da er eingesperrt ist und seine stärksten Nachkommen ausgelöscht wurden, werden die verbliebenen, schwächeren Prinzen die Eier stehlen und fliehen, um überall in Thesa neue Dämonennester zu gründen. Der Hunger der frischgeschlüpften Königinnen wird unersättlich sein. Die Städte der Menschen schweben in höchster Gefahr, denn weder Siegel noch Mauern können dem Schwarm dauerhaft standhalten. Unwissentlich verdammten Arlen, Renna und Jardir die Menschheit. Ihnen bleibt keine andere Wahl, als Arlens riskanten Plan in die Tat umzusetzen und Alagai Ka zu zwingen, sie in den Horc zu führen. Können sie die gefährliche Reise durch das verschlungene Labyrinth des Abgrunds zur Brutkammer überleben und die Königin töten, bevor ihre Verbündeten an der Oberfläche von den Vorboten des Schwarms in die Knie gezwungen werden?

 

Ich beendete den Demon Cycle“, wie ich ihn begonnen habe: mit einem Leserausch. Die letzten 270 Seiten von „The Core“ verschlang ich innerhalb einer Nacht, weil ich einfach nicht schlafen gehen wollte, ohne zu wissen, wie das Buch endet. Ja, ich hatte Spaß. Es handelt sich um ein logisches, stimmiges und spannendes Finale, das die Reihe würdevoll und rund abschließt. Meiner Ansicht nach beinhaltet es keine losen Enden und wird den meisten Figuren gerecht. Ich bin zufrieden. Zufrieden, doch leider nicht überwältigt. „The Core“ ist ein intelligent und packend konstruierter High Fantasy – Roman, dessen Qualität ich keinesfalls absprechen möchte. Peter V. Brett wusste, was er tat, als er ihn schrieb und die Autorität, die er auf seine Geschichte vom ersten Band bis zu diesem Reihenabschluss ausübt, beeindruckt mich. Auf mich wirkte er von Beginn an kontrolliert und perfektionistisch, wodurch der Demon Cycle“ als ausgesprochen gewissenhafte, souveräne Reihe überzeugt. Der kleine, aber feine Nachteil dieses etwas pedantischen Stils liegt darin, dass er emotionale Intensität häufig vernachlässigt. Brett ist eher nüchterner Chronist als tief involvierter Akteur. Er ist nicht mittendrin, er bleibt distanziert, ja beinahe kühl und hielt auch mich als Leserin emotional zurück. „The Core“ stach mir nicht ins Herz, ich empfand keine starke Trauer oder Euphorie, obwohl ich mich über gewisse persönliche Fortschritte der Figuren natürlich freute. Der Abschied fiel mir überraschend leicht, weil ich erst sehr spät verinnerlichte, dass das Ende bevorstand. Brett setzte die Messlatte bisher so hoch an, dass eine Steigerung äußerst schwierig war und mir alle Entwicklungen daher als naheliegende Konsequenz erschienen. Tempo und Dramatik gleichen den vorangegangenen Bänden bis aufs Haar, trotz verschärfter Bedingungen. Den Menschen in Thesa wird bewusst, dass sie bislang nur die Spitze der dämonischen Bedrohung erlebt haben. Ihre Städte hätten längst überrannt werden können – die Horclinge erlaubten ihnen lediglich, sich sicher zu wähnen. Nun sehen sie sich koordinierten Angriffen ausgesetzt und erkennen, dass sie nahezu hoffnungslos unterlegen sind. Die Szenen an der Oberfläche fand ich sehr aufregend, wenngleich sie ausschließlich die gesellschaftliche Elite fokussieren und einige Entscheidungen bestimmter Individuen für mich nicht nachvollziehbar waren. Dennoch fühlte sich „The Core“ für mich kaum wie ein Finale an. Es fehlte der letzte Kick, der berühmte Wow-Effekt und die Atmosphäre schicksalhafter Endgültigkeit, die ich mir immer für einen Reihenabschluss erhoffe. Arlen ist der einzige, der mit einer ergreifenden letzten Szene von eleganter Schönheit einen echten Schlussakkord erhält, andere Charaktere mussten sich mit einem recht abrupten Ende abfinden. Irgendwie waren die letzten Seiten dann doch mehr Kurzschluss als Feuerwerk.

 

Ich bin nicht enttäuscht von „The Core“. Keineswegs. Ich hätte mir zwar mehr Pathos und Theatralik gewünscht, die die endgültige Atmosphäre transportieren, aber wenn ich ehrlich bin, hätte das nicht zu Peter V. Brett gepasst. Er ist eher der Typ für vornehmes Understatement. Außerdem glaube ich, dass der Demon Cycle“ dieses schlüssige, aber unaufgeregte Finale ohne Weiteres verkraftet, weil es eben nicht das Ende ist. Ich vermutete es bereits, als Stück für Stück die nächste Generation der Figuren auftauchte und sehe mich nun bestätigt: er kehrt in sein Universum zurück. Sein nächstes Projekt ist voraussichtlich eine Trilogie, die 15 Jahre nach den Ereignissen in „The Core“ spielt und – soweit ich es verstanden habe – die Kinder der Held_innen des Demon Cycle“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken wird. Auftritte bekannter Gesichter inklusive. Man munkelt, der erste Band wird „The Desert Prince“ heißen. Amazon listet ihn für den 17. Oktober 2019, was ich durchaus für möglich halte. Angesichts dieser Neuigkeit erstaunt es mich nicht, dass „The Core“ keinen epischen, tränenreichen Abschied inszeniert – schließlich ist es nur ein Abschied auf Zeit.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/07/23/peter-v-brett-the-core
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