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review 2019-03-11 15:50
Tierliebe Nachhaltigkeit und Nutztierdachhasen*
Schiff oder Schornstein - Andrea Stift-Laube

Die Autorin hat ihren Roman in ein ethisch philosophisch sehr interessantes Setting eingebaut: Tierliebe und Tierschutz, Veganismus, nachhaltige und ressourcenschonende Lebensweise, Austeigerleben in der Kommune, ökologisches Engagement bei Greenpeace, ökologische Gesamtbetrachtung von allen Komponenten, Tierschutz im Konflikt mit Artenschutz … All diese Themen und Positionen, die vor allem von Menschen, denen der Planet nicht egal ist, durchaus sehr kontrovers diskutiert und verbissen gegeneinander verfochten werden, werden sehr konsistent und glaubwürdig in den Plot und in die sich nach und nach entwickelnden Meinungen der Protagonisten eingewoben.

 

Basierend auf der Geschichte zweier Schwestern, von denen eine plötzlich nach einem Greenpeace Einsatz spurlos verschwunden ist, wird die Vergangenheit in der Familie, die Kindheit der beiden Mädchen und die Entwicklung zum gegenwärtigen Weltbild und der nachhaltigen Lebensweise Schritt für Schritt verständlich aufgerollt. Das beginnt in der Kindheit bei der ersten Verweigerung von tierischen Lebensmitteln respektive Schnecken und endet bei dem derzeitig ökologisch geprägten Lebensstil. Dabei haben die Schwestern mit ähnlichen Prinzipien im Detail auf Grund ihres unterschiedlichen Charakters und ihrer differierenden Lebenssituationen – eine der beiden Schwestern ist nicht bei den Eltern sondern bei der Großmutter aufgewachsen – durchaus unterschiedliche Positionen zu dem Thema Nachhaltigkeit und Öko-Kampf. Ila, die von der Oma geprägt wurde, denkt sehr ganzheitlich und pragmatisch, grenzt sich aber auch persönlich vom missionarischen Eifertum ihrer Schwester ab und ist nicht so risikofreudig und geduldig mit Menschen wie Franziska, die ja nun spurlos verschwunden ist.

 

Mit ins Spiel kommt dann auch noch Konstantin, Kommunenpartner von Franziska und in diese hoffnungslos verliebt, der eigentlich mit seiner ökologischen Einstellung nur ein bisschen gegen den konventionellen Fleischerzeugungsbetrieb seiner Eltern oder vielleicht sogar nur gegen seine Eltern rebelliert.

 

Nach zwei Dritteln des Romans wird ein ganz heißes Eisen an der Ökofront aufgegriffen und in die Story eingewoben. Auf der Suche nach und in Erinnerung an die verschwundene Franziska nähern sich Konstantin und Ila an und beginnen gemeinsame Ideen umzusetzen. Die nachhaltigen Tierschützer und Öko-Faserschmeichler entwickeln sich zu beinharten Artenschützern und gründen den Katzenfleischversand Felifell. Was eigentlich als fiktives Kunstprojekt beginnt, um einen inszenierten Skandal zu verursachen, die Tierschützer zur Diskussion über Artenschutz anregen und allen anderen gedankenlosen Menschen ihre Scheinheiligkeit vor Augen führen soll, wird zumindest als Konstrukt, Marke und im Rahmen eines Webauftritts Realität. Da die Katzenpopulation im ganzen Land unbeherrschbar wächst und alle mittlerweile stark bedrohten Tierarten wie Singvögel, Maulwürfe und Insekten… meuchelt, sollen sie anstatt der Schweine als Nutztierfleisch herhalten. Diese Idee hat im Sinne von Artenschutz etwas zwingend Logisches und hält zudem den doch zu Haustieren sehr affinen Personen, die sich gar nicht für Ökologie interessieren, einen Spiegel vor, um sie zum Nachdenken zu bringen, wie sie mit Schweinen und Hühnern und anderen Nutztieren umgehen. Selbstverständlich sollen die hypothetischen Nutztierkatzen biologisch und artgerecht gehalten werden und mit 6 Monaten, bevor das Fleisch zäh wird und die Tiere ihren Jagdtrieb voll ausleben, geschlachtet werden.

… denn nur mit einem Angriff auf den liebsten Begleiter des Österreichers, Hund oder Katz, sei es möglich, einen Diskurs über ethische Bedenken bezüglich des Verzehrs von Nutztierfleisch loszutreten, ja über den Konsum tierischer Ressourcen überhaupt. Die anderen machten sich über Felifell lustig. Der Name sei eine Verhöhnung der haustierliebenden Bevölkerung. Und dann erst die von uns angebotenen Produkte. Felifell Falafel, gefrorene Fleischbällchen im Zehnerpack. Feligulasch im Recycling-Glas. Felifischerl im Stück.

Neben dem Skandal und den einhergehenden Morddrohungen wird die Story um das fiktive Kunstprojekt noch um einen Tick kurioser, denn unvermittelt tauchen die Chinesen auf, versuchen Ila und Konstantin zu korrumpieren und bieten den beiden für ihre Geschäftsidee, die Marke, den Namen und die Website einen Batzen Geld. Die nachhaltige öko-zertifizierte Katzenfleischzucht soll Realität werden. Auf diesem Weg lässt sich der Fleischerzeugersohn verführen, korrumpieren, er hintergeht Ila und verkauft das Konzept tatsächlich hinterrücks an die Chinesen. Die Katzenfleischfabrik Felifell wird grausame Wirklichkeit. Solche schrägen Geschichten und unerwartete Wendungen zum Nachdenken liebe ich übrigens sehr.

 

Leider ist das Ende wieder mal sehr unbefriedigend. In der Kernstory, also in der Angelegenheit der verschwundenen Franziska, tut sich gar nichts. Weder wird bis zur letzten Seite eine Leiche gefunden, noch taucht sie nach Jahren lebend wieder auf. So etwas ist für mich als Leserin genauso unbefriedigend wie für echte Betroffene, die auch wissen wollen, was nun wirklich passiert ist, um mit der Geschichte abschließen zu können. Angehörigen von Abgängigen ist es sogar lieber, wenn eine Leiche gefunden wird. Sie wollen so einen unendlichen Schwebezustand schon in der Realität nicht akzeptieren, geschweige denn in einer erfundenen Geschichte ist das ein adäquater Abschluss oder gutes Schreibhandwerk.

 

Manchmal frage ich mich ob des grassierenden inflationären Einsatzes des Stilmittels, in der Kernfrage einer Geschichte einfach auf der letzten Seite symbolisch den Bleistift fallen zu lassen, ob die angehenden Schriftsteller jetzt in den kreativen Schreibschulen lernen, dass ein offenes Ende so cool ist? Ist das so eine unnötige Mode wie damals die ach so pseudoinnovativen abgeschnittenen sinnlosen Porträtbilder, auf denen die dargestellte Person manchmal gar nicht mehr erkennbar war? Ein Finale mit drei möglichen Ausgängen wie bei Ishiguros „Damals in Nagasaki“ finde ich grandios, aber ein völlig offenes Ende finde ich total entbehrlich, schlampige Arbeit und einfach Leserverarsche.

 

Fazit: Bis auf den Schluss eine ausgezeichnete Geschichte, sehr gut konzipierte Figuren, das ethische Thema wird in vielen Facetten beleuchtet, regt zum Nachdenken an und ist zudem auch noch kurios und mit schwarzem Humor präsentiert. Lesenswert!

 

*Dachhase ist eine alte kulinarische Bezeichnung für ein Katzengericht. Zu Zeiten der 2. Türkenbelagerung Wiens 1683 sollen sich die ärmeren Bevölkerungsgruppen mangels anderer Nahrung unter anderem von Katzenfleisch ernährt haben.

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review 2017-11-21 10:29
Der Zauber ist ungebrochen
London: Ein Uralte Metropole Roman - Christoph Marzi

Die „Uralte Metropole“ von Christoph Marzi war für meine Entwicklung als Leserin ebenso wichtig wie „Harry Potter“. Die vier Bücher rund um das Waisenmädchen Emily Laing und die magische Stadt unter London prägten mich maßgeblich. Seit ich sie das erste Mal als Teenager las, bin ich immer wieder zu dieser bezaubernden Geschichte zurückgekehrt. Beim Erscheinen des letzten Bandes „Somnia“ war ich 19. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass Christoph Marzi mir acht Jahre später einen weiteren Band schenken würde. Ich traute meinen Augen nicht, als ich „London“ in der Verlagsvorschau von Heyne entdeckte. Weihnachten, mein Geburtstag und Ostern fielen zusammen. Eine Fortsetzung der Geschichte, die mir so viel bedeutet – ich musste nicht überlegen, ob sie lesen wollte.

 

Die Welt ist gierig und manchmal verschlingt sie Städte mit Haut und Haaren. Nach einem Besuch in Cambridge wartet Emily Laing auf den Zug nach London. Sie ist müde und traurig, möchte nach Hause, zurück in die Stadt der Schornsteine, wo sie die Ängste eines kleinen Jungen vergessen kann. Doch der Zug kommt nicht. Seltsamerweise scheint sich niemand daran zu stören. Irritiert befragt Emily einen Mitreisenden. Sie erntet Ratlosigkeit. Eine Stadt namens London existiere nicht, behauptet er. Veralbert er sie? Das kann nicht stimmen. Verunsichert zieht Emily das Internet zu Rate und erhält dieselbe Antwort: die Stadt der Schornsteine, die Metropole am dunklen Fluss, ist verschwunden; verschluckt, als hätte es sie niemals gegeben. Was geht da vor sich? Wie können sich ganz London und mit ihr die Stadt unter der Stadt plötzlich in Luft auflösen? Noch einmal müssen Emily und ihre Gefährten all ihren Mut zusammennehmen, um London zu retten – mit Leib und Seele.

 

„London“ lag etwa ein Jahr auf meinem SuB. Wieso, werdet ihr euch fragen, habe ich so lange mit der Lektüre gewartet, obwohl es sich bei der „Uralten Metropole“ für mich um eine Herzensgeschichte handelt? Die Antwort lautet: weil sie eine meiner Herzensgeschichten ist. Ich hatte Angst, all meine hoffnungsvollen, euphorischen Erwartungen leidvoll sterben zu sehen. Mein Verhältnis zu Christoph Marzi ist schwierig; in der Vergangenheit enttäuschte er mich häufig. Keines seiner Bücher, die ich nach die „Uralte Metropole“ las, entfachte in mir die gleiche Begeisterung. Ich fürchtete mich davor, einsehen zu müssen, dass „London“ den Vorgängern nicht gerecht wird. All das emotionale Gepäck, das ich mit der Reihe verbinde, hielt mich zurück. Es kostete mich enorme Überwindung, „London“ eine faire Chance einzuräumen und mich nicht von meinen Befürchtungen einschüchtern zu lassen. Ich habe nicht bereut, die Lektüre gewagt zu haben. Ganz im Gegenteil: ich liebe „London“. Ich wurde für den Vertrauensvorschuss, den ich Christoph Marzi zugestand, reich entlohnt. Während des Lesens fühlte ich mich wie eine Katze vor dem Ofen, behaglich, warm und kuschlig. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte angefangen zu schnurren. Dieser fünfte Band ist die literarische Personifizierung von Heimkehren. Ich bin so dankbar und erleichtert, dass die späte Fortsetzung gelungen ist und die Geschichte zu ihren Wurzeln zurückträgt, nachdem „Somnia“ einen drastischen Zeitsprung involvierte. Inhaltlich ist „London“ zwischen „Lumen“ und „Somnia“ angesiedelt. Obwohl ich entschieden hatte, auf einen Reread der Reihe zu verzichten, hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, wieder in Marzis magische Welt hineinzufinden und habe mich in der Gesellschaft altbekannter Figuren sofort pudelwohl gefühlt. Der Zauber ist ungebrochen. Emily steht erneut im Mittelpunkt – älter, reifer und ihrer kindlichen Illusionen beraubt. Das Waisenmädchen ist erwachsen geworden. Sie strahlt eine melancholische Aura aus, die einerseits hervorragend zu der atemberaubenden Kulisse Londons im Winter passt und andererseits unmittelbare Nähe initiierte. Ich wollte sie trösten, in den Arm nehmen und ihr zuflüstern, mutig und stark zu sein. Ich fühlte mich für sie verantwortlich, weil ich sie schon so lange begleite und wollte ihr helfen, das Rätsel um das verschwundene London zu lösen. Ich tauchte tief in die Geschichte ein, empfand mich als Teil selbiger, musste ich mich allerdings mit der Rolle der Beobachterin begnügen und es Emily und ihren Gefährten überlassen, die Stadt am dunklen Fluss zu retten. Ich war stets überzeugt, dass die „Uralte Metropole“ nicht nur eine bezaubernde Geschichte, sondern auch eine Liebeserklärung an London ist. In „London“ ist diese Liebe stärker spürbar denn je. Christoph Marzi durchschaut das Wesen der Stadt und beschreibt ihre Seele intim und zärtlich in einer Handlung, die den Vorgängern in Spannung und Mystik in nichts nachsteht. Das Ende geriet vielleicht etwas hastig und unspektakulär, doch Marzi betont wohlwissend, dass es kein Abschluss ist. Nichts endet jemals wirklich und möglicherweise werden uns in Zukunft weitere Abenteuer mit Emily erwarten. Fragen Sie nicht.

 

Meine Rückkehr in die Welt der „Uralten Metropole“ ließ mein Herz in einem warmen, weichen Licht leuchten. Gerade weil ich solche Angst hatte, von „London“ enttäuscht zu werden, erfüllt mich die stabile Überzeugungskraft des Buches mit einem strahlenden, liebevollen Glücksgefühl, das ich in dieser Intensität nur sehr selten beim Lesen erlebe. Es gibt viele gute Bücher, die mich begeistern. Aber es gibt nur wenige Herzensgeschichten. Die „Uralte Metropole“ ist auch 13 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes „Lycidas“ ein Teil von mir, ein Teil meiner eigenen Geschichte, untrennbar mit mir verbunden und jetzt erweitert durch „London“. Ich möchte Christoph Marzi meinen tiefempfundenen Dank aussprechen. Danke, dass Sie meine Erinnerungen behutsam behandelten und sie nicht kaputtmachten. Das bedeutet mir mehr, als ich ausdrücken kann. Vielleicht mussten acht Jahre bis zur Fortsetzung vergehen, damit diese den Vorgängern würdig sein und ich sie in mein Herz lassen konnte. Es gibt keine Zufälle.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/11/21/christoph-marzi-london
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