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review 2016-09-20 10:03
Schuster, bleib bei deinen Leisten
Runa: Roman - Vera Buck

Die Karriere des jungen Schweizer Arztes Jori Hell steckt fest. Seit Jahren lebt er in Paris, studiert an der berühmten Klinik Salpêtrière unter dem großen Neurologen Dr. Jean-Martin Charcot und kümmert sich um Patient_innen – doch die Doktorarbeit, für die er einst nach Paris zog, ist noch nicht geschrieben. Schlimmer noch, Dr. Charcot kennt nicht einmal seinen Namen, obwohl Jori regelmäßig die berüchtigten Dienstagsvorlesungen besucht, in denen Hysterikerinnen zu Unterrichtszwecken publikumswirksam hypnotisiert und vorgeführt werden. Erst als eines Dienstagabends ein junges Mädchen präsentiert wird, ändert sich Joris ziellose Routine schlagartig. Runa passt in keines der bekannten Krankheitsschemata, nicht einmal Dr. Charcot weiß, was dem Mädchen fehlt. Nur, dass sie verrückt ist, darin sind sich alle einig. Wäre sie gesund, würde sie sich kaum wie ein wildes Tier gebärden. Jori sieht seine Chance gekommen, sich zu profilieren und endlich seinen Doktortitel zu ergattern. Spontan schlägt er eine Hirnoperation vor, die Runas Verhalten korrigieren soll. Überraschenderweise erteilt ihm Dr. Charcot die Erlaubnis dazu und bietet sich sogar als Doktorvater an. Ein Rückzieher ist nun nicht mehr möglich. Jori hat keine andere Wahl, als seinen überhasteten Worten Taten folgen zu lassen. Je intensiver er sich mit Runa befasst, desto tiefer werden die Einblicke in den erniedrigenden Alltag der Patient_innen in der Salpêtrière. Er lernt die Schattenseiten einer Klinik kennen, die sich damit brüstet, weltweit als fortschrittlich zu gelten und muss sich fragen, ob seine Zukunft tatsächlich dort liegt. Doch seine Selbstzweifel sind nicht Joris einziges Problem. Runa ist der Schlüssel zu einem dunklen Geheimnis seiner Vergangenheit, das ihn nun heimsucht…

 

Was ist das nur mit fiktiven Romanen, die sich auf historische Fakten stützen? Wieso sind diese oft hervorragend recherchiert und überzeugen in der Darstellung der zeitgemäßen Umstände, erzählen jedoch eine Geschichte, die mangelhaft und unglaubwürdig wirkt? „Runa“ von Vera Buck ist eine vorbildliche, realistische Schilderung der Verhältnisse in psychiatrischen Einrichtungen Ende des 19. Jahrhunderts (1884) und den damals üblichen Behandlungsmethoden, erreichte mich auf der fiktiven Ebene allerdings überhaupt nicht. Jeder eindrucksvoll ausgearbeitete Fakt wird durch die misslungene Geschichte geschmälert. Das ist einfach schade und enttäuschte mich herb, denn die ersten 80 Seiten des Buches versprachen Großes. Buck konfrontiert ihre Leser_innen zu Beginn mit Joris Alltag in der Salpêtrière und lässt sie an seiner Seite einer Dienstagsvorlesung beiwohnen. Was dort ablief, ist keine Übertreibung, diese Veranstaltungen sind geschichtlich dokumentiert. Dr. Charcot präsentierte seinen Studenten dort tatsächlich relevante Fälle. Ich war zutiefst abgestoßen von der Zurschaustellung und Demütigung kranker Frauen in einem vollen Vorlesungssaal. Mit Unterricht hatte das für mich nicht das Geringste zu tun, vielmehr sah ich darin Charcots persönliche Bühne zur Selbstdarstellung. Es ist nicht zu glauben, dass das Publikum gierig mit morbider Faszination die öffentliche Erniedrigung Schutzbefohlener verfolgte. Männer, die einen Eid zu helfen leisteten, ergötzten sich an der Hilflosigkeit ihrer Patientinnen. Es war widerwärtig und doch zogen mich Bucks Beschreibungen in ihren Bann. Der Konkurrenzdruck, der damals in der Medizin und der Wissenschaft allgemein herrschte, war deutlich zu spüren. Ärzte lagen im Wettstreit miteinander, als erste neue Methoden auszuprobieren und mit dem nächsten großen Durchbruch in die Geschichte einzugehen. Es ist vorstellbar, dass das Wohl der Patient_innen zu dieser Zeit nicht immer im Vordergrund stand. Diese Lektion muss auch Jori lernen. Seine Begegnung mit Runa verändert ihn und lässt ihn begreifen, dass einige seiner Kollegen bereit sind, für ein bisschen Ruhm über Leichen zu gehen. Hätte sich Vera Buck auf diesen Erzählstrang beschränkt und nicht versucht, ihrer Geschichte eine Aura von Mystik zu verleihen, hätte das Buch sicherlich eine bessere Bewertung von mir erhalten. Aber nein, sie musste ja unbedingt eine Mordermittlung ins Spiel bringen. Meiner Ansicht nach war dies eine unglückliche Entscheidung, weil sie dadurch unnötigerweise gezwungen war, weitere Erzählperspektiven zu involvieren, die das Handlungskonstrukt zerfasert und holprig wirken ließen. Jegliche Handlungsstränge abseits von Jori erschienen mir überflüssig und wertlos für die Geschichte, sodass ich mich beim Lesen dieser Abschnitte immer wieder fragte, warum Buck mir all das erzählte. Ich zweifelte an ihrer Autorität als Autorin und hatte Schwierigkeiten, ihren hin und wieder sprunghaften Gedankengängen zu folgen, sowie die Übersicht über die Chronologie zu behalten. Wie oft habe ich schon von Bescheidenheit gepredigt und betont, wie wichtig es ist, sich nicht mehr aufzubürden, als man händeln kann – ich wünschte, Vera Buck hätte sich diesen Ratschlag zu Herzen genommen.

 

„Runa“ schießt meiner Meinung nach weit übers Ziel hinaus. Wenn es Vera Buck darum ging, einen realistischen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie zu werfen, hätte sie es auch genau dabei belassen sollen. Ihre Versuche, eine geheimnisvolle Mordermittlung und verschiedene Erzählperspektiven zu integrieren, halte ich für gründlich misslungen; sie werfen einen Schatten auf die meisterhaft recherchierten Fakten des Buches, der hätte vermieden werden können. Sie wollte zu viel und riss daher alles, was sie erst gewissenhaft aufgebaut hatte, mit dem Hintern wieder ein. Vielleicht darf man von einem Debütroman keine Wunder erwarten, doch alle Großzügigkeit ändert leider nichts daran, was ich während der Lektüre empfand. Ich kann es nicht oft genug sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/09/20/vera-buck-runa
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review 2016-05-18 09:53
Durch dieses Buch erhalten tausende Schicksale ein Gesicht
Die dunklen Mauern von Willard State: Roman - Ellen Marie Wiseman,Sina Hoffmann

„Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman ist nur zum Teil fiktiv. Die psychiatrische Anstalt Willard State Asylum hat es tatsächlich gegeben. Als die Anstalt nach 126 Jahren des Betriebs 1995 geschlossen wurde, fanden Arbeiter auf dem Dachboden über 400 Koffer, die Patienten gehörten, die Willard nie mehr verließen. Seit 1999 arbeiteten Darby Penney, Peter Stastny und die Fotografin Lisa Rinzler unermüdlich, um die Biografien ihrer Besitzer_innen aufzudecken und ihnen ein Gesicht zu geben. Das Ergebnis ihrer Bemühungen sind die Ausstellung „Lost Cases, Recovered Lives: Suitcases from a State Hospital Attic“ und das Buch „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“. Letzteres diente Ellen Marie Wiseman als Inspiration „Die dunklen Mauern von Willard State“ zu schreiben.

 

Izzy Stones Familie wurde in der verhängnisvollen Nacht zerstört, als ihre Mutter ihren Vater erschoss. Niemand weiß, was sie zu dieser grauenvollen Tat veranlasste. Allein, ohne verbleibende Angehörige, wurde Izzy jahrelang herumgereicht. Erst jetzt, mit 17, hat sie das Gefühl, Pflegeeltern zu haben, denen sie wichtig ist. Aus Dankbarkeit hilft sie den beiden bei ihrem neusten Projekt. Nach der Schließung des berüchtigten Willard State Asylum wurden auf dem Dachboden hunderte von Koffern gefunden, deren Inhalt Peg und Harry nun katalogisieren möchten. Unter den Besitztümern der Insassen entdeckt Izzy einen Stapel ungeöffneter Briefe und das Tagebuch einer Patientin namens Clara Cartwright. Izzy ist von Claras tragischem Schicksal fasziniert und setzt alles daran, ihre Geschichte zu rekonstruieren. Doch je tiefer sie in die Geheimnisse von Claras Leben vordringt, desto näher kommt sie auch den Antworten auf die Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit…

 

Ich wusste bereits vor der Lektüre von „Die dunklen Mauern von Willard State“, wie furchtbar die Bedingungen in psychiatrischen Anstalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Ich wusste, dass Menschen dort eher weggesperrt als behandelt wurden und dass die wenigen Therapien, die zur Verfügung standen, an Folter grenzten. Viele Einrichtungen waren hemmungslos überlastet und die hygienischen Umstände katastrophal. Insassen wurde jegliche Selbstbestimmung genommen, ihre Persönlichkeit unterdrückt. Es herrschte Gewalt, Willkür und Überforderung. Wer einmal in eine solche Anstalt eingeliefert wurde, verließ sie nur selten wieder, von einer Genesung ganz zu schweigen. All das war mir bewusst. Trotzdem hat mich Claras fiktives Schicksal zutiefst berührt, schockiert und getroffen. Was Menschen in Einrichtungen wie Willard angetan wurde, war unmenschlich. Umso wichtiger ist es, dass es Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ gibt. Es darf nicht vergessen werden, wie viele Leben mit dem Tag der Einlieferung in diese Anstalten endeten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – all das löste sich auf, sobald die Patienten hinter den Mauern verschwanden. Am Fall von Clara illustriert Ellen Marie Wiseman eindrucksvoll, wie ungerecht und grausam das System damals war; wie wenig ausreichte, um als geisteskrank abgestempelt und für immer der Freiheit beraubt zu werden. Ich musste während des Lesens häufig heftig schlucken und hatte am Ende sogar Tränen in den Augen. Die Macht der Emotionen, die dieses Buch vermittelt, ist der Grund, warum es von mir vier Sterne erhält, obwohl Wiseman meiner Ansicht nach nicht die beste Schriftstellerin ist. Ich sehe gern über stilistische Mängel hinweg, weil ihre Geschichte aufwühlend und unheimlich fesselnd ist. Die Entscheidung eine geteilte Handlung zu konstruieren, die zwei Zeitstränge und zwei Protagonistinnen fokussiert, finde ich mutig und einfühlsam, denn durch den Umweg über Izzy brachte Wiseman Claras Schicksal sehr nah an ihre Leser_innen heran. Izzy ist die Verbündete, die ebenso fühlt wie man selbst, während man gemeinsam aufdeckt, wie sehr Clara in Willard leiden musste. Ihr Leben bleibt nicht abstrakt, sondern erhält einen direkten Bezug zur Gegenwart und Realität. Hinzu kommt, dass die beiden jungen Frauen sehr viel gemeinsam haben, wodurch sie wie zwei Enden der gleichen Geschichte wirken, die über die Jahrzehnte hinweg mit einander verbunden sind. Ich mochte sowohl Clara als auch Izzy gern und hatte keine Schwierigkeiten, mit ihnen zu fühlen. Sie sind zarte, empfindsame Persönlichkeiten, fast schon zu zerbrechlich für die Härte der Welt. Ich wollte sie beschützen und wünschte beiden von ganzem Herzen ein Happy End.

 

„Die dunklen Mauern von Willard State“ beleuchtet ein düsteres Kapitel der Vergangenheit, das unglücklicherweise viel zu selten ernsthaft angesprochen wird. Das Leid der Insassen psychiatrischer Einrichtungen im (frühen) 20. Jahrhundert dient heute als Blaupause zur Massenunterhaltung in Horrorfilmen, doch die zahllosen reellen Tragödien, die diese damals noch junge Wissenschaft produzierte, bleiben zu großen Teilen verschüttet. Menschen, die 50 Jahre und länger weggesperrt und gequält wurden, weil ihnen ein völlig unqualifizierter Arzt eine diffuse Diagnose attestierte, verdienen es, dass man sich an sie erinnert. Auch wenn sie dieses gewaltige Unrecht nicht auslöschen können, so helfen Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ und selbstverständlich „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“ dabei, Patientennummern wieder zu echten Menschen werden zu lassen. Sie geben zurück, was ihnen vor so vielen Jahrzehnten genommen wurde: eine Geschichte.
Wer sich für das Thema Psychiatrie interessiert, sollte „Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman wirklich lesen. Die Kombination aus Fakten und Fiktion verschafft den Leser_innen einen realistischen Eindruck der Umstände im Willard State Asylum, ohne die menschliche Note zu vernachlässigen. Durch Claras Geschichte erhalten tausende Schicksale ein Gesicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/05/18/ellen-marie-wiseman-die-dunklen-mauern-von-willard-state
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