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review 2019-04-25 09:55
Blutiges Wunderland
Alice - Christina Henry

„Alice im Wunderland“ ist eine der Geschichten meines Lebens. Der Klassiker von Lewis Carroll begleitet mich, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich besaß sie als Hörbuch auf Schallplatte und die 1951er Disney-Verfilmung auf Videokassette. Selbstverständlich habe ich auch die modernen Filme mit Johnny Depp gesehen. Mit meinem Tätowierer arbeite ich aktuell an meinem großen Waden-Tattoo, das die Grinsekatze, Herrn Knauf und den verwirrenden Wegweiser-Baum enthält. Die Geschichte fasziniert mich wie kaum eine zweite. Als ich erfuhr, dass die Autorin Christina Henry eine Adaption namens „Alice“ geschrieben hatte, war ich sofort Feuer und Flamme, weil das Buch die berühmte Protagonistin in einer prekären Rolle zeigt: als Insassin einer Psychiatrie.

 

In einem Krankenhaus in der Altstadt, hinter dicken Backsteinmauern, vegetiert eine junge Frau in einer Zelle vor sich hin. Sie wurde eingesperrt, weil sie blutüberströmt eine verrückte Geschichte von einem Kaninchen und einer Tee-Party erzählte. Ihr Name lautet Alice. Seit 10 Jahren ist die Anstalt ihre Herberge. Ihr einziger Gefährte ist ihr Zellennachbar Hatcher. Alice weiß, dass sie niemals entlassen werden wird. Sie ist kaputt, beschädigt. Erst als in den Tiefen der Anstalt ein verheerendes Feuer ausbricht, eröffnet sich ihr und Hatcher ein Weg in die Freiheit. Aber sie sind nicht die einzigen, die den Flammen entkommen. Das Feuer befreit eine entsetzliche Kreatur, die hungrig und wahllos tötet. Alice und Hatcher müssen sie aufhalten. Sie steigen in die dunkelsten, gefährlichsten Orte der Altstadt hinab, doch je näher sie ihrem Ziel kommen, desto näher kommen sie auch der Wahrheit über Alice‘ Vergangenheit – und dem Mann, der sie noch immer als sein Eigentum betrachtet…

 

Von Christina Henry dürfen sich alle Autor_innen von Adaptionen gern eine Scheibe abschneiden. „Alice“ ist eine hervorragende, hypnotische Variante des Klassikers von Lewis Carroll. Obwohl ich ursprünglich nicht erwartet hatte, eine Handlung vorzufinden, die Alice‘ Schicksal nach ihren Abenteuern beleuchtet, sondern annahm, ich müsste herausfinden, ob sie sich das Wunderland lediglich eingebildet hatte, konnte ich mich sehr schnell darauf einlassen. Die Frage, was mit Alice nach ihrer Rückkehr geschehen wäre, beschäftigt mich, seit ich alt genug bin, darüber zu spekulieren. Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass sie in einer psychiatrischen Anstalt gelandet wäre, denn wer hätte ihr ihre verrückte Geschichte schon geglaubt? Henrys Version ist deutlich düsterer, blutiger und gewalttätiger, als ich es mir jemals ausgemalt hätte, doch denke ich an das Original zurück, muss ich zugeben, dass es sich dabei ebenfalls nicht um ein unschuldiges Kinderbuch handelt, schaut man genau hin. Auch in Carrolls Wunderland brodelte das Potential der Gewalt meinem Empfinden nach stets nur knapp unter der Oberfläche. Deshalb finde ich „Alice“ großartig: Christina Henry erfasst das Wesen der ursprünglichen Geschichte pointiert und charakterisiert die Figuren exakt so, wie ich sie immer wahrgenommen hatte. Niemand ist Alice ausschließlich wohlgesinnt; sie sind alle sehr ambivalent, hinterlistig und maximal bedingt vertrauenswürdig, nämlich so lange, wie es ihren Zielen entspricht. Henry übertrug diese zwielichtige Ausstrahlung perfekt auf ihre Adaption, sodass ihr Roman authentisch und originell gelang. Sie entwickelte ein fiktives, vage fantastisches Setting, dessen sonderbare Atmosphäre alle Elemente, die nicht rational erklärbar sind, elegant legitimiert und in dessen Rahmen ihre ältere, traumatisierte Alice grob der Reise von Carrolls Heldin folgt. Nominell besteht ihre Aufgabe darin, die Kreatur zu besiegen, die durch das Feuer in der Anstalt befreit wurde, in der sie 10 lange Jahre einsaß. Ich vergaß jedoch immer wieder, dass dies der Kern der Handlung ist, weil die Konfrontationen mit den bekannten, nun aber menschlichen Figuren des Wunderlands wesentlich drängender und präsenter waren und darüber hinaus von Alice‘ persönlicher Entwicklung überstrahlt wurde. Alice ist 26 Jahre alt und verbrachte den Großteil ihrer Jugend in der Psychiatrie. Es gefiel mir ausnehmend gut, wie psychologisch glaubwürdig Henry ihre Protagonistin beschreibt, indem sie einkalkuliert, dass sie die normalen Erfahrungen des Erwachsenwerdens verpasste. Erst im Verlauf ihres Abenteuers entfaltet sie sich und findet heraus, was in ihr steckt – Courage, Loyalität und Entschlossenheit. Ich empfinde „Alice“ daher als verspätete Coming-of-Age-Geschichte, in der der Weg das Ziel ist und es nicht überraschen sollte, dass der Kampf gegen das Monster eher hintergründig von Bedeutung ist. Resultierend daraus gestaltet sich der finale, äußerst feminine Showdown recht unspektakulär, weil dieser die logische Konsequenz von Alice‘ Metamorphose darstellt. Sie durchlebte eine klassische Heldenreise; sobald sie fähig ist, ihr Schicksal und sich selbst zu akzeptieren, werden alle Herausforderungen zum Kinderspiel.

 

„Alice“ von Christina Henry ist eine dunkle, verdrehte Variante des Kinderbuchklassikers von Lewis Carroll. Es ist eine Adaption, die meinen Geschmack voll und ganz trifft, weil sie meiner intuitiven Wahrnehmung des Originals Form verleiht und diese auf Papier bannt. Die Autorin erfasst die inhärente Natur und Bedeutung der ikonischen Geschichte zielsicher und transformiert diese in eine Erzählung, die neu und frisch wirkt und dennoch das Charisma, die unverwechselbare Aura des populären Stoffes aufgreift. Wer die eigenen Kindheitserinnerungen an „Alice im Wunderland“ unangetastet lassen möchte oder sensibel auf gewaltsame Szenen reagiert, sollte von der Lektüre eher Abstand nehmen, doch allen Leser_innen, die eine erwachsene, erwachte Alice kennenlernen möchten, kann ich das Buch wärmstens empfehlen. Ich freue mich auf die Fortsetzung „Red Queen“ und nehme Anlauf für einen weiteren Sturz durch das Kaninchenloch.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/04/25/christina-henry-alice
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review 2017-08-14 04:50
Rezension | Warten auf Bojangles von Olivier Bourdeaut
Warten auf Bojangles: Roman - Olivier Bo... Warten auf Bojangles: Roman - Olivier Bourdeaut,Norma Cassau

Beschreibung

 

George und seine außergewöhnliche Frau, die jeden Tag mit einem neuen Namen begeht, leben ein schillerndes Leben voller Tänze, Cocktails und funkelnder Abende im Kreise illustrer Freunde. Mitten in diesem bunten Paradies fühlt sich ihr Sohn pudelwohl. Doch genau wie in ihrem Lieblingssong »Mr. Bojangles« verbirgt sich hinter dem fröhlichen Anstrich eine dunkle und deprimierende Seite. Georges Frau ist schwer krank und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Als sich die Lage verschlimmert wagen Vater und Sohn unter Anleitung der geliebten Frau und Mutter eine Befreiungsaktion, welche sie schließlich in ihr Wolkenschloss nach Spanien führt.

 

Meine Meinung

 

Dieses gelb leuchtende Cover mit einem Tanzpaar darauf hat mich sofort angesprochen. Die Rede ist von Olivier Bourdeauts Debütroman „Warten auf Bojangles“. Bereits der Klappentext verspricht ein außergewöhnliches Leseerlebnis und genau dieses Gefühl macht sich schon nach den ersten gelesenen Seiten bemerkbar.

 

"Seine Geschichte war wie seine Musik: schön, traurig und zum Tanzen." [Seite 20 (epub Version)]

 

In seinem Erstlingswerk erzählt Olivier Bourdeaut eine berührende Liebesgeschichte der anderen Art. Dabei werden die Ereignisse sowohl aus der Sichtweise des Sohnes, wie auch aus der Sichtweise des Vaters (George) beleuchtet. Hintergrund der Story ist ein kurios gezeichnetes Leben mit einer Mutter die ihren Sohn siezt und einem Vater der sich mit Lügengeschichten auskennt wie sonst keiner. Die Kindheit des Jungen ist dementsprechend in keinster Weise normal, jeder Tag bietet eine Vielfalt an neuen Möglichkeiten – man kommt sich vor wie in ein Kaleidoskop geraten.

 

"Ich sagte mir, dass mir selbst einige Tassen im Schrank fehlten und ich vernünftigerweise nicht einer Frau verfallen sollte, die gar kein Geschirr mehr im Schrank hatte, dass unsere Beziehung die eines Einbeinigen mit einer Gliederlosen wäre und dass diese Verbindung nur hinken und sich tastend in unvorhersehbare Richtungen bewgen könnte." [Seite 27 (epub Version)]

 

Während des Handlungsverlaufs spürt man deutlich, dass sich der kleine Junge weiterentwickelt und durch viel Liebe und Zuwendung zu einem rechtschaffenen Menschen heranwächst. Dieser junge Mensch versteht es dann auch mit der schwierigen Situation, die das Leben für ihn bereit hält, umzugehen. Eine Kernaussage der Geschichte kommt hier ganz deutlich zum tragen – mit Liebe und gegenseitiger Zuneigung ist alles möglich.

 

"Zu Hause log ich richtig herum, in der Schule verkehrt herum, für mich war es kompliziert, aber für die anderen einfacher." [Seite 29 (epub Version)]

 

Mit Leichtigkeit und Humor erzählt Olivier Bourdeaut eine geistreiche Familiengeschichte, die völlig bezaubernd und zugleich herzzerreißend dramatisch ist. Tänzelnd und mit Musik im Ohr schwebt man durch die Buchseiten bis einem der Hintergrund und die Tiefe der Geschichte bewusst werden. „Warten auf Bojangles“ ist für mich ein kleines Kunstwerk das sich vor allem durch seinen originellen Stil auszeichnet.

 

Fazit

 

Ein leichtfüßiger und tiefgründiger Roman der sich hervorragend als Sommerlektüre eignet.

Source: www.bellaswonderworld.de/rezensionen/rezension-warten-auf-bojangles-von-olivier-bourdeaut
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text 2016-11-22 17:40
"Besessen - Die anderen Bewohner" Roman - Psycho-Thriller - Taschenbuch und Ebook

Link zum Buch

 

Das Buch ist auf Wunsch mit Signatur auch direkt bei der Autorin erhältlich unter: www.christa-schyboll.de

 

 

Die spannende Lebensgeschichte einer multiplen Persönlichkeit

 

Silvio wird Zeuge der Ermordung seiner Eltern durch die Mafia. Der kleine Junge erleidet eine schwerwiegende Amnesie und bleibt ohne Kenntnis der eigenen Identität. In der Pubertät bricht bei dem musikalisch und mathematisch talentierten Jugendlichen das Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeitsstörung aus. Es zeigen sich mehr und mehr abgespaltene Identitäten. Sie benutzen Geist, Seele und Körper des Jungen für ihre eigenen Zwecke und schrecken dabei auch vor Gewalt nicht zurück. Die gefährlichen Tumulte in den Innenwelten des Jugendlichen erfahren eine dramatische Beschleunigung, die auch für die erste zarte Liebe zu einer jungen Pianistin zu einer unkalkulierbaren Bedrohung wird. Silvio lässt sich mit seinen abgespaltenen Identitäten auf ein gefährliches Abenteuer ein ...

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review 2016-09-20 10:03
Schuster, bleib bei deinen Leisten
Runa: Roman - Vera Buck

Die Karriere des jungen Schweizer Arztes Jori Hell steckt fest. Seit Jahren lebt er in Paris, studiert an der berühmten Klinik Salpêtrière unter dem großen Neurologen Dr. Jean-Martin Charcot und kümmert sich um Patient_innen – doch die Doktorarbeit, für die er einst nach Paris zog, ist noch nicht geschrieben. Schlimmer noch, Dr. Charcot kennt nicht einmal seinen Namen, obwohl Jori regelmäßig die berüchtigten Dienstagsvorlesungen besucht, in denen Hysterikerinnen zu Unterrichtszwecken publikumswirksam hypnotisiert und vorgeführt werden. Erst als eines Dienstagabends ein junges Mädchen präsentiert wird, ändert sich Joris ziellose Routine schlagartig. Runa passt in keines der bekannten Krankheitsschemata, nicht einmal Dr. Charcot weiß, was dem Mädchen fehlt. Nur, dass sie verrückt ist, darin sind sich alle einig. Wäre sie gesund, würde sie sich kaum wie ein wildes Tier gebärden. Jori sieht seine Chance gekommen, sich zu profilieren und endlich seinen Doktortitel zu ergattern. Spontan schlägt er eine Hirnoperation vor, die Runas Verhalten korrigieren soll. Überraschenderweise erteilt ihm Dr. Charcot die Erlaubnis dazu und bietet sich sogar als Doktorvater an. Ein Rückzieher ist nun nicht mehr möglich. Jori hat keine andere Wahl, als seinen überhasteten Worten Taten folgen zu lassen. Je intensiver er sich mit Runa befasst, desto tiefer werden die Einblicke in den erniedrigenden Alltag der Patient_innen in der Salpêtrière. Er lernt die Schattenseiten einer Klinik kennen, die sich damit brüstet, weltweit als fortschrittlich zu gelten und muss sich fragen, ob seine Zukunft tatsächlich dort liegt. Doch seine Selbstzweifel sind nicht Joris einziges Problem. Runa ist der Schlüssel zu einem dunklen Geheimnis seiner Vergangenheit, das ihn nun heimsucht…

 

Was ist das nur mit fiktiven Romanen, die sich auf historische Fakten stützen? Wieso sind diese oft hervorragend recherchiert und überzeugen in der Darstellung der zeitgemäßen Umstände, erzählen jedoch eine Geschichte, die mangelhaft und unglaubwürdig wirkt? „Runa“ von Vera Buck ist eine vorbildliche, realistische Schilderung der Verhältnisse in psychiatrischen Einrichtungen Ende des 19. Jahrhunderts (1884) und den damals üblichen Behandlungsmethoden, erreichte mich auf der fiktiven Ebene allerdings überhaupt nicht. Jeder eindrucksvoll ausgearbeitete Fakt wird durch die misslungene Geschichte geschmälert. Das ist einfach schade und enttäuschte mich herb, denn die ersten 80 Seiten des Buches versprachen Großes. Buck konfrontiert ihre Leser_innen zu Beginn mit Joris Alltag in der Salpêtrière und lässt sie an seiner Seite einer Dienstagsvorlesung beiwohnen. Was dort ablief, ist keine Übertreibung, diese Veranstaltungen sind geschichtlich dokumentiert. Dr. Charcot präsentierte seinen Studenten dort tatsächlich relevante Fälle. Ich war zutiefst abgestoßen von der Zurschaustellung und Demütigung kranker Frauen in einem vollen Vorlesungssaal. Mit Unterricht hatte das für mich nicht das Geringste zu tun, vielmehr sah ich darin Charcots persönliche Bühne zur Selbstdarstellung. Es ist nicht zu glauben, dass das Publikum gierig mit morbider Faszination die öffentliche Erniedrigung Schutzbefohlener verfolgte. Männer, die einen Eid zu helfen leisteten, ergötzten sich an der Hilflosigkeit ihrer Patientinnen. Es war widerwärtig und doch zogen mich Bucks Beschreibungen in ihren Bann. Der Konkurrenzdruck, der damals in der Medizin und der Wissenschaft allgemein herrschte, war deutlich zu spüren. Ärzte lagen im Wettstreit miteinander, als erste neue Methoden auszuprobieren und mit dem nächsten großen Durchbruch in die Geschichte einzugehen. Es ist vorstellbar, dass das Wohl der Patient_innen zu dieser Zeit nicht immer im Vordergrund stand. Diese Lektion muss auch Jori lernen. Seine Begegnung mit Runa verändert ihn und lässt ihn begreifen, dass einige seiner Kollegen bereit sind, für ein bisschen Ruhm über Leichen zu gehen. Hätte sich Vera Buck auf diesen Erzählstrang beschränkt und nicht versucht, ihrer Geschichte eine Aura von Mystik zu verleihen, hätte das Buch sicherlich eine bessere Bewertung von mir erhalten. Aber nein, sie musste ja unbedingt eine Mordermittlung ins Spiel bringen. Meiner Ansicht nach war dies eine unglückliche Entscheidung, weil sie dadurch unnötigerweise gezwungen war, weitere Erzählperspektiven zu involvieren, die das Handlungskonstrukt zerfasert und holprig wirken ließen. Jegliche Handlungsstränge abseits von Jori erschienen mir überflüssig und wertlos für die Geschichte, sodass ich mich beim Lesen dieser Abschnitte immer wieder fragte, warum Buck mir all das erzählte. Ich zweifelte an ihrer Autorität als Autorin und hatte Schwierigkeiten, ihren hin und wieder sprunghaften Gedankengängen zu folgen, sowie die Übersicht über die Chronologie zu behalten. Wie oft habe ich schon von Bescheidenheit gepredigt und betont, wie wichtig es ist, sich nicht mehr aufzubürden, als man händeln kann – ich wünschte, Vera Buck hätte sich diesen Ratschlag zu Herzen genommen.

 

„Runa“ schießt meiner Meinung nach weit übers Ziel hinaus. Wenn es Vera Buck darum ging, einen realistischen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie zu werfen, hätte sie es auch genau dabei belassen sollen. Ihre Versuche, eine geheimnisvolle Mordermittlung und verschiedene Erzählperspektiven zu integrieren, halte ich für gründlich misslungen; sie werfen einen Schatten auf die meisterhaft recherchierten Fakten des Buches, der hätte vermieden werden können. Sie wollte zu viel und riss daher alles, was sie erst gewissenhaft aufgebaut hatte, mit dem Hintern wieder ein. Vielleicht darf man von einem Debütroman keine Wunder erwarten, doch alle Großzügigkeit ändert leider nichts daran, was ich während der Lektüre empfand. Ich kann es nicht oft genug sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/09/20/vera-buck-runa
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review 2016-05-18 09:53
Durch dieses Buch erhalten tausende Schicksale ein Gesicht
Die dunklen Mauern von Willard State: Roman - Ellen Marie Wiseman,Sina Hoffmann

„Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman ist nur zum Teil fiktiv. Die psychiatrische Anstalt Willard State Asylum hat es tatsächlich gegeben. Als die Anstalt nach 126 Jahren des Betriebs 1995 geschlossen wurde, fanden Arbeiter auf dem Dachboden über 400 Koffer, die Patienten gehörten, die Willard nie mehr verließen. Seit 1999 arbeiteten Darby Penney, Peter Stastny und die Fotografin Lisa Rinzler unermüdlich, um die Biografien ihrer Besitzer_innen aufzudecken und ihnen ein Gesicht zu geben. Das Ergebnis ihrer Bemühungen sind die Ausstellung „Lost Cases, Recovered Lives: Suitcases from a State Hospital Attic“ und das Buch „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“. Letzteres diente Ellen Marie Wiseman als Inspiration „Die dunklen Mauern von Willard State“ zu schreiben.

 

Izzy Stones Familie wurde in der verhängnisvollen Nacht zerstört, als ihre Mutter ihren Vater erschoss. Niemand weiß, was sie zu dieser grauenvollen Tat veranlasste. Allein, ohne verbleibende Angehörige, wurde Izzy jahrelang herumgereicht. Erst jetzt, mit 17, hat sie das Gefühl, Pflegeeltern zu haben, denen sie wichtig ist. Aus Dankbarkeit hilft sie den beiden bei ihrem neusten Projekt. Nach der Schließung des berüchtigten Willard State Asylum wurden auf dem Dachboden hunderte von Koffern gefunden, deren Inhalt Peg und Harry nun katalogisieren möchten. Unter den Besitztümern der Insassen entdeckt Izzy einen Stapel ungeöffneter Briefe und das Tagebuch einer Patientin namens Clara Cartwright. Izzy ist von Claras tragischem Schicksal fasziniert und setzt alles daran, ihre Geschichte zu rekonstruieren. Doch je tiefer sie in die Geheimnisse von Claras Leben vordringt, desto näher kommt sie auch den Antworten auf die Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit…

 

Ich wusste bereits vor der Lektüre von „Die dunklen Mauern von Willard State“, wie furchtbar die Bedingungen in psychiatrischen Anstalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Ich wusste, dass Menschen dort eher weggesperrt als behandelt wurden und dass die wenigen Therapien, die zur Verfügung standen, an Folter grenzten. Viele Einrichtungen waren hemmungslos überlastet und die hygienischen Umstände katastrophal. Insassen wurde jegliche Selbstbestimmung genommen, ihre Persönlichkeit unterdrückt. Es herrschte Gewalt, Willkür und Überforderung. Wer einmal in eine solche Anstalt eingeliefert wurde, verließ sie nur selten wieder, von einer Genesung ganz zu schweigen. All das war mir bewusst. Trotzdem hat mich Claras fiktives Schicksal zutiefst berührt, schockiert und getroffen. Was Menschen in Einrichtungen wie Willard angetan wurde, war unmenschlich. Umso wichtiger ist es, dass es Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ gibt. Es darf nicht vergessen werden, wie viele Leben mit dem Tag der Einlieferung in diese Anstalten endeten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – all das löste sich auf, sobald die Patienten hinter den Mauern verschwanden. Am Fall von Clara illustriert Ellen Marie Wiseman eindrucksvoll, wie ungerecht und grausam das System damals war; wie wenig ausreichte, um als geisteskrank abgestempelt und für immer der Freiheit beraubt zu werden. Ich musste während des Lesens häufig heftig schlucken und hatte am Ende sogar Tränen in den Augen. Die Macht der Emotionen, die dieses Buch vermittelt, ist der Grund, warum es von mir vier Sterne erhält, obwohl Wiseman meiner Ansicht nach nicht die beste Schriftstellerin ist. Ich sehe gern über stilistische Mängel hinweg, weil ihre Geschichte aufwühlend und unheimlich fesselnd ist. Die Entscheidung eine geteilte Handlung zu konstruieren, die zwei Zeitstränge und zwei Protagonistinnen fokussiert, finde ich mutig und einfühlsam, denn durch den Umweg über Izzy brachte Wiseman Claras Schicksal sehr nah an ihre Leser_innen heran. Izzy ist die Verbündete, die ebenso fühlt wie man selbst, während man gemeinsam aufdeckt, wie sehr Clara in Willard leiden musste. Ihr Leben bleibt nicht abstrakt, sondern erhält einen direkten Bezug zur Gegenwart und Realität. Hinzu kommt, dass die beiden jungen Frauen sehr viel gemeinsam haben, wodurch sie wie zwei Enden der gleichen Geschichte wirken, die über die Jahrzehnte hinweg mit einander verbunden sind. Ich mochte sowohl Clara als auch Izzy gern und hatte keine Schwierigkeiten, mit ihnen zu fühlen. Sie sind zarte, empfindsame Persönlichkeiten, fast schon zu zerbrechlich für die Härte der Welt. Ich wollte sie beschützen und wünschte beiden von ganzem Herzen ein Happy End.

 

„Die dunklen Mauern von Willard State“ beleuchtet ein düsteres Kapitel der Vergangenheit, das unglücklicherweise viel zu selten ernsthaft angesprochen wird. Das Leid der Insassen psychiatrischer Einrichtungen im (frühen) 20. Jahrhundert dient heute als Blaupause zur Massenunterhaltung in Horrorfilmen, doch die zahllosen reellen Tragödien, die diese damals noch junge Wissenschaft produzierte, bleiben zu großen Teilen verschüttet. Menschen, die 50 Jahre und länger weggesperrt und gequält wurden, weil ihnen ein völlig unqualifizierter Arzt eine diffuse Diagnose attestierte, verdienen es, dass man sich an sie erinnert. Auch wenn sie dieses gewaltige Unrecht nicht auslöschen können, so helfen Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ und selbstverständlich „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“ dabei, Patientennummern wieder zu echten Menschen werden zu lassen. Sie geben zurück, was ihnen vor so vielen Jahrzehnten genommen wurde: eine Geschichte.
Wer sich für das Thema Psychiatrie interessiert, sollte „Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman wirklich lesen. Die Kombination aus Fakten und Fiktion verschafft den Leser_innen einen realistischen Eindruck der Umstände im Willard State Asylum, ohne die menschliche Note zu vernachlässigen. Durch Claras Geschichte erhalten tausende Schicksale ein Gesicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/05/18/ellen-marie-wiseman-die-dunklen-mauern-von-willard-state
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