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review 2017-08-22 11:53
Ein Klassiker der High Fantasy
Erdsee (Trilogie in einem Band) - Ursula K. Le Guin

Obwohl ich kürzlich feststellte, dass Frauen in der erwachsenen High Fantasy unterrepräsentiert sind, gibt es doch den einen oder anderen bedeutenden weiblichen Namen, der mit diesem Genre verbunden ist. Ursula K. Le Guin sollte diese Namensliste möglicherweise anführen. Kaum eine andere Autorin kann sich auf die Fahnen schreiben, so viel für die weibliche Fantasy und Science-Fiction geleistet zu haben. Kaum eine andere Autorin wird ehrfurchtsvoll mit Tolkien verglichen. Ihre „Erdsee“-Saga wurde mir vor Jahren von meiner Mutter vermacht. Der Sammelband „Erdsee“ enthält die ersten drei Romane: „Der Magier der Erdsee“, „Die Gräber von Atuan“ und „Das ferne Ufer“. Ich beschloss, alle drei direkt nacheinander zu lesen.

 

Dies sind die Geschichten von Sperber, dessen wahrer Name Ged lautet. Es sind die Abenteuer eines jungen Ziegenhirten, der zum mächtigsten Zauberer in ganz Erdsee wurde. Eine Geschichte erzählt von seiner Jugend, in der er sich der Angst selbst stellte und sie in ihre Schranken wies. Eine weitere berichtet von seinen Wanderjahren, während derer er weit in den Osten reiste, um seinem Land Frieden zu bringen und eine junge Frau kennenlernte, die das Licht in sich trug, obwohl sie für die Dunkelheit geschaffen wurde. Die letzte enthüllt die Kunde seiner schwersten Stunde, als er auszog, das Gleichgewicht des Lebens wiederherzustellen und das Reich der Toten betrat. Es sind Geschichten von Mut, tiefer Freundschaft und unvorstellbaren Opfern. Lauscht ihren Worten und folgt Ged nach Erdsee, in eine Welt, die von Magie geformt wurde und in der Drachen noch immer lebendig sind.

 

Der Auftakt der „Erdsee“-Saga, „Der Magier der Erdsee“, wurde 1968 erstveröffentlicht. Liest man High Fantasy aus dieser Zeit, sollte man darauf vorbereitet sein, dass sie nach anderen Regeln spielt als die modernen Vertreter des Genres. Aktuell liegen handfeste Action und komplexe Intrigengeflechte im Trend; Leser_innen sollen aufgeregt auf der Stuhlkante balancieren und an ihren Fingernägeln kauen, während sie sich fragen, wer als nächstes stirbt. Figuren gewinnen Stück für Stück an Ambivalenz und Realismus, Charakterentwicklung steht im Fokus. Als Ursula K. Le Guin „Erdsee“ zu schreiben begann, herrschten in der spekulativen Fiktion andere Prioritäten. Es ist wichtig, diesen Fakt im Hinterkopf zu behalten, um die altmodische Konstruktion nicht als irritierend zu empfinden. Ich wusste glücklicherweise, dass „Erdsee“ alt ist. Die Erzählweise ist eindeutig anders, weniger auf mitreißende Dramatik ausgerichtet, aber da ich darauf eingestellt war, konnte ich den traditionellen Charme der Romane genießen und mich ihrem ganz speziellen Sog hingeben, der trotz des niedrigen Spannungsbogens entsteht. Die Lektüre erinnerte mich an die vielen Male, als meine Mutter mir selbst Geschichten erzählte. Sie vermittelte mir immer das Gefühl, über ein endloses Repertoire zu verfügen und genau diesen Eindruck weckt auch Ursula K. Le Guin. Es wirkte, als hätte sie „Der Magier der Erdsee“, „Die Gräber von Atuan“ und „Das ferne Ufer“ bewusst aus einer Vielzahl von Geschichten ausgewählt, um ihren Leser_innen einen Querschnitt von Geds Leben zu präsentieren. Es sind lediglich Episoden, die längst nicht alles berichten, was es über ihn zu erfahren gibt. Durch große Zeitsprünge beschreiben sie grob Geds Entwicklung: von einem naiven Jüngling, dessen arroganter Hochmut ganz Erdsee gefährdet, zu einem unerschrockenen Weltenbummler in der Blüte seiner Jahre, zu dem weisen, integren und verantwortungsvollen Erzmagier, der das Schicksal der Welt gestaltet. Jede dieser Geschichten verkörpert eine eigene, individuelle Botschaft – zusammen zeichnen sie das Bild eines bezaubernden, faszinierenden Universums, das – dem Prinzip des Nicht-Handelns des Daoismus folgend – wie kein anderes nach Harmonie und Gleichgewicht strebt. Es ist daher nicht überraschend, dass die Erzählungen aus Erdsee (fast) komplett gewaltfrei sind. Für mich war diese Erfahrung zweifellos ungewöhnlich, aber auch seltsam befreiend. Das Lesen war ohne Anspannung, ohne das Versprechen von Gewalt, angenehm sorglos. Le Guins gemäßigter, würdevoller, leicht zugänglicher Schreibstil unterstreicht diese solide, friedvolle Atmosphäre. Ich mochte die entspannende Ruhe, die „Erdsee“ ausstrahlt, zu der das konventionelle, schlichte Magiesystem, das die Macht der Sprache fokussiert, hervorragend passt. Trotzdem sehe ich das Worldbuilding nicht unkritisch. Es ist positiv, dass Le Guin eine interessante Mischung verschiedener Kulturen und Hautfarben vorstellt. Leider ist ihre Welt jedoch erschreckend sexistisch. Es gibt keine weiblichen Magier; Frauen werden nicht in der Magie geschult, ob sie nun talentiert sind oder nicht. Magisch begabte Frauen können maximal den fragwürdigen Weg einer Hexe einschlagen, was von einer weiblichen Autorin definitiv enttäuschend ist. Von der Grand Dame der spekulativen Fiktion hatte ich mehr erwartet.

 

„Erdsee“ ist unbestritten ein Klassiker der High Fantasy. Liebt man das Genre, sollte man Ursula K. Le Guins Romane meiner Ansicht nach unbedingt lesen, ebenso wie „Der Herr der Ringe“, weil diese Bücher die Anfänge einer literarischen Kategorie darstellen, die sich über die Jahrzehnte stark verändert hat. Es ist gut, zu wissen, welche Werke all die Geschichten von Magie, Drachen und fantastischen Welten, die wir heute kennen, ermöglichten. Obwohl „Erdsee“ wohl niemals zu meinen Lieblingsbüchern gehören wird, weil es nicht meinen persönlichen Ansprüchen an die HF entspricht, sind die drei Geschichten „Der Magier der Erdsee“, „Die Gräber von Atuan“ und „Das ferne Ufer“ mit ihren unmissverständlichen Botschaften und Motiven zeit- und alterslos. Natürlich mag ich es normalerweise lieber etwas aufregender, zupackender – aber es war nett zu sehen, dass die High Fantasy einst ohne fiese Intrigen und blutrünstige Schlachten auskam.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/08/22/ursula-k-le-guin-erdsee
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review 2016-11-16 10:53
Nicht mehr als ein kurzes Flackern im literarischen Kosmos
Five Days in May - Ninie Hammon

Über „Five Days in May“ von Ninie Hammon bin ich nicht zufällig gestolpert. Ich habe diesen Mystery-Thriller bewusst ausgewählt, weil ich für das Lesebingo 2016 dringend ein Buch mit einem Monatsnamen im Titel brauchte. Ich durchforstete Goodreads und sah mir hunderte von Büchern an, um die passende Lektüre zu finden. „Five Days in May“ hatte eine gute Durchschnittsbewertung und klang interessant, also wagte ich den Kauf, obwohl ich von der Autorin noch nie etwas gehört hatte. Ninie Hammon arbeitete viele Jahre als Journalistin, bevor sie eine Vollzeit-Schriftstellerin wurde. Bisher scheint der gewaltige Erfolg ausgeblieben zu sein, trotz 10 veröffentlichter Werke. „Five Days in May“ ist Hammons siebter Roman.

 

Joy, die Tochter, die glaubt, sie müsse das ungeborene Leben in sich beenden, um ihr eigenes zu schützen.
Mac, der Vater, der allen Glauben verlor, als seine große Liebe starb und sich von Gott abwendet.
Jonas, der Großvater, dessen Liebe stark genug ist, um der leeren Hülle seiner Frau die letzte Gnade zu erweisen.
Princess, die Mörderin, die im Todestrakt des Gefängnisses auf ihre Hinrichtung wartet.
Vier Menschen, die nicht ahnen, dass ihre Leben durch ein Geheimnis untrennbar miteinander verknüpft sind. Vier Menschen, die Freitag, den 10. Mai 1963, gleichermaßen herbeisehnen und fürchten.
Fünf Tage im Mai, die alles verändern werden.

 

Wisst ihr, was ich an Lesechallenges liebe? Sie bringen mich dazu, Lektüre zu lesen, die ich sonst vermutlich niemals angefasst hätte. „Five Days in May“ wäre mir ohne meine Suchaktion sicherlich nicht begegnet und selbst wenn, hätte ich mich wahrscheinlich von der Kategorisierung als „christliche Fiktion“ abschrecken lassen, weil ich nicht gläubig bin. Dank des Lesebingos habe ich darauf überhaupt nicht geachtet. Ich kann nun nicht behaupten, dass es das eine Buch wäre, auf das ich mein Leben lang gewartet habe, aber es war eine neue Erfahrung und als solche werde ich „Five Days in May“ auch verbuchen. Grundsätzlich ist die Geschichte nicht schlecht und in einigen Momenten ordentlich spannend, sodass ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, diese bis zum Ende zu verfolgen. Trotz dessen muss ich zugeben, dass ich mich mit dem christlichen Unterton nicht ganz wohlfühlte. Ninie Hammon verwendet christliche Motive zwar dezent, doch eine göttliche Präsenz war meinem Empfinden nach durchaus spürbar. Ich habe großen Respekt vor der Religiosität anderer Menschen, persönlich kann ich jedoch wenig mit dem Konzept des Glaubens anfangen. Ich kann mich nicht überwinden, zu glauben, dass es da draußen im Universum jemanden geben soll, der einen Plan für mich und jedes einzelne Lebewesen auf unserem Planeten hat. Das Thema göttliche Vorhersehung schwingt auf jeder Seite des Romans mit, wie eine niedrige Frequenz, die man kaum wahrnimmt. Es fiel mir schwer, diesen Ansatz zu akzeptieren. Darüber hinaus scheint Ninie Hammon Abtreibungen abzulehnen, was meiner eigenen Einstellung dazu widerspricht. Es gefiel mir nicht, dass sie diese Haltung in ihre Geschichte involvierte, obwohl es ihr gutes Recht ist und sie offenbar keine allzu radikalen Ansichten vertritt. Ihr Schreibstil trifft ebenfalls nicht meinen Geschmack; ich hatte das Gefühl, sie ergeht sich in überflüssigen Details und braucht einigen Anlauf, um zur Sache zu kommen. Dadurch erwischte ich mich hin und wieder dabei, Sätze und manchmal sogar ganze Absätze zu überspringen. Sie hätte mit den Perspektivwechseln disziplinierter umgehen und die Handlung klarer strukturieren sollen, statt nach Lust und Laune zwischen ihren Figuren zu schwanken. Diese sind definitiv sympathisch. Es ist leicht, mit ihnen zu fühlen, weil sie alle auf die eine oder andere Art und Weise unter einem Verlust leiden. Ihre Seelen liegen blank; ich musste sie nicht analysieren, um ihr Verhalten oder ihre Beweggründe zu verstehen. Man bekommt genau das, was man sieht: vier verwundete Menschen, die mit ihren eigenen Dämonen kämpfen. Aus dieser emotional aufgeladenen Situation entwickelt sich eine äußerst dramatische Geschichte, die leider recht vorhersehbar ist. Ich vermutete bereits früh, welche Wendung mich erwarten würde und lag richtig. Das große Geheimnis des Buches war für mich daher nicht annähernd so schockierend, wie Ninie Hammon es vermutlich geplant hatte. Schade, denn ich wäre gern bis zur Auflösung im Dunkeln getappt und hätte mich auch gern überraschen lassen.

 

Ich denke, ich verstehe, wieso Ninie Hammon bisher keine gefeierte Bestsellerautorin ist. „Five Days in May“ ist weder eine Perle der Literatur, noch ein brillantes Stück schriftstellerischen Talents. Das Buch erinnert stark an Stephen Kings „The Green Mile“ und ist alles in allem zu offensichtlich für einen Mystery-Thriller. Meiner Meinung nach rettet sich die Geschichte hauptsächlich über die angenehmen Charaktere, die in ihrer gradlinigen, emotionalen Offenheit mühelos Sympathie erzeugen. Der religiöse Aspekt des Romans sagte mir nicht zu, das ist jedoch Geschmackssache. Ich bin zufrieden damit, einen Ausflug in die christliche Fiktion gewagt zu haben und mir nun ein Urteil bilden zu können: es ist nicht meins. Für einen ersten Versuch hätte ich es allerdings sicher auch schlechter treffen können als mit „Five Days in May“. Weiterempfehlen möchte ich das Buch trotzdem nicht, denn dafür weist es zu viele Mängel auf. Es ist ganz nett, aber mehr auch nicht – ein kurzes Flackern im literarischen Kosmos, das völlig zu Recht keine Wellen schlägt.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/11/16/ninie-hammon-five-days-in-may
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review 2016-05-18 09:53
Durch dieses Buch erhalten tausende Schicksale ein Gesicht
Die dunklen Mauern von Willard State: Roman - Ellen Marie Wiseman,Sina Hoffmann

„Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman ist nur zum Teil fiktiv. Die psychiatrische Anstalt Willard State Asylum hat es tatsächlich gegeben. Als die Anstalt nach 126 Jahren des Betriebs 1995 geschlossen wurde, fanden Arbeiter auf dem Dachboden über 400 Koffer, die Patienten gehörten, die Willard nie mehr verließen. Seit 1999 arbeiteten Darby Penney, Peter Stastny und die Fotografin Lisa Rinzler unermüdlich, um die Biografien ihrer Besitzer_innen aufzudecken und ihnen ein Gesicht zu geben. Das Ergebnis ihrer Bemühungen sind die Ausstellung „Lost Cases, Recovered Lives: Suitcases from a State Hospital Attic“ und das Buch „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“. Letzteres diente Ellen Marie Wiseman als Inspiration „Die dunklen Mauern von Willard State“ zu schreiben.

 

Izzy Stones Familie wurde in der verhängnisvollen Nacht zerstört, als ihre Mutter ihren Vater erschoss. Niemand weiß, was sie zu dieser grauenvollen Tat veranlasste. Allein, ohne verbleibende Angehörige, wurde Izzy jahrelang herumgereicht. Erst jetzt, mit 17, hat sie das Gefühl, Pflegeeltern zu haben, denen sie wichtig ist. Aus Dankbarkeit hilft sie den beiden bei ihrem neusten Projekt. Nach der Schließung des berüchtigten Willard State Asylum wurden auf dem Dachboden hunderte von Koffern gefunden, deren Inhalt Peg und Harry nun katalogisieren möchten. Unter den Besitztümern der Insassen entdeckt Izzy einen Stapel ungeöffneter Briefe und das Tagebuch einer Patientin namens Clara Cartwright. Izzy ist von Claras tragischem Schicksal fasziniert und setzt alles daran, ihre Geschichte zu rekonstruieren. Doch je tiefer sie in die Geheimnisse von Claras Leben vordringt, desto näher kommt sie auch den Antworten auf die Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit…

 

Ich wusste bereits vor der Lektüre von „Die dunklen Mauern von Willard State“, wie furchtbar die Bedingungen in psychiatrischen Anstalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Ich wusste, dass Menschen dort eher weggesperrt als behandelt wurden und dass die wenigen Therapien, die zur Verfügung standen, an Folter grenzten. Viele Einrichtungen waren hemmungslos überlastet und die hygienischen Umstände katastrophal. Insassen wurde jegliche Selbstbestimmung genommen, ihre Persönlichkeit unterdrückt. Es herrschte Gewalt, Willkür und Überforderung. Wer einmal in eine solche Anstalt eingeliefert wurde, verließ sie nur selten wieder, von einer Genesung ganz zu schweigen. All das war mir bewusst. Trotzdem hat mich Claras fiktives Schicksal zutiefst berührt, schockiert und getroffen. Was Menschen in Einrichtungen wie Willard angetan wurde, war unmenschlich. Umso wichtiger ist es, dass es Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ gibt. Es darf nicht vergessen werden, wie viele Leben mit dem Tag der Einlieferung in diese Anstalten endeten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – all das löste sich auf, sobald die Patienten hinter den Mauern verschwanden. Am Fall von Clara illustriert Ellen Marie Wiseman eindrucksvoll, wie ungerecht und grausam das System damals war; wie wenig ausreichte, um als geisteskrank abgestempelt und für immer der Freiheit beraubt zu werden. Ich musste während des Lesens häufig heftig schlucken und hatte am Ende sogar Tränen in den Augen. Die Macht der Emotionen, die dieses Buch vermittelt, ist der Grund, warum es von mir vier Sterne erhält, obwohl Wiseman meiner Ansicht nach nicht die beste Schriftstellerin ist. Ich sehe gern über stilistische Mängel hinweg, weil ihre Geschichte aufwühlend und unheimlich fesselnd ist. Die Entscheidung eine geteilte Handlung zu konstruieren, die zwei Zeitstränge und zwei Protagonistinnen fokussiert, finde ich mutig und einfühlsam, denn durch den Umweg über Izzy brachte Wiseman Claras Schicksal sehr nah an ihre Leser_innen heran. Izzy ist die Verbündete, die ebenso fühlt wie man selbst, während man gemeinsam aufdeckt, wie sehr Clara in Willard leiden musste. Ihr Leben bleibt nicht abstrakt, sondern erhält einen direkten Bezug zur Gegenwart und Realität. Hinzu kommt, dass die beiden jungen Frauen sehr viel gemeinsam haben, wodurch sie wie zwei Enden der gleichen Geschichte wirken, die über die Jahrzehnte hinweg mit einander verbunden sind. Ich mochte sowohl Clara als auch Izzy gern und hatte keine Schwierigkeiten, mit ihnen zu fühlen. Sie sind zarte, empfindsame Persönlichkeiten, fast schon zu zerbrechlich für die Härte der Welt. Ich wollte sie beschützen und wünschte beiden von ganzem Herzen ein Happy End.

 

„Die dunklen Mauern von Willard State“ beleuchtet ein düsteres Kapitel der Vergangenheit, das unglücklicherweise viel zu selten ernsthaft angesprochen wird. Das Leid der Insassen psychiatrischer Einrichtungen im (frühen) 20. Jahrhundert dient heute als Blaupause zur Massenunterhaltung in Horrorfilmen, doch die zahllosen reellen Tragödien, die diese damals noch junge Wissenschaft produzierte, bleiben zu großen Teilen verschüttet. Menschen, die 50 Jahre und länger weggesperrt und gequält wurden, weil ihnen ein völlig unqualifizierter Arzt eine diffuse Diagnose attestierte, verdienen es, dass man sich an sie erinnert. Auch wenn sie dieses gewaltige Unrecht nicht auslöschen können, so helfen Bücher wie „Die dunklen Mauern von Willard State“ und selbstverständlich „The Lives They Left Behind: Suitcases from a State Hospital Attic“ dabei, Patientennummern wieder zu echten Menschen werden zu lassen. Sie geben zurück, was ihnen vor so vielen Jahrzehnten genommen wurde: eine Geschichte.
Wer sich für das Thema Psychiatrie interessiert, sollte „Die dunklen Mauern von Willard State“ von Ellen Marie Wiseman wirklich lesen. Die Kombination aus Fakten und Fiktion verschafft den Leser_innen einen realistischen Eindruck der Umstände im Willard State Asylum, ohne die menschliche Note zu vernachlässigen. Durch Claras Geschichte erhalten tausende Schicksale ein Gesicht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/05/18/ellen-marie-wiseman-die-dunklen-mauern-von-willard-state
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review 2013-09-30 10:39
Ein Wortfeuerwerk aus der Feder Alex Capus'
Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer - Alex Capus

- Ende -

 

Wehmütig blicke ich auf diese vier Buchstaben. Dieses Wort, so unscheinbar und kurz, beendet zu meinem Bedauern eine Reise durch ein wunderbares Buch, welches mich gleichermaßen faszinierte, großartig unterhielt und einen tiefen Blick in die Lebensgeschichte dreier Personen gewährte. Personen, die wirklich gelebt und erlebt haben, und deren Geschichten in ihrer Einzigartigkeit bis heute unvergesslich überlebt haben. Nun fanden sie Einzug in das neueste Werk des Schweizer Wortvirtuosen Alex Capus, welcher einem Nobelpreisträger der Physik, einer attraktiven Spionin und einem talentierten Kunstfälscher die Hauptrollen in seinem Roman »Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer« aus dem Hanser Verlag verlieh.

 

Drei Helden wider Willen

 

Ein Tanz durch die Geschichte, auf den Spuren eines jungen Mädchens, die Sängerin werden wollte und am Ende mitten in die Wirren des Krieges gezogen wurde. Ein Rebell, welcher schon früh seine blaue Jacke tragen wollte, sich nicht in eine Schublade schieben ließ und als Erbauer einer Kriegsmaschine mit seinem Gewissen zu kämpfen hat. Eine Ode an die Kunst, deren Wege manchmal auf ungewöhnliche Weise zum Erfolg führen, einen Künstler begleitend, der sein Talent nutzt, um Geschichte lebendig werden zu lassen – wenn auch recht frei interpretiert.

 

Ein wahrer Meister der Erzählkunst

 

Während ich die Zeilen dieses Buches lese, messe ich in Wahrheit eine Flut von Photonen – Schwingungen des Lichtspektrums reizen Sinneszellen in meinen Augen – und verschiedene Regionen meines Gehirns setzen Buchstabe für Buchstabe elektrisch in eine greifbare Geschichte um. Eine Geschichte, die von Möglichkeiten lebt, von Lücken im Kontinuum – ein abstraktes ´Vielleicht´ durchzieht mich ebenso wie die Charaktere in diesem Buch. Ich beginne nachzudenken – meine Phantasie formt Bilder, und ich frage mich, ob eben diese Bilder vielleicht gar nicht existieren, solange sie kein Anderer wahrnimmt? In den drei metaphorisch stark beseelten Geschichten um Felix Bloch, Emile Gilliéron und Laurea d‘Oriano ist ein Zusammentreffen dieser Drei theoretisch möglich – lediglich beweisbar durch die unmittelbare Anwesenheit eines Augenzeugen, welcher hier jedoch stumm bleibt – bleiben muss, denn so obliegt es dem Leser eben jene Lücken zu füllen, welche auch die Protagonisten auf ihrem Lebensweg zu füllen haben.

 

Des Menschen Wissen ist immer lückenhaft, das ist unser Schicksal. Nur deshalb tragen wir letztlich Glaube, Liebe und Hoffnung in unseren Herzen – damit wir diese Bruchstücke unseres Wissens in Beziehung zueinander bringen und daran glauben können, dass das alles hienieden einen Sinn hat. – Seite 148

 

So wie ich nach dem Zuklappen des Buchdeckels auf die erlebte Geschichte zurückblicke, so schwermütig schweift der Blick der auf dem Cover abgebildete junge Dame in die Ferne, während sie auf einem Geländer an einer Hafenanlage sitzt, Schiffe beobachtet und sich vielleicht wünscht, an einem ganz anderen Ort zu sein – oder es gar schon ist, und nun auf Vergangenes zurückblickt. Ich weiß es nicht, werde es nie wissen – und das ist gut so. Mein Verstand akzeptiert beide Realitätszustände, bis der unmittelbare Beweis des Gegenteils meine Ansicht – meine Realität – verändert. Es ist bereits vor dem Lesen des Buches offensichtlich, dass der Verlag die Spionin als Covermotiv auswählte, der einzigen weiblichen Figur des Buches. Warum? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur: diese Szene wirkt authentisch, verströmt eine nostalgische Atmosphäre, was durch die bläuliche Farbgebung noch unterstrichen wird. Ein Cover, das den Sinnen schmeichelt und Appetit auf den Hauptgang zwischen den Seiten macht.

 

Wortpoesie

 

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Bevor ich in die Leserunde startete, informierte ich mich ein wenig über den Autor, sah mir seine Buchtrailer zum Roman an, schmunzelte über seinen Humor und empfand sogleich großes Interesse für diesen Mann und seine Ideen. Alex Capus’ Leser schwärmten von »Leon & Louise« und empfahlen mir, auch diesen Roman zu lesen und so ist dies dann auch mein erstes Buch des sympathischen Schweizers geworden und es wird sicher nicht mein letztes sein, denn dieser Mann versteht es mit einprägsamen Worten, feinen Metaphern, eleganten und eloquenten Formulierungen und bildgewaltiger Sprache zu schreiben und darüber hinaus hat er eine ausgeprägte Vorliebe für Sätze, die sich schon mal ohne Unterbrechung über eine halbe Seite ausdehnen. Na? War der letzte Satz schwierig zu lesen? Ist euer Gehirn nach dem dritten Komma ausgestiegen und hat sich auf einer Wolke des Vergessens niedergelassen? Alex Capus kann das noch länger – und viel besser, so dass es trotz allem ein Leichtes ist, dem Inhalt folgen zu können. Er fesselte mich an seine Worte, ließ mich nicht los und konnte meine volle Aufmerksamkeit in jeder Sekunde des Lesens voll für sich verbuchen. Eine sehr anheimelnde Form von Tiefgründigkeit schwimmt auf der Oberfläche seiner Sätze und sorgt für intensiven Lesegenuss, Seite um Seite. Wort für Wort. Schon lange nicht mehr sah ein Buch nach dem Beenden so wie auf diesem Foto aus, über und über vollgespickt mit meinen Buchdarts, welche interessante Textstellen markierten. Interessant, einprägsam und auf das eigene Leben anwendbar. Kostprobe gefällig?

 

Sie ist eine erfahrene Reisende und weiß, dass man einander normalerweise nur einmal im Leben begegnet, weil jede vernünftige Reise in möglichst gerader Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel führt und zwei Geraden sich nach den Gesetzen der Geometrie nicht zweimal kreuzen. – Laura d’Oriano, Seite 12

 

Die variable Konstante

 

Doch was macht dieses Buch – diese Erfahrung – so einzigartig? Ist es die Perspektive des Erzählers, welche so wirkt, als ob ein Urgroßvater in seinem Ohrensessel sitzt, die Enkelkinder und Urenkel vor ihm auf dem Fußboden, und der alte Mann beginnt damit, aus seinem reichen Erfahrungsschatz zu plaudern? Oder sind es die sehr lose wirkenden Handlungsfäden, welche aber durch abstrakte Ähnlichkeiten doch enger verbunden sind, als man vielleicht auf dem ersten Blick zu ergründen vermag? Das geniale Spiel mit Metaphern, welche ihre wahre Bedeutungskraft dadurch entfalten, weil  sie ursprünglich in den Gedankenwelten der jeweils anderen Protagonisten wurzeln – gepaart mit dem nicht Greifbaren, den Lücken. Theoretische Physik, Wunschträumerei und das Rekonstruieren partiell zerstörter Kunstobjekte liegt eine Gemeinsamkeit zugrunde, die aus Leere besteht – der Unwissenheit darüber, was Wahrheit ist und was nicht, füllen alle drei Protagonisten auf ihre ganz eigene, aber doch so universelle Weise aus. Alles ist verbunden – selbst das, was wir nicht wissen.

 

Anfangs fiel mir der Sprung zwischen den drei Hauptfiguren, zumindest auf den ersten 150 Seiten, ein wenig schwer. Doch spätestens, nachdem ich alle Drei kennengelernt hatte, spürte ich förmlich den Atem der Geschichte. Ich reiste mit dem Fälscher vom kleinen Dörfchen Villeneuve in die weite Welt, atmete den Staub der aräologischen Ausgrabungsstätten Schliemanns ein und hörte eine Melodie im Kopf, wenn Laura d’Oriano des Abends in einer verrauchten Kneipe ihre Gesangskünste zum Besten gab. Ich erfreute mich gleichermaßen an der Musikalität der Familie d’Oriano wie an der sanften Brise, die am Hafen von Nizza wehte. Ich nahm mit Begeisterung Anteil an Felix Blochs Forschungen der theoretischen Physik und konnte mit gutem Gewissen sagen, dass mir die Naturwissenschaften noch nie auf so interessante Art und Weise vermittelt bekommen habe.

 

Dieses Gefühl nämlich, in das sie so lange ihre Zukunftshoffnungen gesetzt hatte, war nichts weiter als das Betriebsgeräusch der Seele, das jeder lebendige Mensch in sich vernimmt, wenn er im Weltengetümmel mal kurz innehält und ein bisschen auf sich achtgibt. – Laura d’Oriano, Seite 87

 

Von den späten Folgen des einen, und dem Aufkeimen und Ausbruch eines neuen Krieges umrahmt, werden die Schicksale der drei Hauptfiguren in Bahnen gelenkt, welche wir als Beobachter – und wenn wir uns mit den Figuren auch im richtigen Leben beschäftigt haben sogar Wissende – wahrnehmen können. Wir tauchen in ihre Gedankenwelten und werden Zeuge moralischer Abwägungen im Kontext dieser einzigartigen Zeit. Besonders die Geschichte um den jungen, intelligenten Bloch, welcher mit seinen Gedanken hadert, sie verwirft – neu überdenkt und sich dann seinem Schicksal fügt, ist sehr gelungen und fast möchte ich behaupten, dass dieser Charakter in dem Buch eine stärkere Präsenz besitzt als die anderen zwei. Aber das mag nur ein Gefühl sein, welches ich persönlich so empfunden habe. Der Physiker wirkte auf mich einfach am interessantesten, eben jenen Mann, der “im Leben unbedingt etwas Schönes, Nutzloses und ganz und gar Zweckfreies zu machen” (Seite 57) gedachte. Ich erinnere mich gut an die Stelle, als Alex Capus die entsetzlichen Verbrechen der Nazis auf seine metaphorische, und doch stellenweise sehr direkte Art zu Papier brachte und mir ein, zwei Mal bedrückende Übelkeit in den Magen steigen ließ.

 

Es war für den Jüngling eine Offenbarung, dass es in dieser aus den Fugen geratenen Welt etwas so Klares und Schönes wie das Verhältnis von Zahlen zueinander gab. – Felix Bloch, Seite 16

 

Ich könnte noch eine ganze Weile weitere Zitate aus diesem wunderbaren Buch niederschreiben, doch würde ich euch den Kern des Buches vorwegnehmen und das möchte ich natürlich nicht. Ich kann es nur sagen: Genießt diesen Roman, erlebt ihn!

 

Mein Fazit: Was ist der Wert der Wahrheit? Gibt es sie im Angesicht so vieler Lücken in dem was wir Wissen nennen überhaupt, oder können wir uns ihr nur annähern? Alex Capus breitet in diesem anspruchsvollen Buch sein Metapherngeflecht aus und lässt seine historischen Figuren darunter handeln, fühlen – und vor allem denken. Es ist keine leichte Zwischendurch-Lektüre, welche einfache Antworten parat hat, sondern ein stark konstruiertes Märchen, dass sich Fragen stellt wie: Was könnten sie in jenen Momenten gedacht haben? Welche Pfade könnten sie beschritten – welche ausgelassen haben? Mit überlangen Sätzen und genialen Metaphern erschafft der Autor einen spannenden Zugang in die Geschichte(n) und lässt sie durch bildgewaltige Sprache lebendig wirken. Ein Roman, wie geschaffen für Freunde des Autors, für Leser abspruchsvollerer Literatur, die gleichsam in Worten versinken und gleichzeitig intellektuell unterhalten werden wollen. Göttliche Lektüre!

 

Meine Wertung: 5of5

 

Prädiakt »Besonderes Buch« der Büchernische – Kategorie Roman

Source: www.buechernische-blog.de/lesehighlight-2013-alex-capus-der-faelscher-die-spionin-und-der-bombenbauer-buchrezension
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