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review 2018-08-01 09:26
Durch die Augen einer blinden Frau
The Broken Kingdoms - N.K. Jemisin

N.K. Jemisin verdankt ihre Karriere als erfolgreiche Schriftstellerin zum Teil ihrem Vater. Als sie 30 wurde, durchlebte sie eine Art Midlife-Crisis. Sie entschied, dass sie bestimmte Dinge in ihrem Leben erreichen wollte. Sie wollte herausfinden, ob das Schreiben, bisher ein Hobby, für sie eine Zukunft bereithielt. Unsicher, wie sie beginnen sollte, recherchierte sie und stieß auf den angesehenen jährlichen Schreibworkshop Viable Paradise. Ihr Vater borgte ihr das Geld für Viable Paradise. Glücklicherweise ist Noah Jemisin ein leidenschaftlicher Fan von Science-Fiction und hatte als Künstler durchaus Verständnis für die kreativen Pläne seiner Tochter. Der zweite Band ihrer „Inheritance Trilogy“, „The Broken Kingdoms“, kann als wundervolles Huldigung für ihn interpretiert werden.

 

Oree Shoth ist eine ungewöhnliche Künstlerin. Im Schatten des Weltenbaumes bietet sie ihre Skulpturen auf dem Markt von Shadow feil, in der Stadt, die 10 Jahre zuvor Sky hieß. Ihre Kunstwerke versetzen die Menschen in Staunen. Niemand traut ihr zu, Schönheit zu erschaffen. Oree ist blind. Ihr Augenlicht ist verloren, doch sie hütet ein delikates Geheimnis: ihr Geist nimmt Magie wahr. Die Magie der Götter und der Gotteskinder. Die Magie ihrer Gemälde. Das strahlende, wunderschöne Leuchten überzeugte sie, ein bedauernswertes Geschöpf aufzunehmen, das sie eines Morgens in der Gosse fand. Den Namen ihres schweigsamen Hausgastes kennt sie nicht, aber sie weiß, er muss ein Gotteskind sein. Oder etwas anderes. Sie nennt ihn Shiny. Gerade jetzt ist sie froh, ihm ein Heim bieten zu können, denn ein Mörder lehrt Shadow das Fürchten. Die Opfer sind Gotteskinder. Wer könnte über die Macht verfügen, ihnen die Herzen aus dem Leib zu reißen? Oree sorgt sich um ihre Freunde. Sie verschwendet keinen Gedanken daran, dass auch sie selbst in Gefahr sein könnte…

 

„The Broken Kingdoms“ ist ein Kunstwerk in Schrift. Es gleicht einem Gemälde: leidenschaftlich, farbenreich und intensiv. Unwiderstehlich. Verführerisch wie bereits der erste Band „The Hundred Thousand Kingdoms“, aber ausgereifter. Die Weiterentwicklung, die N.K. Jemisin in dieser Fortsetzung zeigt, ist beeindruckend. Ihre sprachliche Ästhetik weckt zielgerichtet künstlerisch anmutende Bilder, die stark von der speziellen Wahrnehmung ihrer Protagonistin geprägt sind. Sie lässt ihre Leser_innen durch die Augen einer blinden Frau sehen, einer Künstlerin, die die Schönheit verschlungener, komplexer Muster zu würdigen weiß. Ich mochte Oree sehr, obwohl ich mich anfangs an die Perspektivverschiebung gewöhnen musste. Im letzten Band stand Yeine im Fokus, in „The Broken Kingdoms“ taucht sie nur am Rande auf. Ich fand jedoch schnell heraus, dass mir Oree leichter ans Herz wuchs. Sie ist nahbarer, greifbarer und bodenständiger, nimmt aktiver an ihrer eigenen Geschichte teil. Da sie nicht aus einem Elfenbeinturm heraus agiert, sondern in den Straßen von Shadow zu Hause ist, zwischen ganz normalen Menschen, ist auch ihre Beziehung zu den Göttern und Gotteskindern nachvollziehbarer. Sie dient als sympathischer Bezugspunkt, um zu verstehen, wie tief die Verbindung zwischen Göttlichen und Sterblichen in Shadow ist. Das ganze Universum ist bis in den kleinsten Winkel von göttlicher Macht durchdrungen, untrennbar vom Irdischen. Ein wunderbares, eindrucksvolles Beispiel für diese organische Wechselwirkung ist der Weltenbaum, den Yeine 10 Jahre zuvor aus der Himmelsfestung Sky wachsen ließ. Die Ausmaße des Baums zwangen die Bevölkerung der Stadt Sky, sich eine Existenz um ihn herum aufzubauen. Sie mussten sich anpassen. Der vergleichsweise große Zeitsprung erlaubte N.K. Jemisin, in Sky authentische, weitreichende Veränderungen umzusetzen. Nicht nur erhielt die Stadt einen inoffiziellen Namen, der dem Schatten des Weltenbaums Tribut zollt, zwischen seinen Wurzeln entstanden ganz neue Viertel. Die Erlösung von Itempas zog eine revolutionäre Glaubensfreiheit nach sich, die die Menschen mit Freuden nutzen, seit die Gotteskinder zurückkehrten. Nichtsdestotrotz ist Orees Verhältnis zu den Gotteskindern selbst innerhalb dieser Atmosphäre religiöser Offenheit außergewöhnlich und ihre Vertrautheit mit ihrem Hausgast Shiny ist es erst recht. Ihre erblühende Freundschaft ist meiner Ansicht nach der Kern von „The Broken Kingdoms“. Shiny ähnelt Prometheus: ein Gott, der seiner Bestrafung nicht entkommen kann. Er leidet. Er empfindet Schmerz. Er kann nicht sterben. Doch Oree überwindet sein Leid. Sie lehrt ihn Demut, Mitgefühl und Selbstlosigkeit. Sie taut seine eisige Distanz zum Leben, weckt in ihm Emotionen, die er lange, lange Zeit erfolgreich verdrängte und erinnert ihn daran, wer er einst war. Sie hingegen lernt durch ihn, wie sehr die menschliche Vorstellung der Götter von sterblichen Sehnsüchten und Bedürfnissen bestimmt ist. Sie sind zwei Seiten derselben Münze. Anhand ihrer Beziehung illustriert N.K. Jemisin subtil, dass das Machtgefüge zwischen Göttern und Sterblichen keineswegs eindeutig ist. Omnipotenz ist keine Einbahnstraße.

 

N.K. Jemisin beweist in „The Broken Kingdoms“, dass eine Geschichte nicht nur packend, sondern auch ästhetisch ansprechend sein kann. Es gefällt mir, wie sie die High Fantasy interpretiert, die mittlerweile ja gern mit Kraftausdrücken und Brutalität um sich wirft. Der Wert sprachlicher Eleganz und eines reichen, üppigen Schreibstils sollte nicht unterschätzt werden. Jemisin malt ein Bild mit Worten, eine filigrane Szenerie, die von Macht, Pein und Liebe handelt. Ich bewundere, wie anmutig sie philosophische Themen verarbeitet, ohne ihre Leser_innen zu verlieren. Literatur ist eine einzigartige Kunstform, weil sie alle unsere Sinne auf einmal anzusprechen vermag. Was wir lesen, stellen wir uns vor. Ich glaube, N.K. Jemisin ist sich dieser Magie bewusst und spielt mit ihren Grenzen. Deshalb ist „The Broken Kingdoms“ ein Kunstwerk: es ist ein Fest für alle Sinne.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/07/31/n-k-jemisin-the-broken-kingdoms
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review 2017-08-02 17:26
Die High Fantasy braucht mehr Frauen wie N.K. Jemisin
The Hundred Thousand Kingdoms - N.K. Jemisin

Ich habe mir in den Kopf gesetzt, häufiger weibliche, erwachsene High Fantasy zu lesen. Mir ist aufgefallen, dass Frauen dieses Genres in meinem Regal völlig unterrepräsentiert sind. Gefühlt stammen alle großen HF-Romane von Männern: „Der Herr der Ringe“, „A Song of Ice and Fire“, „Das Spiel der Götter“, „First Law“. Ich glaube, dass Autorinnen, die epische Fantasy schreiben, zu wenig Beachtung erhalten. Also habe ich mir vorgenommen, diesen Umstand zumindest für mich selbst zu ändern und bewusst High Fantasy aus der Feder von Frauen zu lesen. Daher griff ich im Juli 2017 zu „The Hundred Thousand Kingdoms“ von N.K. Jemisin, der Auftakt der „Inheritance Trilogy“, der schon viel zu lange auf meinem SuB einstaubte.

 

Als Yeine Darr kurz nach dem rätselhaften Tod ihrer Mutter an den Hof ihres Großvaters Dekarta Arameri, Herrscher der Welt und Günstling des Lichtgottes Itempas, bestellt wird, vermutet sie bereits, dass an diesem Zwangsbesuch etwas faul ist. Niemals würde ihr Großvater sie zu sich befehligen, um die Familienbande aufzufrischen. Sie behält Recht. Der alte Gebieter will sie als potentielle Erbin einsetzen. Yeine ist schockiert, denn diese vermeintliche Ehre ist ein zweischneidiges Schwert. Als potentielle Erbin muss sie mit Verwandten, die sie nicht kennt und die ihr bezüglich höfischer Sitten und Intrigen weit voraus sind, um den Thron rivalisieren. Widerwillig richtet sie sich in der Himmelsfestung Sky ein und schwört, das Beste aus ihrem neuen Status zu machen. Sie begibt sich auf eine gefährliche Suche nach Antworten. Den Tod ihrer Mutter umgeben uralte, blutige Geheimnisse, die sie nur in Sky aufdecken kann, hier, in diesem Schloss im Himmel, in dem sich die Leben von Sterblichen und Göttern täglich berühren.

 

Als mir Yeine Darr, Protagonistin und Ich-Erzählerin in „The Hundred Thousand Kingdoms“, zu Beginn des Trilogieauftakts vorgestellt und beschrieben wurde, war mein erster Gedanke, wie sympathisch ich es finde, dass äußerlich gewisse Parallelen zur Autorin N.K. Jemisin bestehen. Je mehr Zeit ich mit Yeine verbrachte, desto stärker wurde mein Eindruck, dass sich Jemisin auch charakterlich intensiv mit ihrer Heldin identifiziert. Ich könnte mich irren, doch es gefiel mir, das Gefühl zu haben, eine Geschichte zu lesen, in der die Schriftstellerin die Hauptrolle spielt, vor allem, weil ich Yeine wirklich mochte. Die 19-Jährige bestach mich mit ihrer spröden, unverblümten und pragmatischen Persönlichkeit. Schade, dass sie hauptsächlich eine funktionelle Figur ist, die den Leser_innen als Anhalts- und Referenzpunkt dient, statt um ihrer selbst willen zur Geschichte beizutragen. Sie entwickelt sich im Laufe der Handlung kaum weiter, bleibt berechenbar und ist dadurch unglücklicherweise ein wenig langweilig. Sie ist ein Schlüssel, wodurch ihre Aufgabe und Daseinsberechtigung begrenzt sind. Es geht in „The Hundred Thousand Kingdoms“ nur auf den ersten Blick um Yeine, trotz ihrer fesselnden Mission, die wahren Umstände des mysteriösen Todes ihrer Mutter aufzudecken. Ihre Suche nach Antworten ist lediglich der oberflächliche Grund dafür, dass sie isoliert bleibt und niemals engeren Kontakt zu den Bewohner_innen von Sky sucht. In Wahrheit führt Yeine das Publikum an einen anderen Aspekt der Geschichte heran, weshalb Jemisin ihre Position als Einzelkämpferin um jeden Preis durchzusetzen versucht. Sie musste ihren Status als Vertraute der Götter untermauern. Yeine macht die Leser_innen mit den Göttern bekannt, die leibhaftig, versklavt und vom Lichtgott Itempas an menschliche Hüllen gekettet in Sky leben und dienen müssen. Ihr Leiden, ihre Interaktion mit dem faszinierenden, grausamen und ungerechten Universum, das Jemisin erschuf, ist der Kern von „The Hundred Thousand Kingdoms“. Was geschieht, wenn göttliche Omnipotenz in die makelbehafteten Körper von Menschen gezwängt wird? Wie viel Schaden kann eine allmächtige Seele durch menschliche Beschränkungen nehmen? Die Tiefe der göttlichen Figuren imponierte mir außerordentlich. Ihr jahrhundertealter Schmerz, ihre Trauer, die tägliche Demütigung ihrer Fesseln beschreibt Jemisin meisterhaft. Der bedeutendste unter ihnen ist Nahadoth, der Nachtlord und Bruder des Himmelsvaters Itempas. Er ist der Gott der Veränderung, des Chaos, der Dunkelheit und als selbiger die personifizierte Versuchung. Yeine kommt ihm gefährlich nahe und lässt sich auf eine riskante Beziehung zu ihm ein, die sie beide in einen Abgrund reißen könnte und die auf sexuellem Verlangen basiert. Es ist bedauerlich, dass zwischen ihnen nie eine substanziellere Verbindung erblüht, obwohl Nahadoth‘ komplexe, widersprüchliche, verletzte Persönlichkeit das Potential dazu bietet. Seine Sehnsucht nach Freiheit formt Yeines Schicksal, das Jemisin am Ende einer Wendung unterwirft, die ich zwar anhand greller Hinweise vorausgesehen hatte, aber trotz dessen toll umgesetzt fand.

 

Meiner Meinung nach spürt man die weibliche Hand hinter „The Hundred Thousand Kingdoms“. Es ist ein verführerischer, lustvoller Trilogieauftakt, der in meinem Kopf das Bild einer Rosenranke entstehen ließ, die sich langsam und unbemerkt um die Kehle eines armen Opfers legt. Stück für Stück zieht sich die Schlinge zu, drückt die Luft ab, während die Sinne des bedauernswerten Opfers von exotischen Düften berauscht sind. Besser kann ich euch die Atmosphäre dieses Buches nicht beschreiben. Es spricht eindeutig für N.K. Jemisins Schreibstil, dass ihre Geschichte eine so klare Assoziation inspirierte. Außerdem schätze ich die philosophische Ebene dieses ersten Bandes, die stark von einer aufregenden Mischung hinduistischer, christlicher und antiker Motive geprägt ist. Dadurch ergeben sich aufreizend viele Möglichkeiten für die Folgebände, die ich selbstverständlich sofort auf meine Wunschliste gesetzt habe. N.K. Jemisin macht den Frauen der High Fantasy alle Ehre. Weiter so, Schwester!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/08/02/n-k-jemisin-the-hundred-thousand-kingdoms
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