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review 2016-07-13 08:51
Nahrung für die eigenen Tagträume
Die Seiten der Welt: Blutbuch - Kai Meyer

Nach der Veröffentlichung meiner Rezension zu „Nachtland“ erwartete mich eine kleine Überraschung. Mit jeder Publikation eines neuen Blogbeitrags wird automatisch ein Tweet gepostet, den ich vorher formuliert habe. Ich wusste, dass Kai Meyer ebenfalls auf Twitter vertreten ist, ich habe aber nicht angenommen, dass er meine Rezensionen lesen würde. Da habe ich ihn wohl unterschätzt. Meyer antwortete auf meinen Post zu „Nachtland“ und ging sogar auf meine Kritik ein. Ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut. Es ist eine große Ehre, dass sich ein berühmter Autor wie Kai Meyer die Zeit nimmt, meine Gedankengänge zu seinem Buch zu lesen. Wer weiß, vielleicht höre ich ja erneut von ihm, sobald diese Rezension zu „Blutbuch“ online ist.

 

Als die Ideen das Sanktuarium zerstörten, wurde Furia nicht ausgelöscht, sondern strandete zwischen den Seiten der Welt. Halb bewusstlos fand sie ein Bibliomant und brachte sie in die Nachtrefugien, einen ungastlichen Ort ewiger Dunkelheit, das schmutzige Geheimnis der Adamitischen Akademie. Hier leben die Tintlinge unter der Herrschaft von Phaedra Herculanea. Furia möchte heimkehren, aber die Urmutter der Bibliomantik hat andere Pläne. Die Macht, die Siebenstern Furia verlieh, wird ihr jetzt zum Verhängnis. Währenddessen verschlingen die Ideen die Errungenschaften der Bibliomantik. Die Akademie, angeführt von Cats Vater Jonathan Marsh, wird die Refugien aufgeben und die Zugänge verschließen, um den Vormarsch der Ideen aufzuhalten. Hunderte Menschen und Exlibri werden sterben.
Die bibliomantische Welt droht, in sich zusammenzubrechen. Nun liegt es allein in Furias Händen, sie zu bewahren. Die Bücher der Schöpfung rufen nach ihr. Doch welchen Preis wird sie für die Rettung einer ganzen Welt zahlen müssen?

 

Insgesamt hat mir „Blutbuch“ besser gefallen als der Vorgänger „Nachtland“, obwohl ich hin und wieder das Gefühl hatte, dass die Handlung etwas schwerfällig vorankommt. Meine Verbindung zu den Charakteren war stabiler und greifbarer; ich konnte mich besser in sie hineinversetzen. Ich könnte allerdings nicht definieren, was sich verändert hat. Im Wesentlichen sind die Figuren noch immer die gleichen, sie durchleben keine großen Entwicklungssprünge. Vermutlich ist meine gesteigerte Verbundenheit tatsächlich auf die äußeren Umstände zurückzuführen, die Furia und ihre Freunde in extreme Situationen bringen, in denen ich sehr leicht mit ihnen fühlen konnte. Furia, die zum Spielball verschiedener Parteien wird, weil sie eine Macht besitzt, über die sie nie verfügen wollte; Isis, die auf ihrer verzweifelten Suche nach ihrer Freundin immer tiefer in die verheerende Absolonsucht abrutscht; Cat und Finnian, die erkennen müssen, dass der Widerstand der Adamitischen Akademie allein einfach nicht gewachsen ist – die Atmosphäre der Ausweglosigkeit im Finale von „Die Seiten der Welt“ schweißte mich näher an die Akteure. Ich wünschte mir und ihnen ein Happy End. Die Vorstellung, der bibliomantischen Welt und all ihren Wundern langsam beim Sterben zusehen zu müssen, machte mich unglücklich. Natürlich habe ich die Hoffnung nie aufgegeben, doch speziell der Kampf gegen die Ideen beunruhigte mich, weil sie eine abstrakte Bedrohung darstellen. Wie verteidigt man überhaupt irgendetwas gegen manifestierte Gedanken? Mehr sind die Ideen ja im Grunde nicht und doch gefährden sie eine gesamte Welt, ach was rede ich, ein vollständiges Universum. In dieser Zeit der Not zeigt sich die Adamitische Akademie von ihrer hässlichsten Seite. Sie sind hilflos. Es wundert mich, dass die Akademie so lange Zeit das Zepter in der Hand behalten konnte. Hat sie jemals etwas Gutes hervorgebracht? Ich frage mich, wie sie ihre Autorität etablieren und rechtfertigen konnte. Wenn nicht einmal die mächtigsten Bibliomant_innen ihre Heimat und die Bibliomantik selbst schützen können, welchen Nutzen hat diese Institution dann? Es hat mich schockiert, was für ein labiles, empfindliches Konstrukt die bibliomantische Welt offenbar ist. Dass eine Welt, die auf Literatur fußt, von Ideen, ergo purer Kreativität, aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann… Das ist fast schon lächerlich paradox. Ich glaube, Kai Meyer hat an philosophischen Gedankenspielchen dieser Art großen Spaß, was sich meines Erachtens nach auch darin offenbart, dass er in „Blutbuch“ das Schöpfungsthema erneut aufnimmt und weiterspinnt. Er wird konkret und veranschaulicht das Prinzip, nach dem die bibliomantische Welt aufgebaut ist, welches mir bereits aus der Science-Fiction und Fantasy bekannt war. Die Szene, die er dazu nutzt, erschien mir seltsam und schwer in den Kontext zu setzen, aber schließlich handelt es sich bei dieser Theorie um eine Abstraktion, die vom menschlichen Gehirn nur bis zu einem gewissen Grad erfasst werden kann – ein wenig Verwirrung ist da wohl durchaus angebracht.

 

„Blutbuch“ führt die Erzählstränge der beiden Vorgänger „Die Seiten der Welt“ und „Nachtland“ zusammen. Es ist der logische Abschluss einer aufregenden Geschichte, die sich durch Originalität und Detailverliebtheit auszeichnet. Meinem Empfinden nach wird ihr dieses Finale definitiv gerecht, trotz der etwas umständlichen Handlungskonstruktion. Nach meiner Erfahrung mit „Nachtland“ habe ich von „Blutbuch“ kein fulminantes Feuerwerk erwartet und wurde positiv überrascht. Besonders das Ende gefiel mir außerordentlich gut, weil es all die actiongeladenen vorangegangenen Ereignisse ruhig, gefasst und hoffnungsvoll ausklingen lässt.
Ich bereue nicht, mir die Trilogie „Die Seiten der Welt“ zugelegt und sie gelesen zu haben. Sie hielt zwar nicht ganz das, was ich mir durch den Hype davon versprochen hatte, war aber nichtsdestotrotz eine lohnenswerte Lektüre. Kai Meyers liebevoll ausgearbeitete bibliomantische Welt muss man einfach erlebt haben und sei es nur, um die eigenen Tagträume um die eine oder andere fantastische Idee zu bereichern.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/07/13/kai-meyer-blutbuch
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review 2016-07-07 09:44
Ein wahrgewordener Traum für jeden Bücherwurm
Die Seiten der Welt: Roman - Kai Meyer

Wie die Existenz und das Schaffen des deutschen Fantastik-Autors Kai Meyer so lange an mir vorbeigehen konnte, ist mir ein Rätsel. Seit 1993 veröffentlichte Meyer über 50 Romane – ich weiß nicht, warum ich volle 21 Jahre brauchte, um auf ihn aufmerksam zu werden. Erst 2014 schob er sich mit „Die Seiten der Welt“ in mein Bewusstsein, weil Fischer eine recht aggressive Werbekampagne für diesen Trilogieauftakt initiierte, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Geduldig wartete ich, bis alle drei Bände erschienen waren, bevor ich die Trilogie begann. Ich glaubte fest daran, dass mich die Geschichte überzeugen würde und ließ mich optimistisch zu meinem ersten Date mit Kai Meyer entführen.

 

Die angehende Bibliomantin Furia Salamandra Faerfax wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Seelenbuch zu finden. Bisher brachten sie ihre ausgedehnten Streifzüge durch die gigantische Bibliothek ihrer Familie ihrem Ziel, eine vollwertige Buchmagierin zu werden, allerdings keinen Schritt näher. Könnte sie die Welt der Bibliomantik erforschen, stünden ihre Chancen besser, doch das ist unmöglich. Die Familie Faerfax befindet sich seit Generationen auf der Flucht vor der Adamtischen Akademie. Selbst Furias kleiner Bruder Pip, der ohne bibliomantisches Talent geboren wurde, schwebt permanent in Gefahr. Ihr Vater Tiberius hofft, ihren Namen eines Tages reinwaschen zu können, indem er die berüchtigten Leeren Bücher zerstört und somit die Bedrohung der Entschreibung aller Bücher ein für alle Mal beseitigt. Furia unterstützt ihn, trotz ihrer Zweifel an seinem Plan. Doch ihr letzter gemeinsamer Sprung endet katastrophal und plötzlich muss sich Furia allein der bibliomantischen Welt und ihren mächtigen Herrschern stellen.

 

Für jeden Bücherwurm ist „Die Seiten der Welt“ ein wahrgewordener Traum. Seien wir doch ehrlich: wir alle lieben Bücher über Bücher. An genau diesem Nerv setzt Kai Meyer an. Er formuliert aus, was sich alle Buchverrückten insgeheim wünschen und erschafft daraus ein eigenes Universum, das im Verborgenen parallel zur Realität existiert und sich ausschließlich um die Literatur und das Lesen dreht. Die Bibliomantik konkretisiert die Magie, die wir immer dann spüren, wenn wir ein Buch aufschlagen und spricht unsere tiefsten Sehnsüchte an. Ich glaube, deshalb war es für mich überhaupt kein Problem, ansatzlos in Furias Welt katapultiert und ohne Umschweife mit der Bibliomantik konfrontiert zu werden. Ich musste mich nicht zurechtfinden, weil Meyer mir aus der Seele sprach. Ich bin sehr froh darüber, denn es gab hunderte kleine, liebevolle Details zu entdecken, die ich sonst vielleicht übersehen hätte. Bücherstaub fressende Origamis, ein intelligenter Buchstabenschwarm, sprechendes Mobiliar, aus Büchern gefallene Figuren (Exlibri) – Meyer fährt ein Repertoire wundervoller Einzelheiten auf, die seiner Welt Tiefe verleihen und sie lebendig wirken lassen, woran selbstverständlich auch die Charaktere ihren Anteil haben. Es gefiel mir außerordentlich, dass die Protagonistin Furia abgesehen von ihren bibliomantischen Fähigkeiten ein ganz normales 15-jähriges Mädchen ist. Ich hatte den Eindruck, dass Meyer bewusst darauf verzichtet, sie als strahlende Heldin zu inszenieren und absichtlich auf Realismus und Bescheidenheit hinsichtlich ihrer Konstruktion setzt. Sie fügt sich homogen in die Geschichte ein, statt sie zu dominieren und lässt daher auch Nebenfiguren wie den Exlibri ausreichend Raum. Hach, die Exlibri. Könnt ihr euch vorstellen, wie viel Ehrfurcht ich empfand, als Furia plötzlich Ariel und Puck gegenüberstand? Sie sind Shakespeares Figuren und zwei der berühmtesten Charaktere der Literaturgeschichte. Ich kann absolut nicht nachvollziehen, dass die Exlibri von den meisten Bibliomanten als Lebewesen zweiter Klasse behandelt und in Ghettos gesperrt werden. Sie haben nicht darum gebeten, aus ihren Romanen zu fallen und viele sind damit mehr als unglücklich. Die Bibliomantik ist dafür verantwortlich, weil sie die Grenzen zwischen der Realität und der literarischen Welt porös werden lässt, doch weder die Bibliomanten noch die Adamitische Akademie scheinen sich ihrer Schuld bewusst zu sein. Arbeitet denn niemand daran, die Ursachen des Phänomens zu erforschen und zu beseitigen? Will niemand wissen, warum die Exlibri aus ihren Büchern fallen? Ich begreife zwar, dass die Gefahr der völligen Entschreibung der Akademie weit dringlicher erscheint, aber ich fand es unlogisch, dass sich niemand mit diesen Fragen beschäftigt. Meiner Ansicht nach schluderte Kai Meyer in diesem Punkt ein wenig. Vielleicht plant er, die Problematik in den Folgebänden anzugehen, doch bisher präsentiert er die Existenz der Exlibri als unveränderlichen Fakt. Damit möchte ich mich nicht zufriedengeben, besonders da ich die Handlung von „Die Seiten der Welt“ ansonsten rund und spannend fand. In einem Jugendbuch eine metaphorische Schöpfungsgeschichte mit religiösen Bezügen zu verarbeiten, ist bemerkenswert. Ich bin neugierig, wie weit Kai Meyer den Ansatz des resignierten Schöpfers, der seine Schöpfung sich selbst überließ, treiben wird, denn abgeschlossen ist dieser Handlungsstrang meiner Meinung nach nicht.

 

Ich denke, es war die richtige Entscheidung, abzuwarten, bis alle drei Bände der Trilogie „Die Seiten der Welt“ erschienen sind, um sie am Stück lesen zu können. Nach der Lektüre des Auftakts halte ich mein Vertrauen in die Geschichte und Kai Meyer als Autor definitiv für gerechtfertigt. „Die Seiten der Welt“ ist ein ganz besonderes Buch, voller Magie und herrlicher Ideen, die mir das Gefühl gaben, ein Teil der Geschichte zu sein. Ich genoss es, mir vorzustellen, selbst eine Bibliomantin zu sein, deren Kräfte unentdeckt vor sich hinschlummern. Es erinnerte mich ein wenig an die leise Hoffnung, irgendwann Eulenpost aus Hogwarts zu erhalten. Denn wer weiß, vielleicht hat mich mein Seelenbuch ja einfach noch nicht gefunden.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/07/06/kai-meyer-die-seiten-der-welt
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