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review 2018-04-17 08:00
Psst! Eine politische Jugend-Dystopie!
Die Verschworenen - Ursula Poznanski

Betrachtet man die Liste der Werke von Ursula Poznanski, fällt die dystopische „Die Verratenen“-Trilogie als ungewöhnlich auf. Normalerweise tummelt sich die österreichische Autorin nämlich nicht in der Science-Fiction. Überwiegend schreibt Poznanski Thriller und allgemein Spannungsliteratur für Erwachsene und Jugendliche. Ihren Ausflug in ein anderes Genre begründete sie gegenüber der FAZ damit, dass sie, um die Geschichte erzählen zu können, die ihr vorschwebte, ein spezielles Gesellschaftskonstrukt benötigte, das extreme Gegensätze zuließ. Dies bedeutete entweder Fantasy oder Dystopie. Sie entschied sich für die Dystopie. Meiner Ansicht nach war ihre Wahl goldrichtig, da der Realitätsbezug ihres Dreiteilers in einer düsteren Zukunftsvision definitiv glaubwürdiger ist.

 

Niemals hätte Ria geglaubt, dass Tageslicht das kostbarste Gut in ihrem Leben werden würde. Seit sie und ihre Freunde in Quirins unterirdisches Labyrinth flohen, sehnt sie jede Sekunde unter der Sonne herbei. Doch diese wertvollen Momente sind selten. Nur wenige der Schwarzdornen wissen, dass ihre Abreise inszeniert war – zum Schutz des Clans und zu ihrem eigenen Schutz, denn die Sphären suchen noch immer nach ihnen. Die Frage, warum ihre eigenen Leute sie umbringen wollen, quält Ria in den langen, dunklen Stunden unter der Erde. Trotz dessen hält sie Aureljos Plan, sich heimlich in eine Sphäre zu schmuggeln, für zu gefährlich. Quirin hingegen unterstützt ihn tatkräftig bei seinen Vorbereitungen. Fast, als wollte er sie loswerden… Während Aureljo beschäftigt ist, sortiert Ria die Bücher der Bibliothek. Inmitten von dicken Wälzern voller längst vergessenem Wissen entdeckt sie handgeschriebene Briefe. Aufgeregt beginnt sie, zu lesen und begreift schnell, dass sie die Antwort auf all ihre Fragen in den Händen hält. Sie kann nicht länger bei den Schwarzdornen bleiben. Sie muss Aureljo in die Sphären begleiten. Denn jetzt geht es nicht mehr nur um ihr Leben.

 

Im selben Interview, in dem Ursula Poznanski erklärt, warum sie die „Die Verratenen“-Trilogie als Dystopie konzipierte, scherzt sie, dass sie Hemmungen hat, die drei Bücher als politisch zu betiteln, um ihre jugendlichen Leser_innen nicht zu vergraulen. Bei mir muss sie sich da keine Sorgen machen. Im Gegenteil, ich freue mich sehr darüber, dass der zweite Band „Die Verschworenen“ die politische Ebene der Geschichte subtil aber deutlich fokussiert. Genau diese Verbesserung hatte ich mir nach der Lektüre des ersten Bandes „Die Verratenen“ gewünscht und siehe da, Poznanski hat mich erhört. Dank spannender Einblicke in das gesellschaftliche Gefüge innerhalb der Sphären und in das Verhältnis zwischen Sphären- und Außenbewohnern lernte ich die Strukturen der potentiellen zukünftigen Welt besser kennen und erfuhr darüber hinaus beiläufig die realistische Ursache für die Eiszeit, die einen Teil der Menschen veranlasste, Zuflucht in den gigantischen Plastikkuppeln zu suchen. Ursula Poznanski hätte all dieses Wissen bereits im Auftakt der Trilogie verraten können – ich bin froh, dass sie es nicht getan hat. „Die Verschworenen“ ist erneut eng an die Protagonistin und Ich-Erzählerin Ria geknüpft. Ihr Erlebnis- und Erkenntnishorizont bestimmt das Fortschreiten der Geschichte. Es ist vollkommen plausibel, dass sie Zeit brauchte, um zu begreifen, dass ihre Wahrnehmung der Welt durch ihre Erziehung in den Sphären einseitig, voreingenommen und teilweise schlicht falsch ist. Rias Blickwinkel musste sich erst verschieben, um sie sehen zu lassen: Unrecht und Ungleichgewicht in zahllosen Facetten, nicht nur bezüglich der Behandlung der Außenbewohner durch die Sphären, sondern auch hinsichtlich der Organisation des Lebens in den Sphären selbst. Mir war nicht bewusst, wie privilegiert Ria und ihre Freunde als Elitestudenten waren – es fiel uns gemeinsam wie Schuppen von den Augen, als sie erfährt, wie sich der Alltag normaler Arbeiter_innen gestaltet, wie vielen Einschränkungen und Vorschriften diese unterworfen sind. Diskret hinterfragt Poznanski, ob die gefährliche Freiheit der Außenwelt der klaustrophobischen, erdrückenden Sicherheit der Sphären vielleicht vorzuziehen ist. Dank Rias beeindruckender Auffassungsgabe sind die Klassenunterschiede allgegenwärtig. Ihre Gedankengänge zu beobachten war faszinierend. Aufgrund ihrer Ausbildung zeichnet sie sich durch ein außergewöhnliches Maß an Struktur, Rationalität und Kontrolle aus, wirkt jedoch niemals kalt oder unglaubwürdig, weil sie ihre Gefühle überzeugend durchlebt. Sie verfügt lediglich über Strategien, die es ihr ermöglichen, sich zu beherrschen. Dadurch nervt sie sehr viel weniger als manch andere YA-Heldin. Sie ist keine Heulsuse und darin geschult, sich selbst zu helfen und Probleme eigenständig zu lösen. Hysterie ist ihr fremd, weshalb sogar ihr unvermeidliches Liebesdreieck erträglich war, was allerdings auch daran liegt, dass es die Handlung niemals überlagert. Poznanski erhält den Fokus aufrecht.

 

Ich fand „Die Verschworenen“ zweifelsfrei besser als den Trilogieauftakt. Beinahe hätte es für eine 4-Sterne-Bewertung gereicht, bräuchte die Handlung nicht etwas lang, um in Gang zu kommen. Die Zeit, die Ria unterirdisch verbringt, erschien mir langatmig; es dauert eine Weile, bis sich die Situation der Protagonistin entscheidend ändert. Trotz dessen erkenne ich nun doch Ursula Poznanskis Talent. Sie schreibt sehr elegant und ökonomisch, verzettelt sich nicht und verzichtet auf unnötige inhaltliche Schlenker. Ihre Dystopie ist ebenso vorstellbar wie innovativ und ich habe das Gefühl, dass trotz der unerwarteten, schockierenden Wendung des zweiten Bandes noch längst nicht alle schmutzigen Geheimnisse aufgedeckt wurden. Ich freue mich auf das Finale „Die Vernichteten“ und drücke Ria die Daumen, dass sie eine Brücke zwischen Sphären und Außenwelt schlagen kann. Für mich wäre die Wahl übrigens eindeutig: lieber frei als sicher.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/04/17/ursula-poznanski-die-verschworenen
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review 2017-11-29 10:20
Die Zukunft ist eine Sardinenbüchse
Future - Dmitry Glukhovsky

Dmitry Glukhovsky ist für mich kein Unbekannter. Der Lieblingsmensch ist ein enthusiastischer Fan der „Metro“-Reihe, bisher steckte mich seine Begeisterung jedoch nicht an. Ich schleiche schon lange um „Metro“ herum, konnte mich aber noch nicht zur Lektüre überreden. Als meine Mutter mir mitteilte, dass Glukhovsky einen dystopischen Einzelband veröffentlicht hatte, ergriff ich meine Chance. Ich beschloss, den russischen Autor durch „Futu.Re“ erst einmal kennenzulernen, bevor ich es mit „Metro“ versuchte. Ein sanfter Einstieg erschien mir erfolgsversprechender.

 

In der Zukunft wurde das Altern bezwungen, abgeschafft, aus der Gesellschaft getilgt. In der megalomanen Metropole Europa wird jeder Mensch mit dem Recht auf Unsterblichkeit geboren. Um die Überbevölkerung unter Kontrolle zu halten, unterliegt die Fortpflanzung strenger Richtlinien. Das Gesetz über die Wahl fordert für das Leben des Kindes das Leben eines Elternteils. Illegale Schwangerschaften und Geburten sind keine Seltenheit. Jan Nachtigalls Aufgabe besteht darin, diese Verbrecher aufzuspüren und das Gesetz zu vollstrecken. Er ist stolz auf seinen Beruf. Wenn diese Systemgefährder keine Verantwortung für ihre Zügellosigkeit übernehmen wollen, muss er es eben tun. Eines Tages wird ihm von einem einflussreichen Senator ein Spezialauftrag übertragen, der seine Karriere entscheidend vorantreiben könnte. Er soll einen bekannten Terroristen und dessen schwangere Freundin ausschalten. Doch während des Einsatzes kommt alles anders als geplant und plötzlich findet sich Jan in der Gesellschaft der jungen Frau wieder, die er umbringen sollte. Sie stürzt sein Leben ins Chaos, stellt alles infrage, wofür er steht und weckt in ihm tiefe Zweifel: ist die Menschheit für die Unsterblichkeit geschaffen?

 

Okay, das lief nicht wie erwartet. Ich möchte nicht behaupten, dass mein Versuch einer Annäherung an Dmitry Glukhovsky durch „Futu.Re“ vollkommen in die Hose ging, aber als erfolgreich kann ich dieses Experiment ebenfalls nicht bezeichnen. Ich fühle mich genauso schlau wie vorher. Meine Motivation, die „Metro“-Trilogie zu lesen, ist noch immer überschaubar. Tatsächlich verunsicherte mich „Futu.Re“ zusätzlich. Wäre das Buch einfach schlecht, hätte ich keinerlei Hemmungen, Dmitry Glukhovsky in das Nirvana der enttäuschenden Autor_innen zu verbannen. Dummerweise sind lediglich einige Aspekte fragwürdig – andere dafür jedoch hervorragend. Ich bin zwiegespalten.
Das Design der Dystopie beeindruckte mich nachhaltig. Glukhovskys beängstigend vorstellbare Zukunftsvision stützt sich auf zwei korrelative Säulen: der Sieg der Wissenschaft über das Altern und die daraus resultierende Überbevölkerung der Erde, die ihrerseits verschiedene Modelle zur Populationskontrolle (z.B. das Gesetz über die Wahl) erzwang und eine unermesslich erweiterte und verdichtete Besiedlung des Planeten zur Folge hatte. Die Weite der Welt ist passé. Die Zukunft ist eine Sardinenbüchse, die Menschen stapeln sich buchstäblich. Die klaustrophobische Atmosphäre übertrug sich intensiv auf mich. Ich fühlte mich körperlich unwohl, erdrückt, eine Empfindung, die durch die dargestellte Sinn- und Ziellosigkeit der menschlichen Existenz verstärkt wurde. Niemand wird mehr von der eigenen Sterblichkeit gejagt; es fehlt die Triebfeder, die heute fieberhafte Forschung und den Wunsch, die Welt für die nächste Generation zu verbessern, befeuert. Wer denkt an die nächste Generation, wenn man ewig leben kann? Die einzige Ausnahme in diesem Sumpf der völligen Abgestumpftheit sind die wenigen Menschen, die das Funktionieren des Systems gewährleisten, obwohl der Protagonist Jan Nachtigall belegt, dass auch diese berufliche Befriedigung oberflächlich ist und keinen wahren Lebenssinn stiftet. Für mich ist Jan der Übeltäter, der eine durchgehend positive Leseerfahrung mit „Futu.Re“ verhinderte. Dmitry Glukhovsky entschied sich für die Ich-Perspektive, ergo befand ich mich während der gesamten Lektüre in Jans Kopf – ein Ort, an dem ich keinesfalls sein wollte. Während der ersten Hälfte des Buches konnte ich mich überhaupt nicht mit ihm arrangieren, fand ihn aggressiv, hasserfüllt und gewaltbereit; ein von Komplexen gequälter Junge im Körper eines Mannes mit minimaler Frustrationsgrenze. Rückblenden in Form von unrealistisch strukturierten Träumen sollten seine Persönlichkeit erklären und rechtfertigen, doch ich konnte trotzdem nur wenig Verständnis für ihn aufbringen. In der zweiten Hälfte ertrug ich ihn besser, da Jan eine berechenbare und durch die gekünstelte Handlung unausweichliche Wandlung durchlebt, aber beste Freunde konnten wir nicht mehr werden. Glukhovsky nahm mir die Möglichkeit, mich von Jan zu distanzieren und mich an anderen Figuren zu orientieren, weil es neben ihm keine nennenswerten Handlungsträger_innen gibt. Eingesperrt in den Gedanken eines misogynen Schlägers hatte ich kaum Freude an der Lektüre und musste mich voll auf die Dystopie konzentrieren, um durchzuhalten.

 

Ohne die logische, realitätsnahe und atmosphärische Dystopie würde „Futu.Re“ auf meinem Stapel der durchgefallenen Bücher landen. Die Handlung wirkte allzu konstruiert, der Protagonist war eine Zumutung. Hoffentlich begegnet mir nie wieder eine Figur wie Jan Nachtigall. Wie konnte Dmitry Glukhovsky ein Buch schreiben, das sich völlig auf einen permanent unsympathischen Hauptcharakter verlässt? Meiner Meinung nach war ich nicht die einzige, die sich auf die pervertierte Version einer globalisierten Welt fokussierte. Ich glaube, dass sich Glukhovskys Augenmerk ebenfalls auf seine Zukunftsvision richtete, weshalb ihm offenbar nicht auffiel, dass sich der unausstehliche Jan durch eine unnatürliche Handlung hangelt. Ich zögere daher, ihm genug Vertrauen zu schenken, um die „Metro“-Trilogie zu lesen. Angeblich soll diese frei der hier benannten Mängel sein – aber was, wenn nicht?

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/11/29/dmitry-glukhovsky-futu-re
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